Retaxation wegen Nichtlesbarkeit

Apotheke und Archimedes

10.05.2016, 07:00 Uhr

Wer am längeren Hebel sitzt... (Foto: Screenshot images.google.de)

Wer am längeren Hebel sitzt... (Foto: Screenshot images.google.de)


Was passiert, wenn eine Apotheke eine ärztliche Verordnung noch lesen kann, die Krankenkasse aber nicht? Es wird retaxiert. Selbst dann, wenn die Arzneimittelabgabe und somit die Patientenversorgung formal und pharmazeutisch korrekt war. 

Ärztliche Verordnungen müssen lesbar sein. Fraglos. Für die Apotheke, damit eine ordnungsgemäße Belieferung des Rezepts und eine korrekte Arzneimittelversorgung der Patienten erfolgt. Für die Krankenkasse, die die abgegebenen Arzneimittel erstattet. Lesbare Rezepte auszustellen ist Sache der Arztpraxis. Retaxationen treffen dennoch die Apotheke.

Im konkreten Fall retaxierte die AOK Niedersachsen eine Verordnung über Harvoni® und Ribavirin, beides hochpreisige Arzneimittel. Bei der angedrohten Vollabsetzung seitens der Krankenkasse kommt auf die Apotheke ein finanzieller Verlust in Höhe eines Kleinwagens zu.

Begründet hat die Krankenkasse die Nicht-Erstattung damit, dass auf dem vorliegenden Image der ärztliche Teil der Verordnung nicht lesbar sei. Dementsprechend fordert sie die Apotheke auf, eine lesbare Kopie nachzureichen. Weder die Apotheke noch das Rezeptabrechnungszentrum hatten zuvor ein Problem mit dem Rezept. Ihnen lag das Original-Rezept vor – das war lesbar. Gesetzliche Regelungen zur Qualität des Rezeptaufdrucks gibt es sowohl für Apotheker als auch für Ärzte.

Vorschriften für die Apotheke...

Es gibt exakte Vorgaben für Rezeptaufdrucke durch die Apotheke. Der Abschnitt 1 „Anforderungen an die Maschinenlesbarkeit bei maschineller Beschriftung des Verordnungsblattes in der Apotheke” der  Technischen Anlage 2 zu § 300 SGB V regelt genau Zeilenabstände, Schriftarten, Schriftgröße, Schreibdichte, Zeilenabstände, sogar Farben, Druckkontrast und den Farbbandwechsel. Dies betrifft lediglich die Aufdrucke durch die Apotheke. Die Maschinenlesbarkeit des ärztlichen Verordnungsteils wird hier nicht berücksichtigt. 

... und für die Ärzte

Der „Bundesmantelvertrag Ärzte” zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband macht ebenfalls präzise Angaben zur Rezeptausstellung, zumindest hinsichtlich der zu erzielenden Ergebnisse. „Vordrucke und Bescheinigungen sind vollständig und leserlich auszufüllen, mit dem Vertragsarztstempel zu versehen und vom Arzt persönlich zu unterzeichnen.”

Und die Krankenkasse?

Wie sieht es mit der Krankenkasse aus? Wie steht es um die Vorschriften und Pflichten dieser Institution? Darf eine Kopie Handlungsgrundlage für eine Retaxation der Krankenkasse sein? Oder wäre es gar ihre Pflicht, vor Retaxations-Ansprüchen das Originalrezept zu prüfen? Liegt der Krankenkasse das Original überhaupt vor? An welchen gesetzlichen Grundlagen muss sich die Krankenkasse orientieren? DAZ.online hat sich informiert.

Näheres zu den Pflichten oder viel eher zu den Rechten regelt - hier im konkreten Fall - der Arznei-Liefervertrag zwischen der AOK Niedersachsen und dem Apothekerverband des Landes. Die Krankenkasse versichert nicht nur ihre Patienten, sondern sichert insbesondere auch sich selbst ab.

Die Original-Verordnungen liegen der Versicherung vor, und zwar spätestens zwei Monate nach Ablauf des Kalendermonats, in welchem die Lieferung erfolgte. § 8 „Bestimmungen zur Rechnungslegung” bestimmt die „Weiterleitung der Original-Verordnungsblätter” an die Krankenkassen. Laut Aussage der AOK Niedersachsen werden pro Arbeitstag etwa 83.000 Rezepte direkt von den Rechenzentren an einer zentralen Stelle der Krankenkasse eingelagert.

Auf Nachfrage von DAZ.online, ob eine Prüfung dieses eingelagerten Original-Verordnungsblattes nicht erfolgen würde, erklärt die Kasse, dass „eine manuelle Sichtprüfung anhand der Original-Verordnungen bei den Krankenkassen nicht stattfindet", das wäre bei einer Anzahl von rund 20 Millionen Rezepten pro Jahr in der heutigen Zeit praxisfremd. 

Praxisnah hingegen scheint es zu sein, Apotheken alternativ mit der Organisation einer lesbaren Kopie zu betrauen. Der Kopie eines Originals, das mittlerweile in den Archiven der Krankenkasse eingebunkert ist. Bleibt den Apotheken also in solch einem Fall nur der Weg in die Arztpraxis? Praxisnah - im  wahrsten Sinne des Wortes. Mit der Bitte um Ausstellung eines Duplikats?

Die Antwort ist einfach und schnell. Ja. 

TA3, TA4, §300 SGB V, §301 SGB V, Arznei-Lieferverträge - die Krankenkasse sichert sich ab

„Die Lieferung der Apothekenrechenzentren muss korrekte und lesbare Daten beinhalten”, sagt Carsten Sievers, der Pressesprecher der AOK Niedersachsen. Und das basiert auf vertraglicher Legitimation. So verweist Sievers  auf die Technische Anlage drei und vier (TA3/TA4).

Im Abschnitt drei der TA4 zu § 301 SGB V steht:

„Werden bei oder nach der Übermittlung Mängel festgestellt, die eine ordnungsgemäße Verarbeitung der Daten ganz oder teilweise beeinträchtigen, werden vom Empfänger nur die fehlerfreien Daten weiterverarbeitet.”

Weiterhin heißt es im sechsten Abschnitt, dass der Absender unverzüglich die zurückgewiesenen Daten zu berichtigen habe. Das muss, so sieht es die TA3 § 300 SGB V vor, innerhalb von 14 Werktagen erfolgen.

Sievers betont, dass es im dargestellten Fall letztendlich nicht zu einer Absetzung gekommen sei. Die betroffene Apotheke habe eine Zweitschrift nachgereicht. 

Die Frage, wie die weitere Vorgehensweise im Fall einer weniger kooperativen Arztpraxis gewesen wäre, bleibt unbeantwortet. Es sei bislang kein Fall bekannt, in dem die Arztpraxis ein solches Duplikat der Apotheke verweigert hätte.

Physikalisches Fazit

Alle haben recht, alle haben richtig gehandelt. Sowohl Arztpraxis als auch die Apotheke müssen für die Lesbarkeit ihrer gedruckten Werke sorgen. Auch die Forderungen der Krankenkasse waren nicht aus der Luft gegriffen - sie hat im gesetzlichen Rahmen wohl korrekt und verständlicherweise auch in ihrem Sinne gehandelt. Das kann man ihr nicht vorwerfen.

Was bleibt? Ein bitterer Nachgeschmack bei Betrachtung des Kräftegleichgewichts, bei der Verteilung der Rechte und Pflichten der einzelnen Vertragspartner. Die Apotheken sind wohl nicht nur verpflichtet, wie es das Gesetz über das Apothekenwesen in § 1 definiert, „die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung”, sondern auch den Servicegedanken konsequent den Krankenkassen gegenüber zu realisieren. Denn: Im Zweifel, bleiben die Apotheken auf den Kosten sitzen.

Die Physik scheint somit auch vor dem Gesundheitssektor keinen Stop zu machen - die Hebelgesetze werden auch hier nicht ausser Kraft gesetzt. Um mathematisch zu prognostizieren, wer auf der Wippe schließlich in der Luft „verhungern” würde, wenn ein Partner am längeren Hebel sitzt und „erschwerend” noch mehr Gewicht hat, braucht man kein Archimedes zu sein.


Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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2 Kommentare

Selber schuld !

von Hanspeter Schulz am 10.05.2016 um 21:24 Uhr

Wer am Verhandlungstisch schläft bzw. sich über denselben ziehen lässt, braucht gar nicht zu jammern, wenn er hinterher übelst die Zeche zahlen muss!

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Archimedes ?

von Heiko Barz am 10.05.2016 um 10:30 Uhr

Zuerst stellt sich die Frage, sollte man nicht eher die Gesetze der Kommunizierenden Röhren als Beispiel partnerschaftlicher Beziehungen heranziehen, als sich mit ungleichen Hebeln auseinanderzusetzen?
Hier wird doch ganz deutlich, dass die Basisverträge zur exakten Ausführung der Rezeptbedruckung elementare und berufsvernichtende Elemente enthalten. Das hätte man am Verhandlungstisch erkennen können ( müssen )!!
So ganz sehe ich nur nicht, ob die jetzt massiv greifenden Repressalien ( Retaxe ) im Verhandlungstadium schon als finanzielle Konsequenz bekannt waren.
Mir ist seit langem klar, unsere Verhandlungsführer haben sich in ihrer "partnerschaftlichen" Gutgläubigkeit nicht vorstellen können, dass die " Anderen " von vornherein Destruktives im Köcher hatten.
Sehenden Auges erleben unsere derzeitigen Gesundheitspolitiker( innen ) wie ein kompletter Berufsstand zum Schafott geführt wird, denn anders ist deren Negation unserer Berufspressionen nicht mehr zu interpretieren.
Sicher ist nur, dass die "Deckeldamen" sich nach der Wahl 2017 entweder ihren Familien oder anderen Politfeldern widmen werden.

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