Dokumentation: Versuchsfeld DDR 

Klinische Prüfungen westlicher Pharmafirmen hinter dem eisernen Vorhang

Berlin - 22.12.2015, 14:30 Uhr


In der Dokumentation „Medizinethik in der DDR“ beschäftigen sich die Wissenschaftler Rainer Erices, Andreas Frewer und Antje Gumz mit Werten im Gesundheitswesen der DDR. DAZ.online veröffentlicht die Ergebnisse der Recherchen zu klinischen Studien in der DDR.  

Als das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Mai 2013 über angebliche Menschenversuche in der DDR berichtete, war die Öffentlichkeit wachgerüttelt.

Zwar hatten Zeitungen oder Fernsehen wiederholt seit 1990 über die Medikamentenprüfungen westlicher Pharmaunternehmen in der DDR berichtet, doch diesmal entstand eine Welle der Empörung. Vorwürfe standen im Raum, die DDR hätte ihre Patienten gegen Devisen als Versuchskaninchen verkauft, Doping mittel an Frühgeborenen getestet oder Schwerstkranken bei Studien mit Placeboeinsatz eine Therapie versagt. In die öffentliche Debatte schalteten sich Politiker ein und forderten Aufklärung. Mutmaßliche Testpersonen von einst meldeten sich zu Wort und verlangten Klarheit. 

(Foto: dpa)

Als erstes Mitglied der Bundesregierung äußerte sich Gesundheitsminister Daniel Bahr am 14. Mai 2013 zu den Medikamententests westdeutscher Pharmakonzerne in der DDR. Er forderte eine rasche Aufklärung, versprach Hilfe, dabei wollte der Liberale auch die Pharmaunternehmen in die Pflicht nehmen.

Im Zuge der öffentlichen Diskussion wurde deutlich, dass die einstigen Geschehnisse im DDR-Gesundheitswesen noch immer nicht aufgearbeitet waren. Zuverlässige Daten über den Umfang der klinischen Studien, über deren Hintergründe und Ziele sowie über Fragen von Patientenaufklärung und - einverständnis fehlten und damit auch eine historische und ethische Bewertung. Unsere Untersuchungen geben erstmals einen systematischen Überblick über die klinischen Prüfungen westlicher Pharmahersteller in der DDR. Wir analysieren dazu einen Großteil der heute zur Verfügung stehenden Akten aus DDR-Beständen und untersuchen die Verträge zwischen den Pharmaherstellern, dem DDR-Außenhandel und den beteiligten Einrichtungen des DDR-Gesundheitswesens.

Die zeitgeschichtlichen Ergebnisse werden dabei in den Kontext der medizinhistorischen Forschung zu Humanexperimenten eingebettet und aus ethischer Perspektive auf dem Stand der gegenwärtigen Erkenntnisse bewertet.

In der DDR wurde das Gesundheitswesen stets als einer der großen Vorzüge des Sozialismus gepriesen, doch wie die gesamte Wirtschaft des Landes stand es in den 1980er Jahren vor dem Ruin. Vor diesem Hintergrund war das Gesundheitswesen verpflichtet, zusätzliche Devisen für den Staat zu erwirtschaften. Im Rahmen des so genannten „immateriellen Exports“ (IME) wurden vom DDR-Gesundheitswesen Fachkräfte aus gebildet oder Ausländer gegen Devisen medizinisch betreut. Der Staat verkaufte zudem „sehr materielle Waren“ der Medizin wie Blut und Blutprodukte in den Westen.

Außerdem konnten westliche Hersteller Arzneimittel und Medizintechnik in der DDR prüfen lassen. Diese klinischen Studien für den Westen sollten anfangs nur „im ausgewählten und geringen Umfang“ durchgeführt werden, damit „die DDR nicht zum Versuchsfeld westdeutscher oder amerikanischer Arzneimittelkonzerne wird“.

Bereits ab den 1960er Jahren waren westliche Medikamente in der DDR getestet worden; ab 1983 wurden die Studien ausgeweitet, systematisch durchgeführt und zentral organisiert.

Wir dokumentieren und untersuchen im vorliegenden Beitrag die Pharmastudien im Rahmen des immateriellen Exports ab 1983 bis zum Jahr 1990. Dafür werteten wir bis dato erschlossene Aktenbestände aus dem einstigen DDR-Gesundheitswesen aus, die heute im Bundesarchiv Berlin lagern. 

(Foto: dpa)

Im September 1991 wurde manches bekannt: Alexander Schalck-Golodkowski, ehemaliger Devisenbeschaffer der DDR und Kopf hinter der Abteilung "Kommerzielle Koordinierung" (KoKo) im Ministerium für Außenhandel der DDR, vor seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages in Bonn.

Aufschlüsse gaben vor allem die Unterlagen des Beratungsbüros für Arzneimittel (Import) im Gesundheitsministerium (BBA). Wir analysierten auch Bestände des Zentralen Gutachterausschusses (ZGA), der den jeweiligen Tests in der Regel vorab zustimmen musste, sowie Akten verschiedener Abteilungen des Ministeriums. Auch die Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) konnte eine Vielzahl von Akten bereitstellen. In ihnen befinden sich Informationen zur Überwachung der Pharmatests durch die DDR-Staatssicherheit, zu Abläufen, Verantwortlichen und Todesfällen.

Insgesamt lagen uns weit mehr als 200 teils mehrbändige Akten vor. Sie ergeben ein gutes Bild der Anzahl der klinischen Tests, über die geprüften Medikamente und die beteiligten Patienten, Einrichtungen und deren Mitarbeiter sowie auch über Todes fälle.

Die Pharmatests wurden von mehreren Institutionen organisiert: Zentraler Anlaufpunkt für die westlichen Firmen war das Beratungsbüro für Arzneimittel (BBA) im Gesundheitsministerium. Das BBA war in sämtliche organisatorische Abläufe und in die Vertragsgestaltung einbezogen. Die Verträge wurden außer von den Pharmafirmen und dem BBA auch von der DDR-Firma Berliner Import Export GmbH (BIEG) geschlossen. Die BIEG gehörte zum Geheimbereich der Kommerziellen Koordinierung (KoKo) des DDR - Außenhandels und war für die finanzielle Abwicklung zuständig. 

Gesetzliche Grundlage für die klinischen Prüfungen waren die Arzneimittelgesetze der DDR von 1964, später von 1986, sowie verschiedene Durchführungsrichtlinien. Darin war festgelegt, dass Medikamentenstudien der Phase I - III nur durchgeführt werden durften , wenn die Probanden über Ablauf, Wirkungen und Risiken aufgeklärt wurden und ihr Einverständnis erteilten. Innerhalb der Phasen I und II war dazu ein Protokoll mit Unterschriften von Arzt und Patient vorgeschrieben.

Für eine Zustimmung der Studie war in der Regel zudem eine Empfehlung des Zentralen Gutachterausschuss es für Arzneimittelverkehr (ZGA) nötig, die auf zwei Fachgutachten beruhte. Der ZGA fungierte als zentrale „Ethikkommission.“ Vergleichbare Einrichtungen gab es an den Universitäten noch nicht.

Die Bezahlung für die Studien wurde in Standardverträgen festgelegt. Die westlichen Auftraggeber überwiesen das Geld in Valuta auf ein Konto der BIEG. Die KoKo-Firma behielt rund die Hälfte der Einnahmen.

Was mit diesen Geldern geschah, ließ sich anhand der Akten nicht nachvollziehen.

Der andere Teil der Einnahmen wurde auf das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Hoch - und Fachschulwesen und die Akademie der Wissenschaften aufgeteilt. Eine Verpflichtung zur Ausschüttung des Betrags auf die an der Studie beteiligten Einrichtung en gab es nicht. Um die Motivation der Prüfärzte zu steigern, wurden Prämien an einzelne Ärzte und „Klinikskollektive“ in DDR - Mark ausgezahlt. Die Patienten erhielten kein Geld für ihre Teilnahme. Einige westliche Firmen legten Wert auf eine Vertragsklausel bezüglich Aufklärung und Einverständniserklärung der Patienten , andere verzichteten darauf.  

Lesen Sie ab morgen:

Teil 2: Tests, Firmen und Valutaeinnahmen

Teil 3: Patientenaufklärung und Ethische Fragen

Quelle: „Medizinethik in der DDR“, Andreas Fewer, Rainer Erices (Hg.), Franz Steiner Verlag, 2015.  


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