Arzneimittel und Therapie

Wie klinisch relevant sind Interaktionen mit Antibiotika?

Ergebnisse einer Fall-Kontroll-Studie zu Warnmeldungen

Interaktionsmeldungen gehören in der Apotheke zur Tagesordnung. Regelmäßig muss die Relevanz von Warnmeldungen richtig eingeordnet und bewertet werden. Sind aber alle Interaktionsmeldungen, die verschiedene Arzneimitteldatenbanken generieren, tatsächlich klinisch relevant? Oder führen zu viele Warnungen, die eigentlich vernachlässigbar sind, zu einer „Alert-Fatigue“?

Die Arbeitsgruppe von van Staa et al. betrachtete die Kombinationstherapie eines Antibiotikums mit Nicht-Antibiotika und fragte sich in ihrer Ende 2022 publizierten Fall-Kontroll-Studie, wie groß das Risiko ist, eine UAW-assoziierte Krankenhaus- oder Notfalleinweisung zu erleiden [1]. Sie kam zu dem Schluss, dass es trotz zahlreicher Warnmeldungen der elektronischen Arzneimitteldatenbanken vor Interaktionen mit schwerwiegenden Outcomes bei der untersuchten Kombination von Antibiotika mit Nicht-Antibiotika keine Evidenz dafür gibt, dass diese Interaktionen klinisch relevant sind. Als Konsequenz werden eine evidenzbasierte Aufnahme, Bewertung und Darstellung von Interaktionsmeldungen in Arzneimitteldatenbanken gefordert.

Foto: A_Skorobogatova/AdobeStock

Aus einem Over-Alert kann eine Alert-Fatigue resultieren. Diese Alarmmüdigkeit tritt auf, wenn wegen eine überwältigenden Zahl von Alarmen Personen die Warnmeldungen ignorieren oder verzögert reagieren.

Werden zu viele irrelevante Interaktionen gemeldet?

Gegenübergestellt wurden in der Studie die Daten ausgewählter ICD-10-Klassifikationen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), die zwischen den Jahren 2000 und 2020 zu Hospitalisierungen von Patientinnen und Patienten führten, mit den von der British National Formulary (BNF) gemeldeten schwerwiegenden Interaktionen zwischen Antibiotika und Nicht-Antibiotika. Die Daten der Patienten stammten dabei aus zwei Datenbanken, der Clinical Practice Research Databank (CPRD) Gold und der CPRD Aurum, die Personen im Alter zwischen 65 und 100 Jahren umfasst. Verglichen wurden Patientinnen und Patienten, die ins Krankenhaus eingewiesen werden mussten (n = 121.546), mit einer Kontrollgruppe, bei der es nicht zur Hospitalisierung kam (n = 638.238). Die Gruppen unterscheiden sich dabei kaum in ihrer Demografie und Komorbidität. Als Bewertungsgrundlage, ob eine Interaktion als relevant einzustufen ist, wählten die Forschenden odds ratios, welche die Chance, aufgrund einer Kombination aus Antibiotikum und Nicht-Antibiotikum bzw. aufgrund von einer Antibiotika-Monotherapie ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, berechneten.

Für 75% der als schwerwiegend eingestuften Interaktionen wurden statistisch signifikant höhere korrigierte odds ratios im Vergleich zur Nicht-Exposition mit einer der beteiligten Substanzen festgestellt, jedoch gab es in nur 20% der gemachten Interaktionsanalysen statistisch signifikante Unterschiede im Vergleich zur jeweiligen Monotherapie. Insgesamt betrachten die Forschenden eine Kombinationstherapie aus Antibiotikum und Nicht-Antibiotikum als nicht höher risiko­behaftet als eine alleinige Antibiose.

In der Studie zeigte sich außerdem, dass nephrotoxische Arzneimittel häufig zu Krankenhauseinweisungen führen und das Risiko mit der Anzahl der eingenommenen Arzneimittel ansteigt. Des Weiteren wurde gezeigt, dass UAW-bedingte Krankenhaus­einweisungen häufig sind und deren Inzidenz bei erhöhter Gebrechlichkeit und steigendem Alter der Patienten zunahm. Außer Acht gelassen wurde jedoch, dass für jede Interaktion Risikofaktoren jenseits des Alters der Patientinnen und Patienten (dieser Risikofaktor wurde bei der Studie berück­sichtigt) bestehen. Auch wenn für einen Patienten eine Meldung keine Relevanz hat, kann diese für einen anderen bedeutend sein. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Interaktionen oft abhängig von den angewendeten Arzneimittelstärken, Dosierungen und pharmakokinetischen Interaktionen sind. Auch dies wurde in der Untersuchung nicht berücksichtigt. Die Studie besitzt darüber hinaus auch weitere Limitationen, die zu Verzerrungen und einer Unterschätzung des Risikos von Interaktionen führen können:

  • Es wurden nur Ereignisse betrachtet, die zu einer Hospitalisierung geführt haben. Somit werden Effekte übersehen, die nicht zur Hospitalisierung führten, wie z. B. QT-Zeit-Verlängerungen, die zum größten Teil asymptomatisch verlaufen, aber auch zum plötzlichen Herztod führen können.
  • Der Grund der Krankenhauseinweisung wird nicht in einen kausalen Zusammenhang mit der möglichen durch die Interaktionssoftware gemeldeten Folge gesetzt. Es wird lediglich eine odds ratio für die UAW-bedingte Krankenhauseinweisung bei Kombinationstherapie vs. Monotherapie oder Nicht-Exposition berechnet. So konnten die Forschenden für die Interaktion von Digoxin und Makroliden eine erhöhte Chance für eine Hospitalisierung durch akutes Nierenversagen finden, jedoch ist dies nicht die zu erwartende Folge der Kombination, die durch die hiesige Arzneimitteldaten­banken ABDA-Datenbank² [2] und Scholz Datenbank bzw. Scholz online [3], aber auch von anderen Datenbanken wie drugs.com oder UpToDate gemeldet wird (Digitalisintoxikation). Auch das British National Formulary meldet eine potenzielle Digitalis-Intoxikation durch ansteigende Digoxin-Plasmaspiegel. Auch hier wird diese Interaktion als schwerwiegend und „anecdotal“ klassifiziert. Auf den Inhalt der Meldung geht die Studie von van Staa et al. aber nicht ein.
  • Als Datenbasis dienten die Verschreibungsdaten. Dadurch ist nicht sichergestellt, dass die eingeschlossenen Patientinnen und Patienten die Arzneimittel auch tatsächlich einnahmen.
  • Es gibt keine Erkenntnisse dazu, wie viele klinische Folgen von Interaktionen oder UAW-bedingte Hospitalisierungen durch die Nutzung einer Interaktionssoftware im Kontext der ärztlichen Verordnung oder Abgabe in der Apotheke verhindert wurden, da aufgrund der Interaktionsmeldung die ursprüngliche angedachte Arzneimittelkombination verändert wurde.

Darstellung von Interaktionen in Arzneimitteldatenbanken

Auf Basis der Studienergebnisse plädieren die Autoren dafür, für die Aufnahme von Interaktionsmeldungen in Arzneimitteldatenbanken eine Evidenz vorauszusetzen und diese transparent darzustellen, damit die Einschätzung der klinischen Relevanz eines Interaktionsrisikos für das Fachpersonal erleichtert wird und Patientinnen und Patienten weniger ver­unsichert werden. Dieses Ziel ist unterstützenswert, allerdings darf nicht vergessen werden, dass die klinische Relevanz nicht ausschließlich nach Evidenzlage, sondern immer vor dem klinischen Hintergrund inklusive Risikofaktoren der Patientinnen und Patienten einzuschätzen ist.

Klassifizierung und Darstellung von Interaktionen in verschiedenen Datenbanken

ABDA-Datenbank [2]

  • Unterteilung einer Interaktions­monographie in „Schnellinformation“, „Warnmeldung“ und „Experten­wissen“
  • Klassifizierung nach klinischer Relevanz, Warnmeldung (umfasst Häufigkeit, Risikofaktoren u. a.) und Maßnahmen sowie die beobachteten Sym­ptome
  • wirkstoffspezifische Interaktions­meldungen (nicht mehr Arzneistoffgruppen-bezogen)
  • personalisierter Interaktionscheck, sofern Kundenkartei vorhanden
  • Aufführen von alternativen Arzneistoffen, mit denen keine Interaktion zu erwarten ist bzw. ein geringeres Risiko vorliegt
  • Bewertung der Datenlage der Interaktionen
     

British National Formulary (BNF)

  • Klassifizierung nach Schweregrad (severe, moderate, mild, unknown), Evidenz (Study, Anectdotal Reports und Theoretical Considerations) und Angabe der durchzuführenden Maßnahme, falls vorhanden; für einige Stoffe sind zudem auch Lebensmittel-assoziierte Inter­aktionen aufgelistet
  • Interaktionen befinden sich im Anhang des BNF als sehr kurz gefasste Liste zu der jeweiligen Arzneistoffgruppe bzw. des jeweiligen Arzneistoffs
  • zusätzliche Tabellen führen alle Arzneistoffe auf, die bestimmte Morbiditäten wie z. B. Bradykardie auslösen
     

Scholz online

  • Triple Classification System: Ampelsystem mit Einstufung der
    – Relevanz bzw. Gefährlichkeit
    – Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Wechsel­wirkung anhand der Studienlage
    – empfohlene Maßnahme
  • Profi-Information (ausführliche Wechselwirkungsinformation) inklusive klinischer Symptome, Evidenz, Studienlage und Risikofaktoren, Mechanismus, Ergebnisse klinischer Studien sowie Vorschlag zu Maßnahmen und risikoärmeren Alternativen
  • dosisabhängige Interaktionen
  • MDDI-Calculator (multi drug drug interactions): zeigt pharmakokinetische Brennpunkte der Medikation unter Berücksichtigung multipler kinetischer Interaktionen auf

Die Darstellung der Interaktionen in Arzneimitteldatenbanken und sogenannten Clinical Decision Support Systems (CDSS) ist eine Gratwanderung zwischen der Vermeidung eines Over-Alerts und der vollständigen Meldung der Wechselwirkungen auf Basis von wissenschaftlicher Literatur sowie den Fachinformationen, die im § 11a Arzneimittelgesetz (AMG) als verpflichtende Informationsgrundlage für Fachpersonal definiert sind. Letztere mahnen häufig zu Vorsicht auf Basis unterschiedlichster Studien­daten – sowohl In-vitro-Versuche als auch klinische Studien und Anwendungsbeobachtungen. Es kommt auch vor, dass bekannte Effekte anderer Arzneistoffe der gleichen Wirkstoffgruppe aus Sicherheitsgründen auf weitere Gruppenmitglieder übertragen werden, für die es aber keinerlei Studien gibt. Es erfolgt hier also keine differenzierte Bewertung und auch kein Verweis auf die zugrunde liegenden Literaturquellen. Das Ziel einer Arzneimitteldatenbank ist es, diese Zusammenhänge transparent darzustellen und Wechselwirkungen inklusive Darstellung der Evidenzlage differenziert zu bewerten. Wichtig ist allerdings auch, dass sich die Anwender mit dem System der Risikobewertung der von ihnen genutzten Datenbank auseinandersetzen, um die Warnmeldungen besser beurteilen zu können.

Das British National Formulary klassifiziert die Interaktionen nach der jeweiligen Evidenz sehr grob in Study, Anectdotal Reports und Theoretical Considerations – also studienbasiert, auf Grundlage von Fallberichten oder rein theoretischer Natur. Jedoch ist nur in etwa 30% der Fälle eine Evidenz in den jeweiligen Interaktionsmonographien angegeben [4]. Eine Berücksichtigung dieser Einstufungen bzw. ob eine Evidenz angegeben worden ist, erfolgt jedoch in der Studie von van Staa et al. nicht.

In den deutschen Arzneimittelinformationsdatenbanken ABDA-Datenbank² und Scholz werden in der Regel sowohl klinische Symptome als auch die Evidenz und Risikofaktoren berücksichtigt. Diese fließen in die Klassifizierung und Darstellung der Interaktionen ein (s. Kasten „Übersicht über Klassifizierung und Darstellung von Interaktionen“). Als weitere Maßnahmen gegen Over-Alerting und um die Bewertung der klinischen Relevanz von Interaktionen zu unterstützen, berücksichtigt Scholz z. B. Dosisabhängigkeiten von Wechselwirkungen und weist mithilfe des sogenannten MDDI Calculators (MDDI = Multi Drug Drug Interactions) auf pharma­kokinetische Brennpunkte der Medikation hin. Erhöhte Plasmaspiegel können das Risiko für UAW und pharmakodynamische Interaktionen zusätzlich erhöhen.

Fazit

Interaktionsmeldungen können im ersten Moment lästig erscheinen, und ein Over-Alert kann gefährliche Folgen haben: Die daraus resultierende sogenannte Alert-Fatigue kann dazu führen, dass Interaktionen weniger beachtet und klinisch relevante Risiken übersehen werden. Die britische Datenbank BNF verwendet zwar eine Einschätzung der Evidenzen der jeweiligen Interaktionen, jedoch erscheinen diese laut Staa et al. nur in Kurzform und es besteht Aktualisierungsbedarf. In den deutschen Datenbanken (ABDA-Datenbank² und Scholz Datenbank bzw. Scholz online) wird in der Regel bereits eine Einstufung der Evidenz vorgenommen. Darüber hinaus wird auf klinische Symptome und Risikofaktoren eingegangen. Demnach sind die von der Studiengruppe von van Staa et al. gemachten Angaben nur begrenzt auf die Situation in Deutschland übertragbar.

Die individuelle Relevanz von Arzneistoffinteraktionen ist nicht zu unterschätzen. Ein generelles Ausblenden von Meldungen kann für Risikopatientinnen und -patienten schwerwiegende Folgen haben. Daher ist einerseits die differenzierte Darstellung von Wechselwirkungen einschließlich Evidenz, klinischer Relevanz inklusive patientenindividueller Risikofaktoren in den Datenbanken von großer Bedeutung, andererseits müssen die pharmazeutische Betrachtung und Bewertung stets in Kontext mit der Krankheitsgeschichte, der Demografie und des Arzneimittelprofils der Patienten erfolgen. Medizinischer und pharmazeutischer Sachverstand können nicht komplett durch elektronische Hilfsmittel ersetzt werden. Für ein optimales Interaktionsmanagement sowohl in Akutsituationen als auch im Rahmen der bei der pharmazeutischen Dienstleistung „erweiterten Medikations­beratung bei Polymedikation“ sind sowohl gute pharmakologische Fachkenntnisse als auch eine gute Arzneimitteldatenbank mit einer differenzierten Interaktionsdarstellung sowie der fachkundige Umgang mit der jeweils genutzten Datenbank essenziell. Des Weiteren ist eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern von großem Vorteil. |

 

Literatur

[1] van Staa TP, Pirmohamed M, Sharma A, Buchan I, Ashcroft DM. Clinical Relevance of Drug-Drug Interactions With Antibiotics as Listed in a National Medication Formulary: Results From Two Large Population-Based Case-Control Studies in Patients Aged 65-100 Years Using Linked English Primary Care and Hospital Data. Clinical Pharmacology & Therapeutics 2023;113(2):423-434

[2] ABDATA Pharma-Daten-Service. ABDA Datenbank 2: Manual 2022 [online]. https://abdata.de/wp-content/uploads/2022/09/abdadatenbank2-manual-2022.pdf, Abruf am 22. Mai 2023

[3] Scholz online [online]. www.scholzon.de, Abruf am 22. Mai 2023

[4] Kontsioti E, Maskell S, Bensalem A, Dutta B, Pirmohamed M. Similarity and consistency assessment of three major online drug-drug interaction resources. Br J Clin Pharmacol 2022;88(9):4067-7409

 

Autoren

Dr. Ulrich R. Lücht, Apotheker, AMTS-Manager und Filialleiter der Johanni-Apotheke in Billerbeck; Studium der Pharmazie an der Universität Münster, Promotion im Fach Klinischer Pharmazie im Arbeitskreis von Prof. Dr. Georg Hempel, Uni Münster zum Thema Arznei­stoff­interaktionen in Kooperation mit der Scholz Datenbank

Dr. Stefanie Brune, Apothekerin, AMTS-Managerin, Studium der Pharmazie an der Universität Münster, haupt- und nebenberufliche Tätigkeit in unterschiedlichen öffentlichen Apotheken, seit 2013 Leitung der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung der ePrax GmbH (Scholz Datenbank), seit 2023 Produkt­managerin von Scholz online beim Deutschen Apotheker Verlag

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