Foto: Popova Olga/AdobeStock

Feuilleton

Weshalb auch Pharmazeuten Goethes „Faust“ lesen sollten

Ein lehrreiches Stück im Spannungsfeld von Magie, Wissenschaft und Technik

Auch wenn angehende Pharmazeutinnen und Pharmazeuten eher den Naturwissenschaften zugewandt sind, heißt das nicht, dass manch einer von ihnen der „Faust“-Lektüre in der Schule nicht durchaus erhellende Seiten abgewinnen konnte. Es ist ja vor allem zunächst die Sprache Goethes, die nach etwa 200 Jahren nichts von ihrer prägenden Kraft verloren hat. Daher sind viele Verse noch in aller Munde, etwa wie: „Da steh ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor“ oder „Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.“ Goethes „Faust“ ist jedoch mehr als die Summe seiner Zitate. | Von Thomas Richter

Letztendlich hat Goethes Lebenswerk, welches ihn von seiner Kindheit bis ins hohe Alter begleitete, im 21. Jahrhundert nichts von seiner Aktualität verloren. Der Dichter erkannte, dass die Schwelle vom 17. ins 18. Jahrhundert eine „Achsenzeit“ war. Diese war nicht nur von politischen Veränderungen gekennzeichnet, sondern es begann das industrielle Zeitalter, welches ohne die damit verbundenen naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisse nicht möglich gewesen wäre.

Diese Wahrnehmungen spielen im „Faust“ eine Rolle und können uns helfen, die gesellschaftlichen Transformations­prozesse unserer Tage besser zu verstehen.

Intellektuelle Depression des Universalgelehrten

Die Eingangsszene im „Faust“ zeigt bereits das geschicht­liche Spannungsfeld, in dem Faust sich bewegt. Er befindet sich in einem engen gotischen Zimmer, welches für die Zeit des Mittelalters steht. Darin hatte alles seine feste Ordnung, was sich ebenfalls in der Welt der Wissenschaften wider­spiegelt. Man durchlief zunächst ein „Artes-Studium“, in dem die freien Künste – bestehend aus mathematisch-­naturkundlichen sowie philologischen Fächern – gelehrt wurden. Daran schloss sich das Hauptstudium an, das eine Spezialisierung innerhalb der vier klassischen Fakultäten erlaubte. An erster Stelle sei die Philosophie genannt, welche im Mittelalter jedoch als Anhängsel der Theologie galt. Diese war die Königsdisziplin, da sie für die Ausbildung von Klerikern sorgte. Eine große Rolle spielten schließlich die Rechtsgelehrsamkeit und die Medizin. Die Pharmazie schaffte den Sprung an die Hochschule übrigens erst im 19. Jahrhundert. Dieses starre universitäre System stellt Faust in seiner Studierstube in Frage und führt zu einer tiefen intellektuellen Frustration. Der Erkenntnisdrang des Universalgelehrten war durch die vier Studiengänge eben nicht befriedigt. Ähnliche Prozesse laufen ja auch in unseren Tagen ab, wenn man die Diskussion über die Neuordnung der Approbations­ordnung verfolgt. Das Studium war jahrzehntelang klar geregelt und wurde von naturwissenschaftlichen Disziplinen bestimmt. Mit der Möglichkeit, neue Dienstleistungen in der Apotheke anzubieten, wie etwa Schutzimpfungen gegen Influenza und COVID-19, kommen medizinische Inhalte ins Spiel, welche langfristig auch das Pharmaziestudium ver­ändern werden.

Foto: Hans Hooss, Faust-Museum, Knittlingen

Alchemie-Labor im Faust-Museum Knittlingen. Der historische Faust ist eine Gestalt der frühen Neuzeit, in der die praktische Alchemie an Bedeutung gewann.

Magie als Lösung auf der Suche nach Erkenntnisgewinn

Der historische Faust (1480 – 1541), den Goethe in seinem Drama zum Hauptprotagonisten werden lässt, ist keine Gestalt des Mittelalters, sondern der frühen Neuzeit. Diese begann im späten 15. Jahrhundert und ging mit einer Vielzahl von neuen Erkenntnissen einher, die auf die Medizin und Naturkunde Einfluss hatten. Die sich verändernde wissenschaftliche Welt erklärt die Unruhe, welche Faust zu Beginn des Dramas erfasst. Die Unzufriedenheit mit den universitären Wissenschaften versucht er zu überwinden, indem er sich der Magie zuwendet. Diese ist, als „magia naturalis“, zunächst kein negativer Begriff, sondern eine Form der Naturkunde. Faust beginnt zunächst damit, „Anschauungs-Magie“ zu betreiben. Dazu betrachtet er das Zeichen des Makrokosmos, was ihn in seiner Ungeduld auch nicht weiterbringt und ihn schnell langweilt. Daher möchte er, in einer zweiten Stufe, die Elementargeister beschwören, um sich diese zu unterwerfen. Nach dem damaligen, seit der Antike gültigen, Weltbild gab es vier Elemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Man glaubte, dass in jeder der genannten Einheiten ein sogenannter „Elementargeist“ wohne. Faust ruft daher zunächst den Erdgeist an, den er für seine Zwecke instrumentalisieren möchte. Es erscheint zwar eine Gestalt, doch Faust hat sich zu weit vorgewagt. Nicht etwa der einfache Geist, welcher dem Element „Erde“ zugeordnet ist, steht vor ihm, sondern der allmächtige „Schöpfergeist“, der für Faust ein paar Nummern zu groß ist. Dessen Ausruf: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir“ lässt den Gelehrten erneut in eine tiefe Depression stürzen. Auf diese Weise scheitert Faust erneut, die Welt mithilfe der „magia naturalis“ besser zu verstehen. Somit ist der Weg bereitet, um mit dem Teufel in Gestalt von Mephisto einen Pakt zu schließen. Dieser dient ihm auf Erden und verspricht dem Intellektuellen in atemberaubendem Tempo die Genüsse dieser Welt zu ­zeigen. Dafür muss Faust auch nach seinem Tod bereit sein, ­Mephisto in der jenseitigen Welt ebenfalls zu dienen.

Faust-Museum Knittlingen

Das Faust-Museum in Knittlingen befindet sich am historischen Geburtsort von Doktor Johann Faustus (1480 – 1541). Es präsentiert den Gelehrten und Schwarzkünstler in seinem historisch-wissenschaftlichen Umfeld, ohne dessen Kenntnis auch Goethes Faust nicht zu verstehen ist. Das Faust-Museum ist geöffnet von Dienstag bis Freitag von 9.30 bis 12 Uhr und von 13.30 bis 17 Uhr, am Wochenende (Samstag/Sonntag) und Feiertagen von 12 bis 18 Uhr. Weitere Informationen sind zu finden unter www.faustmuseum.de

Verjüngung in der Hexenküche

Nach diesem wiederholten Scheitern landet der „Zauberlehrling“ Faust bei der „schwarzen Magie“. Mephisto führt ihn in die Hexenküche. Dort wird ihm ein Trank verabreicht, mit dem er „Helenen in jedem Weibe“ sieht. Darunter versteht man unter pharmazeutischen Gesichtspunkten ein Arzneimittel mit aphrodisierender Wirkung. Das in der Hexen­küche verabreichte Gebräu gibt Faust nicht nur seine Manneskraft zurück, sondern entfacht sofort seine sexuelle Begierde beim Anblick eines weiblichen Gegenübers. Genau das geschieht dann in der sich an die Szene „Hexenküche“ anschließende Szene, als Faust auf der Straße ein junges „Fräulein“ namens Margarete („Gretchen“) erblickt, die gerade aus der Kirche von der Beichte kommt. Mit dieser Begegnung nimmt das Unglück seinen Lauf, denn aus der entfachten sexuellen Leidenschaft entsteht neues Leben. Eine ungewollte Schwangerschaft hatte für ein unverheiratetes Mädchen in der Zeit Goethes fatale gesellschaftliche Konsequenzen. In ihrer Verzweiflung wird Gretchen das neugeborene Kind töten. Der historische Hintergrund des „Faust“-Dramas ist der Fall der Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn (geb. 1759), die am 28. November 1783 in Weimar mit dem Schwert enthauptet wurde. Goethe setzt der Mörderin in Gestalt Gretchens ein literarisches Denkmal, in dem er aus der Täterin eine geläuterte Sünderin macht, die während ihrer Kerkerhaft durch Mephistos diabolische Fähigkeiten die Möglichkeit zur Flucht bekommt. Diesen Ausweg lehnt Gretchen ab, sodass sie zwar der Hinrichtung nicht entkommen kann, ihre Seele jedoch aber durch ihre Bußfertigkeit und die damit verbundene Reue gerettet wird.

Foto: Hans Hooss, Faust-Museum, Knittlingen

Bereits in seiner Kindheit kam Goethe mit dem Puppenspiel „Dr. Faustus“ in Berührung, das ihn faszinierte.

Menschwerdung des Homunculus

Das Ende dieses Gretchen-Dramas ist jedoch nicht das Ende des gesamten Dramas. Das Schicksal des nie zur Ruhe kommenden Faust findet im zweiten Teil seine Fortsetzung. Darin gibt es zweifellos nicht so viel „sex and crime“ wie im ersten Teil. Die dort auftauchenden naturwissenschaftlichen Themen sind aber auch für Pharmazeuten sehr spannend, wie die Menschwerdung des „Homunculus“. Famulus Wagner taucht in beiden Teilen des Dramas auf. Er ist derjenige Gelehrte, der – im Gegensatz zum Universalisten Faust – den eher handwerklich vorgehenden Wissenschaftler verkörpert, welcher sich strukturiert von Seite zu Seite durch die Pergamente arbeitet. Im Faust II gelingt es Wagner, einen „künstlichen Menschen“ zu erschaffen. Diese Vorstellung ist ebenfalls eine Vision frühneuzeitlicher Alchemisten. Umso überraschender ist die Tatsache, dass das „Homunculus-Projekt“ gelingt. Das „In-vitro-Geschöpf“ befindet sich in einer Phiole, sprich einem Reagenzglas, das leuchtend durch den Raum schwebt. Homunculus ist aber keineswegs ein Embryo, sondern er spricht mit dem Famulus Wagner. Er äußert, dass sein Ziel darin bestehe, „die Welt zu durchwandern“, während er fast schon frech Wagner nur in dessen häuslichem Umfeld verortet: „Du bleibst zu Hause, Wichtigstes zu tun. Entfalte du die alten Pergamente, nach Vorschrift sammle Lebenselemente und füge sie mit Vorsicht eins ans andere.“ Diese Worte verweisen auf die antike Elementenlehre, worunter man die Bereiche Feuer, Wasser, Luft und Erde verstand. Innerhalb dieser Elemente stehen sich das heiß-trockene Feuer als männliches Prinzip und das für die Weiblichkeit stehende feucht-kalte Wasser als besondere Pole gegenüber. Der Homunculus verfügt in seiner leuchtenden Phiole über das feurige Element. Um jedoch endgültig Mensch zu werden, bedarf es der Vereinigung zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip. Daher sucht Homunculus das wässrige Element, um seine „Phiolenhülle“ endgültig abzustreifen. Diese Menschwerdung geschieht im Faust II in der Szene „Klassische Walpurgisnacht.“ Dazu besteigt der Homunculus einen Delphin, der ihn ins offene Meer trägt. Dort zerschellt er am Muschelwagen der Meeresgöttin Galatea. Diese Vereinigung von Wasser und Feuer in Form einer Elementen-Hochzeit, die zu einer Art Meeresleuchten führt, ist die Verkörperung des Eros in der Ver­bindung des männlichen und weiblichen Prinzips. Genau dieses Thema ist es, was Goethe zeit seines Lebens bewegt hat, sodass er seinen Faust II mit folgenden Versen beschließt:

„Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird‘s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.“ |

 

Literaturtipp

Johann Wolfgang Goethe
Faust
Der Tragödie Erster und Zweiter Teil
Reclams Universal-Bibliothek, 14048
356 S., 104 × 148 mm
Kartoniert
ISBN 978-3-15-014048-2
Reclam, Ditzingen 2020

Einfach und schnell bestellen
Deutscher Apotheker Verlag, 
Postfach 10 10 61, 70009 Stuttgart
Tel. 0711 25 82 341, Fax: 0711 25 82 290
E-Mail: service@deutscher-apotheker-verlag.de
oder unter www.deutscher-apotheker-verlag.de

Autor

Dr. Dr. Thomas Richter, Apotheker und Germanist. Er betreibt mit seiner Frau drei Apotheken in der Stadt und im Landkreis Würzburg.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.