Arzneimittel und Therapie

Weniger Suizide dank Folsäure?

Vitamin-B9-Einnahme könnte bei schweren Depressionen helfen

Immer wieder nehmen depressive Menschen sich das Leben. So geht 1% aller Todesfälle in Deutschland auf Suizid zurück. Antidepressiva und eine Psycho- oder Verhaltenstherapie können bei schweren Depressionen helfen. In einer epidemiologischen Studie wurde die Assoziation zwischen suizidalem Verhalten und einer Supplementation von Folsäure (Vit­amin B9) untersucht. Tatsächlich war diese mit einem geringeren Risiko für suizidale Ereignisse verbunden. Für eine breite Anwendung von Vitamin B9 bei Patienten mit depressiven Symptomen ist es aber zu früh.

Beim Stichwort Folsäure denken wohl die meisten an die Versorgung werdender Mütter: Ausreichende Folat-Spiegel während der frühen Schwangerschaft reduzieren das Risiko eines Neuralrohrdefekts oder bestimmter Herzfehler beim ungeborenen Kind. Weniger bekannt ist, dass Folat die Wirkung von Antidepressiva positiv beeinflussen kann. Über die Bestimmung des Folat-Serumspiegels konnten Wissenschaftler bereits vor ungefähr zehn Jahren voraussagen, wie gut selektive Serotonin-Wiederaufnahmeinhibitoren (SSRI) anschlagen [1, 2].

Foto: Oksana/AdobeStock

Grünes Blattgemüse, wie Spinat oder Rosenkohl, ist ein guter Folat-Lieferant in der Ernährung. Aber auch in Eigelb, Leber, Getreidekeimen und -kleie sowie Hülsenfrüchten steckt Vitamin B9.

Vitamin B9 und Suizidalität

In einer Datenbank-basierten Studie konnte 2019 eine Assoziation zwischen der Supplementation von Folat und einer reduzierten Suizidalität festgestellt werden [5]. Bei dieser statistischen Analyse sollten Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel identifiziert werden, die das Risiko für Suizidversuche erhöhen oder senken können. In die Auswertung gingen Rezepte ein, die privaten, US-amerikanischen Krankenkassen zur Kostenübernahme zugesandt wurden. Außerdem wurden Diagnosen, Klinikaufenthalte und Totenscheine berücksichtigt, die auf selbstverletzendes Verhalten oder einen Suizid(versuch) schließen lassen. Insgesamt konnte bei 44 Substanzen ein erniedrigtes Risiko für Suizidversuche festgestellt werden, darunter Mirtazapin und Hydroxyzin, aber eben auch Folsäure. Bei zehn Wirkstoffen war das Risiko erhöht, unter anderem bei Alprazolam und Prednison. Die Vermutung, dass Frauen Folat während der Schwangerschaft einnehmen und der positive Effekt damit zusammenhängt, konnte entkräftet werden: Wurde die Analyse nur auf Männer angewandt, fand sich dasselbe Resultat [5]. Die Arbeitsgruppe um den Biostatistiker Prof. Robert D. Gibbons, die diese Untersuchung anfertigte, analysierte nun den Zusammenhang zwischen Folat-Supplementation und suizidalen Ereignissen (Suizidversuche oder absichtliches selbstverletzendes Verhalten) in einer großen epidemiologischen Untersuchung [1].

Folsäure vs. Cyanocobalamin

Dazu wurden die Daten von 866.586 Privatversicherten ausgewertet, die zwischen 2012 und 2017 eine Verordnung über ein Folat-Präparat bei ihrer Krankenversicherung eingereicht haben. Alle Patienten wurden für mindestens ein Jahr nachbeobachtet. Knapp die Hälfte der Patienten, die eine Folat-Verordnung erhielten, litt an einer Schmerzerkrankung, 12,0% hatten eine Depression und 14,6% eine Angststörung. 48% der Verordnungen entfielen auf ein Monopräparat mit 1 mg Folat pro Tag, 0,11% auf Monopräparate mit täglichen Dosierungen von 0,4 mg bis 5 mg Folsäure und der Rest auf Folsäure-haltige Multivitaminpräparate. In der Zeit, die durch eine Folsäure-Verordnung abgedeckt war (5.521.597 Personen-Monate), ereigneten sich 261 suizidale Ereignisse, damit lag die Rate für diese Ereignisse unter Folsäure bei 4,73 pro 100.000 Personen-Monate. In der Zeit ohne Folsäure lag diese bei 10,61 pro 100.000 Personen-Monate. Die adjustierte Hazard Ratio (aHR) für suizidale Ereignisse, wenn Folat eingenommen wurde, betrug 0,56 (95%-Konfidenzintervall [KI] = 0,48 bis 0,65). Somit konnte die Supplementation von Folat im Vergleich zur Nicht-Einnahme die Rate für suizidale Ereignisse um 44% reduzieren. Dabei wurden diverse Faktoren berücksichtigt wie Geschlecht, Alter, Diagnosen, die mit suizidalem Verhalten oder Folat-Mangel in Verbindung stehen, oder Einnahme von Arzneimitteln, die den Folat-Spiegel reduzieren können (s. Kasten „Folat-reduzierende Arzneimittel“). Um einen Healthy-User-Bias zu minimieren – also mögliche Verzerrungen aufgrund anderer gesunder Verhaltens­weisen von Patienten, die präventive Maßnahmen in Anspruch nehmen –, wurden dieselben Berechnungen mit 236.610 Personen angestellt, die eine Verschreibung für ein Cobal­amin-haltiges Präparat erhalten haben. Die Einnahme von Vitamin B12 konnte das Risiko für suizidale Ereignisse nicht verringern (aHR = 1,01; 95%-KI = 0,80 bis 1,27).

Folat-reduzierende Arzneimittel

In der Studie wurden neben Erkrankungen, die die intestinale Folat-Absorption verringern (z. B. Morbus Crohn, Zöliakie), auch Folat-reduzierende Arzneimittel berücksichtigt. Dazu gehören unter anderem:

  • Methotrexat
  • Protonenpumpeninhibitoren, z. B. Omeprazol, Pantoprazol
  • Antihistaminika und Antazida, z. B. Cimetidin, Ranitidin
  • Metformin
  • Sulfasalazin
  • Cotrimoxazol
  • Antidepressiva, z. B. Amitriptylin, Bupropion, Citalopram, Fluoxetin, Olanzapin, Paroxetin, Tranylcypromin
  • Antiepileptika, z. B. Carbamazepin, Ethosuximid, Lacosamid, Levetiracetam, Valproat, Vigabatrin

Randomisierte Studien nötig

Jedoch gilt es zu beachten, dass die Inzidenz der Suizide in der Studienpopulation mit Folsäure-Verordnung mit 133 pro 100.000 Personen niedriger war als in der Normalbevölkerung der USA (600 pro 100.000 Einwohner). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass suizidale Ereignisse in Versicherungsdaten aufgrund von unvollständigen Meldungen unterrepräsentiert sind. Zudem konnten Frauen, die aktiv eine Schwangerschaft planen und daher Folsäure einnahmen, nicht extra berücksichtigt werden. Die Supplementation von Folat ohne Rezept wurde ebenfalls nicht erfasst.

Den Studienautoren zufolge rechtfertigen die Ergebnisse die Durchführung randomisierter kontrollierter Studien zu Suizidgedanken und suizidalem Verhalten. Prof. Gibbons stellte in einer Anmerkung zur Veröffentlichung klar: „Folsäure ist sicher, kostengünstig und allgemein verfügbar, und wenn künftige randomisierte kontrollierte Studien zeigen, dass dieser Zusammenhang zweifelsfrei kausal ist, haben wir ein neues Werkzeug im Arsenal“ [2]. |

Literatur

[1] Gibbons RD et al. Association between folic acid prescription fills and suicide attempts and intentional self-harm among privately insured US adults. JAMA Psychiatry 2022;79(11):1118-1123, doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.2990

[2] Anderson P. Folic acid tied to a reduction in suicide attempts. Nachricht von Medscape, 4. Oktober 2022, www.medscape.com/viewarticle/981832#vp_1

[3] Schelhase T. Suizide in Deutschland: Ergebnisse der amtlichen Todesursachenstatistik. Bundesgesundheitsbl 2022;65:3–10, doi.org/10.1007/s00103-021-03470-2

[4] Weber-Fina U. Folsäure: die Pille nach der Pille. PTAheute, 15. Februar 2019, www.ptaheute.de/aktuelles/2019/02/15/folsaeure-die-pille-nach-der-pille

[5] Gibbons R et al. Medications and Suicide: High Dimensional Empirical Bayes Screening (iDEAS). Harvard Data Science Review 2019, doi.org/10.1162/99608f92.6fdaa9de

Juliane Russ, DAZ-Volontärin

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