Einfach erklärt

Es ist „kompliziert“

Komplexe Sachverhalte einfach erklärt – Folge 13: Gendermedizin

„Frauen haben keine Gleichbehandlung verdient!“ kann man in übergroßer Schriftgröße auf der Website der Barmer lesen. Wer nun sexistische Motive wittert, braucht sich nicht weiter aufzuregen, denn bereits im nächsten Satz finden wir die Begründung für diese buchstäbliche Schlagzeile: „Deshalb setzen wir uns für eine geschlechtersensible Medizin ein“. Die Debatte zum Thema „Geschlechter“ erhitzt – zumindest in den sozialen Medien – die Gemüter ähnlich, wie das Thema Corona-Impfung samt zugehörigen Maßnahmen. Wann Gleichbehandlung gut ist und wann ungünstig bis fatal, ist wie jede große Frage eine, auf die es keine Antwort gibt, sondern nur Gegenfragen. Im Apothekenalltag sollten wir uns gerade deshalb mit ihnen aus­einandersetzen. | Von Christine Gitter

Es ist „kompliziert“

Das Wissen um geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin kann Leben, oder zumindest die Gesundheit, retten. Dabei steht längst nicht nur das biologische Geschlecht (sex) im Vordergrund, sondern tatsächlich muss dabei auch das soziale Geschlecht (gender) Berücksichtigung finden. Das schienen die Menschen schon in den 1980er-Jahren zu ahnen. Zumindest Herbert Grönemeyer, denn der Text zu seinem Hit „Männer“ liest sich wie eine Art Inhaltsangabe zum Thema Gendermedizin.

Grönemeyer besingt zum Beispiel biologische Unterschiede, die sich in einer veränderten Pharmakokinetik wider­spiegeln können („Männer haben Muskeln“) und die un­terschiedliche Häufigkeit von Erkrankungen („Männer kriegen ’nen Herzinfarkt“). Er wirft aber auch einen Blick auf die sozialpsychologischen Unterschiede, wie etwa die höhere Risikobereitschaft, denn: „Männer sind einsame Streiter, müssen durch jede Wand, müssen immer weiter.“ Das soziale Geschlecht ist oft mit gesellschaftlichen Normen und geschlechtstypischen Lebensstilen assoziiert. Und auch heute noch lernen die meisten Menschen bereits als Kind, welche Verhaltensweisen „typisch“ für Männer oder Frauen sind.


Bei bestimmten Erkrankungen kann eine solch stereotypische Sicht der Dinge natürlich bedrohlich werden. „Männer haben’s schwer, nehmen’s leicht, außen hart und innen ganz weich. Werd’n als Kind schon auf Mann geeicht ...“ und vermeiden deshalb, vermeintliche Schwächen, wie eine depressive Verstimmung oder gar eine manifeste Depression, zu zeigen. Eine wahrscheinliche Folge: Männer sterben dreimal häufiger durch Suizide als Frauen.

Hat all das irgendeinen praktischen Bezug zu unserem Apothekenalltag? Sollen wir neben der Beratung zur Anwendung von Arzneimitteln, zu potenziellen Neben- und Wechselwirkungen nun auch noch auf das Geschlecht unseres Gegenübers eingehen? Es kommt drauf an. In der Tat leiden Frauen beispielsweise häufiger an Nebenwirkungen als Männer. Das kann zwar eine wichtige Information für uns sein, doch darauf explizit im Beratungsgespräch einzugehen, könnte unter Umständen den Noceboeffekt fördern. Darauf wies bereits die Neurologin und Placebo-Forscherin Prof. Ulrike Bingel in unsere Podcastfolge „Nocebo: Nebenwirkungen aus der körpereigenen Apotheke“ hin.

Wo könnte uns und unseren Kundinnen und Kunden das Wissen um genderspezifische Unterschiede also helfen? Beispielsweise bei der Frage, wie notwendig ein Medikationsplan ist, der den Patientinnen und Patienten ausgehändigt wird. Nachweislich sinnvoll ist er für alle Frauen im gebärfähigen Alter. Laut dem Barmer Arzneimittelreport von 2021 bekamen etwa acht Prozent dieser Frauen potenziell teratogene Wirkstoffe verordnet. Zudem wurden die verschriebenen Arzneimittel eindeutig zu selten von den verordnenden Ärztinnen und Ärzten auf potenzielle Risiken im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft gecheckt. Hier böte ein Medikationsplan generell eine gute Möglichkeit, die Medikation im Überblick zu behalten.

Darüber hinaus sollte es in Fachkreisen inzwischen bekannt sein, dass Herzinfarkte bei Frauen oft eine andere Symptomatik zeigen als bei Männern. Einer Kundin bei plötzlich eingetretener Übelkeit und Erbrechen einen dringenden Arztbesuch anzuraten, statt die Erlösung in der Gabe von Antihistaminika zu erhoffen, könnte dann unter Umständen Leben retten.

Das soziale Geschlecht ist entscheidend


Männlich, weiblich, divers: Diese Unterscheidung ist in Stellenausschreibungen inzwischen üblich, aber nur selten bei der Wahl der Dosierung von Arzneimitteln. Dabei unterscheiden sich die Hormonhaushalte sowie die Immun- und Stoffwechselsysteme zwischen Frauen und Männern stark. Einen noch größeren Einfluss auf die Gesundheit als das biologische Geschlecht hat Studien zufolge das soziale Geschlecht, erklärt Prof. Gertraud Stadler in Folge 6 des DAZ-Podcasts „Einfach erklärt – Auf die Ohren“. Die Gesundheitspsychologin vertritt die Professur für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité Universitätsmedizin Berlin und ist Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin. Ihr Wissen nutzt sie, um Präventionsmaßnahmen zu optimieren, indem sie Frauen und Männer unterschiedlich anspricht – etwa bei der Herzgesundheit oder der Aufklärung um die Schäden des Tabakkonsums. Obwohl die biologischen und sozialen Unterschiede zwischen Frauen und Männern belegt sind, werden im Rahmen der Pharmakovigilanz Nebenwirkungen heute nicht geschlechterspezifisch erfasst. Zugelassenen Dosierungen liegen in der Regel größtenteils Daten von Männern zugrunde. Selbst neue Wirkstoffe werden in der Regel zunächst an männlichen Versuchstieren untersucht und nachfolgend an jungen Männern getestet.


Alle Podcast-Folgen finden Sie auf DAZ.online, wenn Sie in das Suchfeld den Webcode M6NL3 eingeben oder dem nebenstehenden QR-Code folgen.

Patienten fragen – wir antworten

Was ist eigentlich geschlechtsspezifische oder geschlechtersensible Medizin?
Geschlechterspezifische Medizin – oder auch Gendermedizin – befasst sich mit den Unterschieden der Krankheitsent­stehung, der Diagnose und der Behandlung zwischen den Geschlechtern. Dabei wird nicht nur das biologische Geschlecht berücksichtigt, sondern auch das soziale Geschlecht, denn die individuelle Gesundheit hängt auch von geschlechtstypischen Verhaltensweisen ab. An Lungenkrebs etwa erkrankten bis vor kurzem Männer häufiger als Frauen, weil Männer auch viel öfter rauchten als Frauen. Außerdem nehmen viel mehr Frauen Vorsorgeuntersuchen wahr als Männer das tun.

Im Moment werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin noch zu wenig einbezogen. Deshalb soll in Zukunft die Gendermedizin in den Lehrplänen für Ärztinnen und Ärzte verankert werden.


Wirken Arzneimittel bei Frauen anders als bei Männern?
Frauen sind nicht einfach nur kleinere, leichtere Männer – genauso wenig, wie Kinder keine kleinen Erwachsenen darstellen. Diese wichtige Erkenntnis hat sich inzwischen glücklicherweise durchgesetzt. Dennoch beruhen Arzneimittelstudien (gerade bei älteren Wirkstoffen) zu einem Großteil auf Daten von männlichen Probanden, da Frauen lange Zeit bei solchen Studien ausgeschlossen waren, was unter anderem den Contergan-Skandal auslöste. Frauen und Männer unterscheiden sich jedoch, und das nicht nur hinsichtlich ihrer Geschlechtsorgane und ihres Hormonstoffwechsels. Es gibt auch Unterschiede in der Aktivität der Leberenzyme, die für den Abbau und die Umwandlung von Wirkstoffen zuständig sind. Männer bauen Wirk- und Giftstoffe meist schneller ab als Frauen, und durch die ebenfalls stärkere Durchblutung der männlichen Nieren scheiden sie die Stoffe oft auch schneller aus. Frauen leiden häufiger unter Nebenwirkungen. Deshalb brauchen Männer und Frauen manchmal unterschiedliche Dosierungen bei gleichen Wirkstoffen.

Haben Männer andere Symptome und Krankheiten als Frauen?
Bei bestimmten Erkrankungen ist das tatsächlich der Fall. So erhöht die weibliche Anatomie etwa das Risiko für eine Blasenentzündung, denn die weibliche Harnröhre ist mit einer Länge von ca. vier Zentimetern viel kürzer als die männliche (20 – 25 cm). Deshalb gelangen Bakterien bei Frauen viel leichter in die Blase. Allerdings können die Beschwerden, wie Brennen beim Wasserlassen und häufiger Harndrang, meist selbst mit Schmerzmitteln und pflanz­lichen Präparaten behandelt werden.

Anders sieht es bei Männern aus: Bei ihnen ist eine Blasenentzündung selten. Bei Symptomen sollten sie grundsätzlich einen Arzt aufsuchen. Häufig gesellt sich bei ihnen zur Blasenentzündung außerdem eine Prostataentzündung dazu.


Inwiefern äußert sich ein Herzinfarkt bei Frauen anders?
Das Wissen um die unterschiedlichen Symptome eines Herzinfarkts bei Männern und Frauen kann Leben retten! Herzinfarkte galten lange als typische Männerkrankheit. Statistisch betrachtet, erleiden Männer tatsächlich häufiger einen Herzinfarkt als Frauen, allerdings sterben Frauen häufiger daran! Frauen haben oft andere Symptome als Männer, und ein Herzinfarkt wird bei ihnen zu oft nicht als solcher erkannt. Deshalb ist es nicht nur wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte sich mehr mit geschlechtsabhängigen Beschwerden von Erkrankungen befassen, auch Sie selbst sollten sie kennen.

Typische Herzinfarktsymptome bei Männern:

  • Heftige Brustschmerzen mit einer Dauer von mehr als fünf Minuten,
  • in die Arme oder den Oberbauch ausstrahlende Schmerzen und/oder Schmerzen zwischen den Schulterblättern,
  • Engegefühl in der Brust.

Typische Herzinfarktsymptome bei Frauen:
Gerade bei älteren Frauen sind die Symptome oft weniger deutlich. Vor allem der typische Brustschmerz ist seltener und schwächer ausgeprägt. Dafür sollten Frauen auch auf folgende Symptome achten:

Druck- oder Engegefühl in der Brust, oft mit Kurz­atmigkeit,

Schweißausbrüche, Übelkeit, Erbrechen,

Schmerzen im Oberbauch,

plötzliche, unerklärliche und starke Müdigkeit. |

Komplexe Sachverhalte aus dem Apothekenalltag einfach erklärt …


… das ist die Idee hinter dieser Serie! Denn wie alle Experten sind auch wir Apothekerinnen und Apotheker chronisch gefährdet, einen zu hohen Wissensstand beim Gegenüber – unseren Kundinnen und Kunden – vorauszusetzen. Bei der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) sind einfache Erklärungen auf die Frage „Warum?“ oft förderlicher als detaillierte Ausführungen, die sich mit dem „Wie“ beschäftigen.

Deshalb finden Sie in dieser Serie regelmäßig ent­sprechend aufbereitete Informationen, die Sie an Ihre Kundinnen und Kunden weitergeben können – wir übernehmen sozusagen die Übersetzungsarbeit aus dem Pharmazeutischen.

Bei der Themenauswahl haben wir uns an der Häufigkeit im Apothekenalltag und am praktischen Nutzen für die AMTS orientiert.


Alle bisher erschienenen Folgen finden Sie auf DAZ.online, wenn Sie in das Suchfeld den Webcode J9VU5 eingeben oder dem nebenstehenden QR-Code folgen.

Autorin


Christine Gitter, Apothekerin, sammelte über zwanzig Jahre Erfahrung in der Offizin, davon 16 Jahre als Inhaberin. Die Buchautorin engagiert sich in unterschiedlichen Projekten zur Förderung der AMTS.

www.christine-gitter.de

autor@deutsche-apotheker-zeitung.de

Illustratorin


Nadine Roßa ist Designerin, Illustra­torin und „Spiegel“-Bestseller-Autorin für diverse Sketch­notes-Bücher. Sie gibt Workshops und Vorträge rund um das Thema Visualisierung und begleitet Veranstaltungen durch Graphic Recordings (Visuelle Protokolle).

www.sketchnote-love.com

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