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Beratung

Beweglich bleiben

Gebrechlichkeit im Alter muss nicht sein

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko für gesundheitliche Einschränkungen. So leiden viele ältere Menschen unter einer verminderten Mobilität, erhöhter Morbidität und zunehmender Gebrechlichkeit. In Folge dessen kommt es zu vermehrten Stürzen, Krankenhausaufenthalten und Pflegebedürftigkeit. Doch was kann man dagegen tun? Kann man der ­Gebrechlichkeit im Alter vorbeugen? | Von Martina Wegener 

Derzeit gibt es keine einheitliche Definition für den Begriff „Gebrechlichkeit“ – häufig wird er mit der englischen ­Bezeichnung „Frailty“ gleichgesetzt. Unter Frailty versteht man ein multidimensionales geriatrisches Syndrom, welches durch den Verlust individueller Reserven und erhöhter ­Vulnerabilität gegenüber endogenen und exogenen Stressfaktoren gekennzeichnet ist [1, 2, 3]. Dabei ist das Krankheitsbild mit einem erhöhten Risiko für Erkrankungen, ­Behinderungen und Stürze verbunden. Die Lebensqualität der Betroffenen ist deutlich eingeschränkt – im weiteren Verlauf kommt es zu vermehrten Krankenhausaufenthalten bis hin zum Verlust der eigenständigen Lebensführung. Frailty ist ebenfalls mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert [1, 2, 4, 5].

Viele Einflussfaktoren

Es gibt zahlreiche Faktoren, die das Beschwerdebild ­begünstigen können. Hierzu zählen neben dem Alter und den damit verbundenen Einschränkungen der Organfunktionen folgende [6, 7]:

  • Sarkopenie (Abnahme von Muskelmasse und Muskelkraft)
  • chronische Erkrankungen (z. B. Diabetes)
  • akute Erkrankungen (z. B. Infektionen)
  • Multimorbidität
  • Polypharmazie
  • schlechter Ernährungszustand
  • Bewegungsmangel
  • kognitive und psychische Beeinträchtigungen
  • soziale Faktoren

Rechtzeitig erkennen

Eine Frailty entwickelt sich nicht von einem Tag auf den ­anderen, sondern über einen längeren Zeitraum. Dabei wird der weitere Verlauf maßgeblich durch individuelle akute und chronische Komorbiditäten beeinflusst.

Wichtig ist, dass die Patienten, die eine Frailty bzw. die Vorstufe, die sogenannte Pre-Frailty aufweisen, rechtzeitig identifiziert werden. Hier ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit essenziell. Sowohl Ärzte, Apotheker, Pflegepersonal als auch die Angehörigen sollten frühzeitig auf mögliche Anzeichen wie Erschöpfung, verlangsamte Gehgeschwindigkeit oder ungewollter Gewichtsverlust achten. Dadurch könnte schneller interveniert werden und mögliche Folgen des Syndroms reduziert werden. Durch eine frühzeitige Diagnostik könnte die Lebensqualität der Patienten verbessert und eine eventuelle Pflegebedürftigkeit oder die Einweisung in ein Pflegeheim vermieden bzw. hinausgezögert werden.

Auch im klinischen Setting ist die Erfassung der Frailty von relevanter Bedeutung – so können Patienten erkannt ­werden, bei denen die Behandlungen möglicherweise mit einem ­erhöhten Risiko für einen ungünstigen Verlauf assoziiert sind [2].

Messinstrumente zur Diagnostik

Zur Objektivierung des Ausmaßes an Gebrechlichkeit ­stehen verschiedene Messinstrumente zur Verfügung. Sie variieren stark – so setzen einige Instrumente den Fokus auf die ­körperlichen Funktionen, andere wiederum berücksichtigen auch kognitive, psychische und soziale Komponenten.
 

Phänotyp nach Fried

Das älteste und am häufigsten verwendete Messinstrument ist der Phänotyp nach Fried (Physical Phenotype of Frailty). Für die Entwicklung wurden die Daten der Cardiovascular Health Study herangezogen und Frailty als Folge einer ­Dysregulation verschiedener physiologischer Regelkreise angesehen.

Die Bewertung erfolgt nach fünf Kriterien:

  • unbeabsichtigter Gewichtsverlust > 4,5 kg/Jahr
  • subjektive Erschöpfung (mental, emotional, physisch)
  • objektivierbare Muskelschwäche (z. B. Abnahme der Handkraft)
  • verlangsamte Gehgeschwindigkeit
  • niedriger physischer Aktivitätslevel (Alltagsaktivitäten)

Nach der Erfassung und Auswertung erfolgt die Einteilung nach robust, pre-frail oder frail. Wenn ein bis zwei Kriterien erfüllt sind, liegt die Vorstufe Pre-Frailty vor; bei mindestens drei Kriterien eine Frailty [2, 8, 9].

Frailty-Index

Ein sehr umfangreiches und zeitintensives Messinstrument ist der von Rockwood und Mitnitski entwickelte Frailty-­Index. Er basiert auf der Akkumulation von 70 möglichen Defiziten bzw. krankheitsbedingten Beschwerden. Es werden nicht nur körperliche, sondern auch kognitive, soziale und psychische Einschränkungen berücksichtigt und in einem Score zusammengefasst [2, 10].

FRAIL-Scale

Da die Erfassung des Frailty-Index nach Rockwood in der Praxis schwer umsetzbar ist, wurde zur Vereinfachung die FRAIL-Scale entwickelt, um die klinische Akzeptanz zu ­erhöhen. Hierbei handelt es sich um einen Fragebogen der auf Selbst- und Fremdeinschätzung basiert und fünf Items abfragt:

  • Fatigue (Müdigkeit): Fühlen Sie sich meistens müde?
  • Resistance (Muskelkraft): Können Sie ein Stockwerk Treppen steigen?
  • Ambulation (Gehfähigkeit): Können Sie 100 Meter gehen?
  • Illness (Krankheiten): Leiden Sie an mehr als fünf Erkrankungen?
  • Loss of Weight (Gewichtsverlust): Haben Sie in den letzten sechs Monaten ungewollt mehr als 5 kg an Gewicht ver­loren?

Auch hier erfolgt ähnlich wie bei den Kriterien nach Fried die Einteilung nach robust, pre-frail und frail. Da die Erfassung sehr einfach und schnell durchführbar ist, hat sich die FRAIL-Scale mittlerweile im klinischen Alltag etabliert [2, 11, 12].

Clinical-Frailty-Scale

Ein weiteres in klinischen Settings etabliertes Screeninginstrument ist die Clinical-Frailty-Scale. Es handelt sich um eine neunteilige Skala, die neben den körperlichen und ­kognitiven Einschränkungen auch die Lebenserwartung miteinbezieht. Die Patienten werden auf einer Skala von 1 (sehr fit) bis 9 (terminal erkrankt) eingeteilt [2, 13].

Prävalenz variiert stark

Eine genaue Angabe, wie viele ältere Patienten in Deutschland an Frailty bzw. Pre-Frailty leiden, ist schwierig abzuschätzen – so schwanken die Prävalenzzahlen je nach durchgeführter Studie. In der vom Robert Koch-Institut durchgeführten Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) wurde die physische Gebrechlichkeit analog der Fried-Kriterien erfasst – zu den analysierten Kriterien ­gehörten Erschöpfung, geringe Muskelkraft, langsame Gehgeschwindigkeit, geringe körperliche Aktivität und unfreiwilliger Gewichtsverlust innerhalb der letzten zwölf Monate. Erfüllten die Studienteilnehmer ≥ drei Kriterien wurden sie als frail eingestuft; lagen ein bis zwei Kriterien vor, erfolgte die Einstufung als pre-frail. In der Studie waren insgesamt 2,8% der 65- bis 79-jährigen Frauen und 2,3% der gleichaltrigen Männer körperlich gebrechlich (frail). Die Prävalenz der Pre-Frailty war deutlich höher und lag insgesamt bei 38,8%. In der Studie zeigte sich kein signifikanter ­Geschlechtsunterschied [1].

Zur weiteren Einschätzung der Prävalenz können noch drei weitere Studien herangezogen werden. In der ESTHER-­Studie (epidemiologische Studie zu Chancen der Verhütung, Früherkennung und optimierten Therapie chronischer ­Erkrankungen in der älteren Bevölkerung) lag die Frailty-Prävalenz für Frauen bei 9% und für Männer bei 10% [14]. In der KORA-AGE-Studie (Kooperative Gesundheitsforschung in der Region Augsburg) waren 5,1% der Frauen und 4,6% der Männer von Frailty betroffen; die Prävalenz der Pre-Frailty lag hier ebenfalls bei knapp 40% (37% der Frauen; 39% der Männer) [15]. In der LUCAS-Studie (Longitudinale Urbane Cohorten-Alters-Studie) wurde eine Frailty-Prävalenz von 16% ermittelt und eine Pre-Frailty-Prävalenz von 10% [16].

Frühzeitig intervenieren

Prävention ist immer besser als Therapie – daher sollten die möglichen Behandlungsoptionen frühzeitig zum Einsatz kommen. Dabei basieren die Interventionsmöglichkeiten auf den vier Säulen: Ernährung, körperliche Aktivität, Behandlung der Komorbiditäten und soziale Kontakte [6, 17]. Die höchste Evidenz besteht derzeit für eine proteinreiche ­Ernährung und körperliches Training [2].

Ein sehr ernst zunehmendes Problem der älteren Bevölkerung ist der Zustand der Mangelernährung – ein Haupt­faktor in der Entwicklung einer Frailty. Dabei kommt es im Alter sehr schnell zu einem Circulus vitiosus. Das Durst– und Hungergefühl ist herabgesetzt, es kommt mit zunehmender Gebrechlichkeit zu Schwierigkeiten beim Einkaufen, der Nahrungszubereitung und -aufnahme. Oft kann eine ausreichende Versorgung mit allen Nährstoffen nicht mehr gewährleistet werden und es droht eine Mangelernährung. Daher ist es wichtig, rechtzeitig Anzeichen einer Mangel­ernährung zu erkennen. Hierzu stehen verschiedene Screening­instrumente zur Verfügung. Am häufigsten wird der von der European Society for Clinical Nutrition and ­Metabolism (ESPEN) empfohlene Fragebogen Mini Nutri­tional Assessment (MNA) eingesetzt [7, 18 – 21].

Dabei stellt die Ernährungstherapie den Grundpfeiler des Behandlungskonzepts dar. Hier sollte besonderes Augenmerk auf eine ausreichende Proteinzufuhr gelegt werden. Gerade im Alter kann der Körper trotz erhöhtem Bedarf das Eiweiß schlechter verwerten. Für gesunde Erwachsene im Alter ab 19 bis unter 65 Jahren empfiehlt die Deutsche ­Gesellschaft für Ernährung (DGE) eine tägliche Protein­zufuhr von 0,8 g/kg Körpergewicht. Im Jahr 2017 wurden die Referenzwerte für Protein von der DGE aktualisiert – erstmals wird für Erwachsene ab 65 Jahren ein Schätzwert von 1,0 g/kg Körpergewicht pro Tag angegeben. Daher sollten insbesondere ältere Menschen auf eine eiweißreiche Kost achten. Kann eine adäquate Zufuhr nicht gewährleistet ­werden, kann der Einsatz eiweißreicher Trinknahrung (z. B. Fresubin Protein Energy Drink®) in Erwägung gezogen ­werden. Auch bei unzureichender Nahrungsaufnahme ­empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) generell den Einsatz von Trinknahrung.

Wenn die orale Nahrungsaufnahme nicht mehr möglich oder ungenügend ist, sollte bei positiver Prognose die Ernährung über eine Sonde erfolgen [18, 22, 23].

Mediterrane Ernährung von Vorteil

Einer aktuellen Metaanalyse zufolge, kann eine mediterrane Ernährung das Risiko von Frailty im Alter reduzieren. In die Analyse wurden vier Studien mit knapp 6000 Teilnehmern im Alter von 60 bis 82 Jahren ausgewertet. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass ältere Erwachsene aus der ­Toskana, die sich an dem mediterranen Ernährungsstil ­orientierten, nach sechs Jahren ein um bis zu 70% reduziertes Risiko für Frailty aufwiesen. In einer spanischen Studie zeigte sich unter mediterraner Ernährung ein um bis zu 47% verringertes Risiko für ungewollten Gewichtsverlust [24].

Auch in einer Studie an älteren weiblichen Personen mit Typ-2-Diabetes konnte die mediterrane Ernährungsweise überzeugen. Hier konnte das Risiko für Gebrechlichkeit im Alter um bis zu 28% gesenkt werden [25]. Um eine abschließende Empfehlung geben zu können, müssen hingegen ­weitere klinische Studien erfolgen.

Körperlich aktiv bleiben oder werden

Eine weitere Interventionsmöglichkeit beinhaltet das körperliche Training. Im Rahmen des natürlichen Alterungsprozesses kommt es zum Verlust an Muskelmasse und Muskelkraft. Dem kann jedoch durch gezieltes ­Muskeltraining entgegengewirkt werden. Sofern keine Kontraindikationen vorliegen, sollten Ältere zu körper­licher Aktivität ermutigt werden. Am effektivsten scheint das Muskelschnellkrafttraining in Kombination mit Gleichgewichtstraining zu sein. Das Training sollte jedoch unter fachgerechter Anleitung und Begleitung erfolgen. Darüber hinaus sollte auch auf eine ausreichende Bewegung im Alltag geachtet werden, z. B. regelmäßige ­Spaziergänge an der frischen Luft. Je nach Präferenz kann auch ein Hometrainer zum Einsatz kommen, um den ­Bewegungsmangel auszugleichen. Hier sollten die individuellen Wünsche und Möglichkeiten der Betroffenen ­berücksichtigt werden [2, 17].

Vitamine substituieren?

Wichtig ist eine ausreichende Zufuhr an Mikronährstoffen. Aus Studien ist bekannt, dass die Inzidenz von Frailty mit zunehmender Anzahl an mangelnden Nährstoffen steigt [19]. Im Fokus steht besonders ein Mangel an Vitamin D, der mit einem erhöhten Risiko für Stürze und Frakturen assoziiert ist [17]. Die DGE gibt für Erwachsene ab 65 Jahren bei fehlender endogener Synthese einen Schätzwert für eine Vitamin-D-Zufuhr von 20 µg/Tag (800 IE/Tag) an. Über die Nahrung kann der Bedarf allein nicht gedeckt werden, die Zufuhr muss zusätzlich entweder durch ausreichende UV-B-Lichtexposition oder durch Vitamin-D-­Supplemente gedeckt werden. Gerade ältere Patienten, die sich weniger der Sonnen­strahlen aussetzen, weisen einen Mangel auf. Bei ihnen sollte in Abhängigkeit des Vitamin-D-Status eine Substitution in Erwägung gezogen werden, genaue Dosis­angaben gibt es derzeit nicht [26]. Die tolerierbare Tageshöchstmenge (UL) für Vitamin D liegt nach der European Food Safety Authority (EFSA) für Erwachsene bei 100 µg/Tag [27].

Im Rahmen einer aktuellen Studie der Forschungsinitiative FRAILOMIC konnte gezeigt werden, dass die Probanden mit Frailty-Syndrom versus ohne Frailty-Syndrom deutlich ­weniger Vitamin D, Vitamin E und Carotinoide im Blut aufwiesen, dagegen zeigten sich erhöhte Werte an oxidierten Proteinen. Ein Mangel an diesen Vitaminen könnte eine Rolle bei der Entstehung der Gebrechlichkeit im Alter spielen – weitere Untersuchungen sind erforderlich [28].

Komorbiditäten behandeln

Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt in der Prävention und Therapie der Gebrechlichkeit im Alter ist die Behandlung der Komorbiditäten. Sowohl akute als auch chronische ­Erkrankungen sollten optimal therapiert bzw. eingestellt werden. In dem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung die Anpassung der Medikation an das Alter der Patienten. Es ist bekannt, dass gerade ältere Patienten im Medikationsprozess gefährdet sind. Sowohl Polypharmazie, Multimorbidität, altersbedingte Veränderungen in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik als auch kognitive und funktionelle Einschränkungen begünstigen das Risiko für das Auftreten von arzneimittelbezogenen Problemen [29].

Verordnungen von PIM vermeiden

Hinzu kommt, dass für zahlreiche Arzneistoffe die Evidenz für Nutzen und Risiken im Alter begrenzt ist. Dennoch gibt es trotz der schlechten Datenlage Listen, die als Hilfsmittel genutzt werden können, um für ältere Patienten eine ­angemessene Arzneimittelauswahl zu treffen. Es gibt ­bestimmte Arzneimittel, die aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils bei älteren Patienten potenziell inadäquat sind, da sie unter anderem das Risiko für Frailty, Stürze, Mortalität, ­Verschlechterung der Kognition und der Lebensqualität ­erhöhen. Diese Listen zur potenziell inadäquaten Medikation (PIM) haben das Ziel, die Arzneimitteltherapiesicherheit im Alter zu verbessern. Für den deutschsprachigen Raum steht die sogenannte Priscus-Liste zur Verfügung. Sie wurde 2010 veröffentlicht und listet 83 Arzneistoffe auf, die als PIM ­eingestuft sind. Derzeit wird sie an den aktuellen Stand der Forschung angepasst und überarbeitet (Priscus 2.0). Weitere Listen sind die EU(7)-PIM-List, die amerikanische Beers-Liste und die FORTA-Liste [29, 30, 31].

Besondere Gefährdung für Heimbewohner

Doch wie sieht die Realität aus? Trotz der zur Verfügung ­stehenden Instrumente zur Identifizierung von potenziell inadäquaten Medikamenten, bekommen laut Studien noch immer ca. 25% der älteren Patienten zu Hause und knapp die Hälfte der Bewohner in Pflegeheimen regelmäßig ein PIM verordnet [32, 33]. In einer kanadischen Kohortenstudie wurde das Verordnungsverhalten von PIM an über 40.000 älteren Patienten mit kognitiven Einschränkungen oder ­Demenz vor bzw. bis max. 180 Tage nach der Heimein­weisung in Relation zur Gebrechlichkeit ausgewertet. Die PIM wurden in vier Wirkstoffgruppen unterteilt: Anti­psychotika, H2-Rezeptor-Antagonisten, Benzodiazepine und ­Anticholinergika. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in das Pflege­heim erhielten 44% der Älteren ein potenziell inadäquates Arzneimittel. Nach der Einweisung gingen mit Ausnahme der Anticholinergika unabhängig vom Status der Gebrechlichkeit die Verordnungszahlen von potenziell inadäquaten Arzneistoffen zurück – gleichzeitig nahmen jedoch die ­Neuverordnungen an PIM bei den Heimbewohnern wieder zu und zwar in Abhängigkeit der Gebrechlichkeit [34, 35].

Verantwortungsvolles Absetzen

Die Bedeutung einer altersgerechten Arzneimitteltherapie ist groß. Insbesondere bei gebrechlichen Patienten ist Vorsicht geboten und pharmazeutische Expertise gefragt. Jede Medikation im Alter sollte hinterfragt werden – mit dem Ziel eine sichere und wirksame Therapie zu ermöglichen. Wenn eine potenziell inadäquate Medikation verordnet wurde und ein Absetzen möglich bzw. erforderlich ist, sollte behutsam vorgegangen werden. Hierzu gibt es verschiedene Hilfs­mittel, die im Rahmen des Deprescribing-Prozesses herangezogen werden können (z. B. Deprescribing-Guidelines, Medstopper) [36].

Soziale Aspekte im Fokus

Eine letzte wichtige Interventionsmöglichkeit ist die Vermeidung der sozialen Isolation [17]. Einsamkeit im Alter sollte unbedingt durch soziale Kontakte entgegengewirkt werden – gemeinsam Zeit zu verbringen stärkt sowohl das physische als auch das psychische Wohlbefinden. Gleichzeitig sollte älteren Menschen auch Unterstützung im Alltag wie Hilfe beim Einkaufen, bei der Essenszubereitung oder ­Begleitung bei Arztbesuchen ermöglicht werden. Hier ­könnte sich jeder mit einbringen. Wichtig in dem Zusammenhang ist auch, dass nicht nur Hilfe angeboten wird, ­sondern die Betroffenen auch dazu ermutigt werden, Hilfe anzunehmen.

Eine wichtige Rolle in der Prävention und Therapie der Frailty spielt die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Nur ­gemeinsam kann es gelingen, frühzeitig Patienten mit ­Anzeichen einer Frailty bzw. Pre-Frailty zu erkennen und eine effektive Versorgung zu gewährleisten. Für die ­Zukunft wäre es wünschenswert, dass sich hier einheit­liche Vorgehensweisen etablieren. |

Literaturtipp

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Literatur

[1] Faktenblatt zu DEGS1: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (2008 – 2011). Informationen des Robert Koch-Instituts (RKI), www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsF/degs1/gebrechlichkeit_frailty.pdf?__blob=publicationFile

[2] Benzinger P et al. Klinische Bedeutung der Erfassung von Frailty. Z Gerontol Geriatr 2021;54(3):285-296

[3] Hoogendijk EO et al. Frailty: implications for clinical practice and ­public health. Lancet 2019;394:1365-1375

[4] Morley JE et al. Frailty consensus: a call to action. J Am Med Dir ­Assoc 2013;14:392-397

[5] Cesari M et al. Frailty: an emerging public health priority. J Am Med Dir Assoc 2016;17:188-192

[6] Morley JE et al. Editorial: Something about frailty. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2002;57(11):M698-704

[7] Maetzler W et al. Neurogeriatrie: ICF-basierte Diagnose und Behandlung. 1. Auflage. Springer Verlag 2019

[8] Buta BJ et al. Frailty assessment instruments: systematic characterization of the uses and contexts of highly-cited instruments. Ageing Res Rev 2016;26:53-61

[9] Fried LP et al. Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001;56:M146-M157

[10] Rockwood K et al. Frailty in relation tot he accumulation of deficits. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2007;62:722-727

[11] Morley JE et al. A simple frailty questionnaire (FRAIL) predicts outcomes in middle aged African Americans. J Nutr Health Aging 2012;16:601-608

[12] Frailty. DocCheck Flexikon, https://flexikon.doccheck.com/de/Frailty, Abruf: 31. August 2022

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[18] Klinische Ernährung in der Geriatrie. S3-Leitlinie der Deutschen ­Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), AWMF-Register-Nr. 073/019, Stand: Mai 2013

[19] Bartali B et al. Low nutrient intake is an essential component of frailty in older persons. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2006;61:589-593

[20] Schütz T et al. Screening auf Mangelernährung nach den ESPEN-Leitlinien 2002. Aktuel Ernaehr Med 2005;30:99-103

[21] Mini Nutritional Assessment. DocCheck Flexikon, https://flexikon.doccheck.com/de/Mini_Nutritional_Assessment, Abruf: 3. September 2022

[22] Tieland M et al. Dietary protein intake in community-dwelling, frail, and institutionalized elderly people: scope for improvement. Eur J Nutr 2012;51:173-179

[23] Wie viel Protein brauchen wir? Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), Stand: 21. September 2017, www.dge.de/presse/pm/wie-viel-protein-brauchen-wir/

[24] Voelker R. The Mediterranean Diet‘s Fight Against Frailty. JAMA 2018;319:1971-1972

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[26] Vitamin D (Calciferole). Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), Stand: 2012, www.dge.de/wissenschaft/referenzwerte/vitamin-d/

[27] Vitamin D – der aktuelle D-A-CH-Referenzwert aus Sicht der Risikobewertung. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Stand: März 2013, www.bfr.bund.de/cm/343/vitamin-d-der-aktuelle-d-a-ch-referenzwert-aus-sicht-der-risikobewertung.pdf

[28] Kochlik B et al. Associations of fat-soluble micronutrients and redox biomarkers with frailty status in the FRAILOMIC initiative. Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle 2019;10:1339-1346

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Autorin

Apothekerin Dr. Martina Wegener, Pharmaziestudium an der Universität Bonn, Promotion an der Medizinischen Fakultät der Universität Halle (Saale), Tätigkeit in einer öffentlichen Apo­theke, Lehrtätigkeit an einer Kranken- und Altenpflegeschule, freie Autorin für die DAZ

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