Schäden am Atomkraftwerk Tihange

Ärzte in Aachen fordern Jodtabletten

Aachen - 08.12.2015, 09:22 Uhr

Das Atomkraftwerk Tihange in Belgien: Bei einer Panne wäre radioaktive Strahlung binnen Stunden in Aachen. (Foto: dpa/ Brono Fahy)

Das Atomkraftwerk Tihange in Belgien: Bei einer Panne wäre radioaktive Strahlung binnen Stunden in Aachen. (Foto: dpa/ Brono Fahy)


Rissige Reaktorblöcke, ein explodierter Transformator, fahrlässige Mitarbeiter: Im belgischen Atomkraftwerk Tihange kommt es seit Jahren immer wieder zu Zwischenfällen. Nun ist wieder ein Reaktor beschädigt. Aachener Ärzte fordern, vorbeugend Jodtabletten in der Region zu verteilen – um die Bevölkerung bei einem GAU zu schützen.

Tausende kleine Risse sollen einen der Reaktordruckbehälter des belgischen Atomkraftwerks Tihange durchziehen. Kein besonders beruhigender Gedanke für jene, die in der Nähe wohnen. Aachen ist knapp 65 Kilometer entfernt. Kommt es zum GAU muss die Region in kurzer Zeit mit Strahlenbelastung rechnen. Hochdosierte Jodtabletten könnten möglichen Strahlenschäden vorbeugen. An die Präparate kommen die Bürger aber wohl erst, wenn der Ernstfall eintritt.

Kein Plan für den Ernstfall

Havariert das Kraftwerk an der belgischen Grenze, könnte die radioaktive Wolke in drei Stunden Aachen erreichen. Für diesen Fall fordern Ärzte des Aktionsbündnisses Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), dass Jodtabletten an alle Haushalte der Region verteilt werden. Auch Einrichtungen wie Schulen und Kindertagesstätten müssen versorgt sein, sagen sie. Denn gerade für Kinder ist die Strahlung besonders gefährlich.

Um Kommunalpolitiker auf ihre Belange aufmerksam zu machen, haben die Ärzte vor kurzem vor einer Ratssitzung der Stadt Aachen Jodtabletten verteilt. Außerdem wollten sie von den Ratsmitgliedern wissen, wie der Katastrophenschutzplan aussieht, sollte es in Tihange zum GAU kommen.

Die Antwort ist ernüchternd, sagt Wilfried Duisberg, einer der Ärzte der IPPNW-Gruppe Aachen: “Es gibt keinen Plan”, sagt er. “Die Stadt konnte kein Konzept für den Notfall vorlegen. Die Behörden wissen nicht, was zu tun ist.” Zwar würden in Aachen bereits Vorräte an Jodtabletten gelagert, doch im Ernstfall wäre die Ausgabe, laut der Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren Deutschlands (AGFB bund), nicht rechtzeitig vor Eintreffen der radioaktiven Wolke möglich. 

Häuser nicht verlassen

Die AGFB bund warnt: “Eine funktionierende und rechtssichere Verteilung der Jodtabletten ist nur durch eine Vorverteilung bis in die Haushalte zu erreichen“. Es sei nicht ausreichend, die Präparate erst zu verteilen, wenn in Tihange schon etwas passiert sei. Dann sollten die Menschen im Radius von 100 Kilometern um das Kraftwerk ihre Häuser nämlich gar nicht mehr verlassen, schreibt die AG in einem Hinweis zum Katastrophenschutz.

Medienberichten zufolge hat die Mehrheit des Aachener Stadtrates aufgrund von Gesundheitsgefahren Bedenken, die Bevölkerung vorbeugend mit den Präparaten zu versorgen. CDU, SPD und FDP wollten sich demnach erst genauer anschauen, wie die Tabletten vorschriftsmäßig verteilt werden müssen. Den Grünen soll das zu lange dauern. Sie sollen schon jetzt die Ausgabe der Tabletten fordern.

Tatsächlich scheinen aber nicht die Gesundheitsgefahren den Ausschlag zu geben, vielmehr scheint die Zuständigkeit nicht geklärt. Auf Anfrage von DAZ.online sagt eine Sprecherin der Stadt Aachen: “Grundsätzlich ist der Bund für die Verteilung zuständig. Das Land Nordrhein-Westfalen hat jedoch gefordert, dass die Tabletten für den Notfall ortsnah gelagert werden.” Damit läge die Verantwortung jetzt beim Land. Die Tabletten sind aber in Aachen vorrätig. Logistisch wäre es am einfachsten, die Verteilung kommunal zu regeln. Da würde stattdessen Verantwortung hin und her geschoben, sagt Wilfried Duisberg. 

Dabei geht es wesentlich einfacher. Duisberg nennt Österreich, die Schweiz, Frankreich und Luxemburg als Positivbeispiele. Dort könnten Bürger ohne Probleme Jodtabletten in der Apotheke bekommen, um für ein Atomkraftunglück ausgestattet zu sein.

Rechtzeitige Einnahme

Kommt es zu einem Störfall in Tihange, kann das Kalium-Iodid in dem Arzneimittel vor einer Strahlenbelastung durch radioaktives Jod schützen. Die strahlende Substanz kann sich in der Schilddrüse anreichern und erhöht insbesondere bei Jugendlichen, Kindern und Ungeborenen das Risiko, an einem aggressiven Schilddrüsentumor zu erkranken. Der Schutzmechanismus besteht darin, das Organ mit Jodid zu sättigen und es gegen das radioaktive Jod zu blockieren. Dies ist mit den hochdosierten Präparaten möglich, die etwa 65 mg Kalium-Iodid enthalten.

Das funktioniert jedoch nur, wenn das Arzneimittel rechtzeitig und korrekt eingenommen wird. Die Strahlenschutzkommission empfiehlt, die Tabletten zu schlucken, noch bevor die radioaktive Wolke eintrifft. Auch wenige Stunden später wirken sie noch, die Wirksamkeit nimmt aber stündlich ab. Tage nach einem GAU kann die Einnahme wiederum gegenteilige Effekte haben und das radioaktive Jod länger als üblich im Körper verweilen lassen. Die Schäden würden so zunehmen.

Die optimale Dosis ist zudem stark altersabhängig. Menschen mit einer Überfunktion der Schilddrüse oder einer Überempfindlichkeit gegen Jod sollten auf die Einnahme verzichten. Ihr Zustand könnte sich durch Jodgabe akut verschlechtern. Ob Probleme auftreten können, kann ein Hausarzt vorher abklären, sagt Wilfried Duisberg. 

Kraftwerk abschalten

Die Tabletten unkontrolliert, weit im Voraus und ohne dringende Notwendigkeit zu schlucken, ist laut dem Bundesamt für Strahlenschutz ebenfalls ungesund. Die Schilddrüse reagiert empfindlich auf Jod und kann durch einen Überschuss Schaden nehmen. Die Folgen können etwa Hormonstörungen oder krankhafte Veränderungen des Immunsystems sein. Das Bundesamt rät deshalb von einer Eigenmedikation ab. Wer die Tabletten schluckt, muss außerdem berücksichtigen, dass sie nur die Schilddrüse schützen können. Andere Organe können durch die Strahlenbelastung aber trotzdem geschädigt werden. Gegen andere radioaktive Stoffe schützen die Jodpräparate ebenfalls nicht. 

Der effektivste Schutz für die Bevölkerung wäre, das Kraftwerk in Tihange abzuschalten. Darin sind sich der Stadtrat und die IPPNW einig. Sie fordern, dass die Anlage umgehend stillgelegt wird. Seit Jahren kommt es dort immer wieder zu Störungen. Die Risse im Reaktorblock sind nur das jüngste Problem in einer Reihe von Vorfällen. 

2012 wurden schon einmal Risse in einem Reaktorblock festgestellt. Zwei Jahre später explodierte ein Transformator in einem anderen Block. Am 8. August 2015 suspendierte die belgische Atomaufsichtsbehörde vier Mitarbeiter, weil sie Sicherheitsregeln missachtet hatten. Fünf Tage später schaltete sich ein Reaktorblock automatisch ab, als eine Wartung vorbereitet wurde. Zur gefährlichsten Störung kam es im Jahr 2002: Weil ein Ventil versehentlich offen stand, fiel der Druck ab und Kühlwasser verdampfte. Allein die Sicherheitssysteme verhinderten eine Kernschmelze. 

In der Vergangenheit gingen immer wieder Reaktoren in Tihange vom Netz, nachdem es zu Störfällen gekommen war. 2011 hatten sich belgische Regierungsvertreter nach dem Unglück von Fukushima eigentlich darauf geeinigt, 2015 den Atomausstieg zu schaffen. Weil Belgien aber Stromknappheit droht, wenn die Kraftwerke abgeschaltet werden, laufen sie bislang weiter. Gerade im Winter befürchtet das Land Engpässe. Daher ist eine Abschaltung noch in diesem Jahr kaum kaum denkbar.


Saskia Gerhard, Freie Autorin
redaktion@deutsche-apotheker-zeitung.de


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4 Kommentare

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Jodtabletten

von Dr Schweikert-Wehner am 08.12.2015 um 14:04 Uhr

Nein, die Ärzte verteilen hier keine Jodtabletten. Das ware auch im Falle eines GAUS anders organisiert. Sie haben uns ganz schön aufgeschreckt mit dieser Konservenmeldung heute morgen. Die Dräte zwischen den Ämtern und Gesundheitseinrichtungen im 3 Ländereck sind heiß gelaufen, auch nach Belgien!

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