Arzneimittelkriminalität

Zusammenarbeit gegen Fälschungschaos

Stuttgart - 21.06.2016, 07:00 Uhr

Angesichts der Probleme bei Arzneimittelfälschungen braucht es internationale Koalitionen, fordern die Experten. (Foto: dpa / picture alliance)

Angesichts der Probleme bei Arzneimittelfälschungen braucht es internationale Koalitionen, fordern die Experten. (Foto: dpa / picture alliance)


Um die Kriminalität mit gefälschten Arzneimitteln besser zu bekämpfen, ist nach Ansicht von Experten dringend eine Harmonisierung des EU-Arzneimittelrechts notwendig. Arzneimittelkriminalität muss laut dem ehemaligen Europol-Leiter Jürgen Storbeck länderübergreifend viel stärker begegnet werden, da Patienten wie auch Hersteller und Apotheker immer mehr betroffen sind.

Nach zwei Jahren Projektlaufzeit stellte am Montag ein Forschungsprojekt Handlungsempfehlungen vor, wie Arzneimittelfälschungen besser bekämpft werden können. „Wir brauchen dringend eine Harmonisierung des Arzneimittelrechts“, sagte der Rechtswissenschaftler Arndt Sinn vom Lehrstuhl für internationales Strafrecht der Universität Osnabrück gegenüber DAZ.online. Seiner Einschätzung nach herrscht bei den rechtlichen Regelungen für den Handel mit Arzneimitteln in der EU Chaos. „Das Arzneimittelrecht ist völlig unterschiedlich geregelt und die Voraussetzungen und Strafhöhen divergieren“, sagte Sinn. Auch gäbe es kaum Zusammenarbeit zwischen den Behörden.

„Wir beobachten immer mehr, dass sich die organisierte Kriminalität im Bereich Arzneimittelkriminalität engagiert“, sagte Jürgen Storbeck, ehemaliger Direktor der in das Projekt eingebundenen Polizeibehörde Europol. Grund seien die hohen Gewinne und der noch zu geringe Strafverfolgungsdruck. „Deutsche Behörden und Bundes- und Länderministerien sollten darüber nachdenken, einen Strategiemechanismus entsprechend der EU-Security-Agenda zu erarbeiten, in der Produktpiraterie und Arzneimittelkriminalität stärker Berücksichtigung finden“, sagte Storbeck gegenüber DAZ.online. „Auch die Wirtschaft wie beispielsweise Arzneimittelhersteller sind gefordert, sich stärker im Rahmen einer Public-private-Partnership in der Bekämpfung der Arzneimittelkriminalität einzubringen.“

Apotheker sind immer mehr betroffen

Storbeck sieht „Struktur- und Kompetenzprobleme“ sowie mangelndes Personal und Ausbildung bei den Behörden, da sich die Bekämpfung organisierter Kriminalität auf andere Bereiche konzentriere. „Das Problem ist für die Pharmaproduzenten über die gesamte Handelskette bis zum Apotheker wirtschaftlich schwerwiegend und wird zukünftig immer größer“, sagt er. Aufgrund diverser Gesetzeslücken könne nicht vernünftig gearbeitet werden. Ein Problem sei auch die zu hohe Akzeptanz bei den Verbrauchern, die nicht ausreichend informiert seien und zu oft billige aber illegale Shops im Internet nutzen, um Viagra und andere Arzneimittel zu kaufen.

„Arzneimittel sind das neue Kokain“, sagte Sinn: Mit gefälschten Medikamenten ließen sich riesige Summen erwirtschaften. Schätzungen gingen von einem jährlichen weltweiten Schaden von 75 Milliarden Dollar aus. „Für die illegalen Anbieter ist es im Moment ein Paradies“, erklärte der Jurist. Ein Großteil der Fälschungen würde online vertrieben: „Im Internet, da spielt die Musik.“ Die Seiten seien so gut aufgebaut, dass der Verbraucher den Eindruck bekommen müsse, es handele sich um legale Produkte.

ABDA gegen Online-Handel

Aufgrund der Arzneimittelfälschungen gäbt es große Gefahren für Patienten, gleichzeitig aber auch für die Gesundheitswirtschaft. „Für die Pharmaindustrie ist es ein wirtschaftliches und ein Image-Problem“, sagte er. Es muss dringend eine Awareness-Kampagne gestartet werden, forderte Sinn. „Wir müssen den Verbraucher aufklären.“

Auch auf Versandapotheken wirken sich die Probleme indirekt stark aus. „Für die legalen Internetshops ist es natürlich ein Image-Problem, wenn in Zeitungen steht, online werden illegale Arzneimittel vertrieben“, sagte Sinn. Sowohl die ABDA als auch der Bundesverband Deutscher Versandapotheken (BVDVA) waren als assoziierter Partner in das mit 1,7 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium geförderte Projekt eingebunden. Von Seiten der Bundesvereinigung standen jedoch zur Vorstellung des Projekts keine Informationen zur Verfügung. Laut Sinn habe die ABDA darauf gedrungen, zukünftig wieder Versandhandel mit Rx-Arzneimitteln zu verbieten – wohingegen der BVDVA votierte. Am Ende wurde die Forderung nicht in die Handlungsempfehlungen aufgenommen, gegen die es auch EU-rechtliche Bedenken gab. „Wir hatten bewusst beide Verbände im Projekt, um die zwei Sichtweisen abzudecken“, sagte Sinn.

Eine Koalition muss schnell gebildet werden

Einzelne Maßnahmen helfen gegen die großen Probleme kaum: Beispielsweise seien Zertifikate für Online-Shops leicht zu fälschen, erklärt der Jurist Sinn. Stattdessen müssten alle betroffenen Organisationen und Firmen zusammenarbeiten. „Wir brauchen alle“, sagte Sinn – es bedürfe einer großen Koalition aller, die an Arzneimittelkriminalität interessiert sind. „Ohne dieses Bündnis passiert gar nichts.“ Dabei sei auch die Expertise der Verbände gefragt, wie beispielsweise die ABDA – aber auch die Wirtschaft und Logistiker müssten weiter eingebunden werden.

Dabei sieht er die Tagung, auf der derzeit die Ergebnisse vorgestellt werden, als Markt für neue Bündnisse. „Ich würde uns wünschen, dass die europäische Kommission oder Europarat auf uns zugehen“, sagte Sinn – sodass die Ergebnisse umgesetzt und das Projekt fortgesetzt werden kann. Die europäischen Organisationen seien schon sehr an den Resultaten interessiert gewesen. Laut Storbeck muss kurzfristig gehandelt und eine gemeinsame Strategie festgelegt werden – und nicht erst in zwei oder drei Jahren.

Update vom 22.06.: Die Forderungen des Versandhandels-Verbots der ABDA bezogen sich auf Rx-Arzneimittel, nicht den kompletten Arzneimittel-Bereich.


Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Arzneimittelfälschungskriminalität in unbekanter Dimension

von Heiko Barz am 21.06.2016 um 11:13 Uhr

Was sagt denn der polnische EU Genralanwalt zu dieser doch seht umfangreich dargestellten neuen Dimension der Arzneikriminalität.
Hätte dieser, ihm nicht unbekannte Zustand, zu einer anderen Bewertung seines vorschnell gestellten Urteils über die Liberalisierung des Europäischen Arzneimarktes führen müssen?
Oder sitzt da nicht vielleicht noch ein anders Element im grauen Hintergrund?

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