Studie

Intensivtherapie kann Querschnittlähmungen etwas verbessern

Durham/Heidelberg - 12.08.2016, 07:30 Uhr

Auch Querschnittsgelähmte haben oft noch intakte Nervenzellen im Rückenmark. (Foto: Sagittaria / Fotolia)

Auch Querschnittsgelähmte haben oft noch intakte Nervenzellen im Rückenmark. (Foto: Sagittaria / Fotolia)


Viele Menschen mit Querschnittlähmung haben im Rückenmark noch Nervenverbindungen. Nun zeigt eine Studie, dass diese sich noch nach vielen Jahren reaktivieren lassen. Doch zu große Hoffnungen sollten sich Betroffene noch nicht machen.

Eine gezielte Intensivtherapie kann bei manchen Menschen Querschnittlähmungen auch noch nach vielen Jahren bessern. Mithilfe einer Gehirn-Maschine-Schnittstelle lernten in einer Studie acht Menschen, die seit Jahren vollständig gelähmt waren, binnen zwölf Monaten, Extremitäten unterhalb der Rückenmarksschädigung zu fühlen und manche Muskeln sogar willkürlich zu bewegen. Nach dem Training galten vier von ihnen nicht mehr als komplett, sondern nur noch als inkomplett gelähmt, wie das internationale Team um Miguel Nicolelis von der Duke University in Durham (US-Staat North Carolina) in der Zeitschrift „Scientific Reports“ berichtet. Das Team beschreibe ein spannendes Phänomen, sagt Norbert Weidner vom Universitätsklinikum Heidelberg, warnt aber vor übertriebenen Hoffnungen: „Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Erreichen sensibler Funktionen und dem Wiedererlangen der Gehfähigkeit.“

Acht komplett gelähmte Studienteilnehmer

Die acht Männer und Frauen im Alter von 26 bis 38 Jahren waren seit drei bis 13 Jahren gelähmt. Sieben von ihnen waren komplett querschnittgelähmt und konnten die Extremitäten unterhalb der Schädigung weder bewegen noch fühlen. Ein Problem dabei ist, dass die betroffenen Gliedmaßen – in diesem Fall die Beine – im Gehirn kaum noch repräsentiert werden.

Die mehrmonatige Intensivtherapie, bei der die Patienten täglich knapp vier Stunden trainierten, sollte dies ändern. In den ersten Monaten simulierte eine Gehirn-Maschine-Schnittstelle bei den Teilnehmern anhand der per EEG aufgezeichneten Hirnaktivität eine virtuelle Kontrolle der Beine. Wurden die Teilnehmer aufgefordert, ihre Beine zu bewegen, änderte sich anfangs zwar die Hirnaktivität. „Aber das Gehirn hatte die Repräsentation der unteren Gliedmaßen schon fast vollständig getilgt“, wird Nicolelis in einer Mitteilung seiner Universität zitiert. Das änderte sich nach den mehrmonatigen Übungen. „Das Training ermöglichte den Gehirnen der Patienten wieder die Repräsentation der unteren Gliedmaßen.“

Einsatz von Exoskeletten

Mit zunehmender Besserung ersetzten die Forscher die virtuelle Realität durch Exoskelette – also Maschinen, die die Bewegungen der Patienten unterstützen. Zudem trugen die Teilnehmer am Unterarm ein Band, das dem Gehirn verschiedene haptische Eindrücke des Untergrunds – etwa Sand, Gras oder Asphalt – durch Vibrationen rückmelden sollte. „Die fühlbare Rückmeldung ist synchronisiert, und die Gehirne der Patienten rufen das Gefühl hervor, dass sie von alleine gehen, ohne Hilfe von Geräten“, erläutert Nicolelis. „Das verursacht eine Illusion, dass sie ihre Beine fühlen und bewegen. Unsere Theorie ist, dass wir dadurch nicht nur eine Umbildung der Großhirnrinde auslösen, sondern auch des Rückenmarks.“ 

Tatsächlich konnten Teilnehmer schließlich – abgesehen von Temperatur – Reize an ihren Beinen spüren. Die Besserungen waren nach sieben Monaten erkennbar, zeigten sich aber im zehnten Monat am deutlichsten. Patientin 1, eine 32-jährige Frau, die seit 13 Jahren gelähmt war, erlebte eine besonders deutliche Besserung: Nach 13 Monaten konnte sie demnach ihre Beine – gestützt durch ein Exoskelett – bewegen. Allerdings machen die Forscher zur Auswahl der Teilnehmer und zu ihrem Zustand vor Beginn der Studie in dem Artikel nur äußerst dürftige Angaben, ebenso wie zur Entwicklung der Patienten nach Ende des Trainings.

Verstummte Nervenfasern können wiedererweckt werden

Die Autoren begründen die Besserung vor allem damit, dass bei der Mehrzahl der Querschnittgelähmten offenbar noch Nervenverbindungen im Rückenmark vorhanden seien. Diese gelte es zu aktivieren. „Eine frühere Studie hat gezeigt, dass ein großer Prozentsatz der Patienten, bei denen eine komplette Querschnittlähmung diagnostiziert wurde, noch einige intakte Nerven im Rückenmark hat“, erläutert Nicolelis. Demnach seien bei etwa 60 Prozent dieser Menschen noch zwei bis 27 Prozent der weißen Substanz im Rückenmark erhalten. „Diese Nerven können viele Jahre lang verstummen, wenn ein Signal vom Kortex zu den Muskeln fehlt. Mit der Zeit könnte das Training mit der Gehirn-Maschine-Schnittstelle diese Nerven wiedererweckt haben. Auch wenn nur eine kleine Zahl Fasern bleibt, kann dies ausreichen, um Signale von der Großhirnrinde zum Rückenmark zu senden.“

Größere Untersuchung muss folgen

Der Heidelberger Experte Weidner betont, ähnliche Besserungen der sensomotorischen Funktion seien schon in früheren Studien erzielt worden. Die jetzigen Resultate müssten in einer größeren Untersuchung bestätigt werden, die auch alternative Therapien beinhalte. „Am Ende des Tages kommt es darauf an, wieviel Lebensqualität die Patienten dazugewinnen“, sagt der Direktor der Klinik für Paraplegiologie.

In einem wichtigen Punkt stimmt Weidner den Autoren der Studie zu: „Wenn die Therapie Patienten half, die seit mehreren Jahren chronisch vollständig gelähmt waren, dann könnte die Aussicht auf Verbesserungen bei Menschen, deren Rückenmarksverletzung noch nicht so lange zurückliegt, größer sein.“


Walter Willems, dpa
redaktion@daz.online


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