Umweltschutz

Therapie für die Tonne

Wie bessere Entsorgungskonzepte Arzneimittelmüll reduzieren könnten

Geschätzt landen pro Bundesbürger jährlich 120 g Arzneimittel im Müll – auf Kosten von Wirtschaft und Umwelt. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) könnte ein einheitliches Entsorgungskonzept helfen, doch in Deutschland gehen Kommunen unterschiedlich mit pharmazeutischem Abfall um. An der Universität in Erlangen wird daran geforscht, wie Altarzneimittel genutzt werden können.
Foto: Parkin/AdobeStock

Rund 30.000 Tonnen Arzneimittel werden in Deutschland jährlich verkauft. Doch nicht jedes wird wie vorgesehen angewendet. Viele Mittel verenden als Altarzneimittel. Um welche Mengen es sich dabei genau handelt, ist unklar. Lediglich in Sachsen erfassten Mitarbeiter des Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, wie viele Altarzneimittel an­fielen. Im Jahr 2011 registrierten sie 37 Tonnen Altmedikamente im Müll, 2018 weit über 46 Tonnen [1]. Laut einer Meldung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg gehen Experten davon aus, dass pro Jahr und Einwohner 120 g Arzneimittel anfallen, die in die Tonne wandern [2]. Der Müll steht für eine ökonomische und ökologische Last, die unsere Gesellschaft schultert. Entsorgen Verbraucher Arzneimittel nicht korrekt, sondern etwa über den Abfluss oder die Toilette, landen die Wirkstoffe oder deren Abbauprodukte, die bei der Deaktivierung im Klärwerk anfallen können, im Wasserkreislauf. Insbesondere flüssige oder halbfeste Arznei­formen landen bei den Verbrauchern oft im Abfluss – und nicht im Restmüll oder Schadstoffmobil. Laut einer Untersuchung des Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) geben 43% der Deutschen an, gelegentlich oder häufig flüssige Arzneimittel über den Ausguss zu entsorgen [3].

„Fragen Sie in Ihrer Apotheke“

Viele Arzneistoffe können in der Umwelt Schaden anrichten. Ein Beispiel sind fluorierte Wirkstoffe. Rund ein Viertel aller in Deutschland zugelassenen Arzneimittel enthalten Fluor-­Atome. Sie lassen sich mit gängigen Klärmethoden nur schwer aus dem Abwasser entfernen, in der Natur können Mikroorganismen sie kaum abbauen. Die Verbindungen können sich über mehrere tausend Jahre anreichern [4].

Bei vielen Wirkstoffen ist bekannt, dass sie Ökosysteme verändern, indem sie das Verhalten von Wasserlebewesen beeinflussen oder die Lebenszeit bestimmter Arten verkürzen. Die Folgen bedrohen die Gesundheit des Menschen: Denn wenn Ökosysteme zerbrechen, steigt die Gefahr für Zoonosen [5]. Landen Antiinfektiva in unserer Umwelt, provozieren sie, dass sich multiresistente Keime bilden.

Beim ökotoxischen Wirkstoff Diclofenac ergänzten die Hersteller 2021 Entsorgungshinweise auf ihren Beipackzetteln sowie einen Link auf der Website des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit weiterführenden Hinweisen. „Fragen Sie in Ihrer Apotheke, wie das Arzneimittel zu entsorgen ist, wenn Sie es nicht mehr verwenden. Sie tragen damit zum Schutz der Umwelt bei“, heißt es da. Laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ wurde diese Website bis zum August 2022 wenige tausend Male im Monat aufgerufen [6].

OECD sucht nach Lösungen

Wie gehen OECD-Staaten mit ihrem Arzneimittelmüll um? Darüber ver­öffentlichte die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Juni 2021 einen umfassenden Bericht [7]. Als einer der Autoren widmete sich der Umwelt­ökonom Frithjof Laubinger der Problematik. Für ihn wäre die wichtigste Lösung, wenn wir weniger Arznei­mittel anwenden und produzieren würden. Das ginge mit präventiver und personalisierter Medizin, prä­ziseren Verpackungsgrößen und besseren Verteilungsmöglichkeiten für Arzneimittel vor dem Verfall. Aber selbst wenn unsere Gesundheits­systeme diese Maßnahmen befolgen, würden noch immer Altarzneimittel anfallen. Daher muss irgendjemand die fachgerechte Entsorgung koordinieren. Patienten sollten möglichst einen Ort haben, an dem sie alte Arzneimittel abgeben können, so Frithjof Laubinger. Gibt es verschiedene Anlaufstellen, wird es oft zu kompliziert.

Flickenteppich Entsorgung

Wie Arzneimittel entsorgt werden, wird nicht nur in den einzelnen OECD-Ländern unterschiedlich gehandhabt. Auch in Deutschland variiert das Vorgehen von Kommune zu Kommune: Vielerorts wird der Restmüll vollständig verbrannt, weshalb Arzneimittel darüber zu entsorgen sind. Aber in manchen Kommunen wird der Restmüll ökologisch aufbereitet, wobei Arzneimittel nicht restlos vernichtet werden. Hier nehmen unter anderem Schadstoffmobile oder Apotheken die Altarzneimittel entgegen. Welcher Bezirk wie mit Müll umgeht, findet sich auf der Website www.arzneimittelentsorgung.de. Die Seite entstand im Rahmen der Fördermaßnahme „Risikomanagement von neuen Schadstoffen und Krankheitserregern im Wasserkreislauf“. Dr. Thomas Track von der Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie ist dafür verantwortlich, dass die Website aktuell bleibt. Er und sein Team überprüfen rund zweimal jährlich die Hinweise der Kommunen auf Aktualität. „Es ist schön, wenn lokale Abfallbetriebe oder Projektleiter bei uns anrufen, um uns zu informieren, wenn sich die Entsorgungskonzepte ändern“, sagt Track. Seit dem Start 2015 griffen rund eine halbe Million Menschen auf die Website zu. Meist klicken täglich zwischen 120 und 180 Nutzer auf das Portal, doch diese Zahlen verzehnfachen sich mitunter, wenn das Thema Arzneimittelentsorgung in den Medien präsent wird. Ein Ausbau der nicht-kommerziellen Website ist laut Track nicht geplant, denn die wichtigsten Hinweise finden Verbraucher auf der Seite, wenn sie ein Medikament entsorgen möchten. Doch auch für ihn würde es Sinn ergeben, eine bundeseinheitliche Lösung zur Ent­sorgung zu etablieren. „Aber nur, wenn dadurch die umweltrelevanten Bestimmungen zur Entsorgung erhalten bleiben“, schränkt Track ein.

Apotheke als Anlaufstelle

In Leipzig gibt es seit 2011 bereits eine einheitliche Anlaufstelle, bei denen Verbraucher alte Arzneimittel abgeben können: die öffentliche Apotheke. Der sächsische Apothekerverband forderte 2019, das Modell auf den gesamten Freistaat auszuweiten [8]. Auch in Nienburg an der Weser setzt sich Apothekerin Anja Thijsen für ein vergleichbares Projekt ein. Wie in Leipzig wird auch in ihrer Heimat der Restmüll nicht verbrannt, sondern biologisch aufgearbeitet. Arzneimittel sollen hier über Schadstoffmobile entsorgt werden. Aber warum nicht lieber direkt bei den Apotheken – als Anlaufstelle, wenn es um Arzneimittel geht? Mit der örtlichen Abfallwirtschaft und den Apotheken entwickelte Thijsen ein Modellprojekt, bei dem die Arz­neimittel korrekt entsorgt werden können. 80% der Apotheken in ihrem Landkreis erklären sich bereit, Alt­arzneimittel entgegenzunehmen. Im Rahmen des Projektes erstellten sie Flyer für die Kundenzeitung, die Patienten auf die Apotheke als Abgabe­stelle hinweisen. Im September 2022 soll die Bevölkerung zusätzlich über die Lokal­presse auf das Konzept aufmerksam werden, auch der Wasser­verband gab ein Statement.

Zweite Chance für Arzneimittel

Wenn Nutzer auf der Website www.arzneimittelentsorgung.de die Stadt Erlangen auswählen, finden sie eine unübliche Info zur Entsorgung: Hier sei eine Verwertung von Arzneimitteln durch die Friedrich-Alexander-Universität möglich, wenn Verbraucher ihren medizinischen Müll in Apotheken abgeben. Was steckt dahinter? Arzneistoffe beinhalten ein großes wirtschaftliches Potenzial, das bei der Entsorgung verloren geht, sagte Markus Heinrich der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) im März 2022. Heinrich, Professor für pharmazeutische Chemie in Erlangen, möchte dieses Potenzial ausschöpfen. Er und sein Team forschen an Verfahren, mit denen sich Wirkstoffe aus Altarzneimitteln zurückgewinnen und kommerziell verwerten lassen. Die DBU förderte das Forschungsvorhaben [9], aus dem sich eine Forschungsinitiative entwickelt hat. „Dieses Projekt wird nicht so schnell enden. Wir haben massenweise Angebote für Kooperationen“, berichtet der pharmazeutische Chemiker im Gespräch mit der DAZ. Das Projekt sei schnell tragfähig geworden, bei vielen Substanzen gelingt es gut, die Hilfsstoffe abzutrennen. Schon heute unterstützt die Initiative die Forschung und Lehre in Erlangen. Denn die recycelten Wirkstoffe sind viel günstiger als die üblichen Ausgangsstoffe für Synthesen und Laborpraktika. Für das Projekt legten die Wissenschaftler Infomaterialien in den Apotheken und Arztpraxen der Stadt Erlangen aus, mit denen Kunden informiert wurden, dass sie hier Altarzneimittel abgeben können. Zwei Drittel der Apotheken in Erlangen beteiligen sich an der Initiative. Die Apotheken und Praxen liefern die Altarznei zu Forschungszwecken an einen Sammelcontainer der Friedrich-­Alexander-Universität. Fast vier Tonnen Altarzneimittel wurden 2021 gesammelt, etwas weniger als die Hälfte für die Aufreinigung genutzt. Durch eine Partnerschaft mit dem Zweck­verband Abfallwirtschaft der Stadt können die Forscher die restlichen Altarzneimittel kostenlos entsorgen.

Recyceln für die Industrie?

Schon im Frühling boten Heinrich und sein Team die zurückgewonnenen Arzneistoffe weiteren Forschungseinrichtungen an. Andere Universitäten, die Industrie und sogar Umweltämter sind an den Verfahren und den recycelten Wirkstoffen interessiert. Aber wären die wiederaufbereiteten Wirkstoffe auch als Rohstoff für die Arzneimittelherstellung geeignet? Markus Heinrich erklärt: „Wenn es gewollt wäre – wir könnten es.“ Bei einem Versuch mit industriellen Fehlchargen ist es seinem Team gelungen, vier Wirkstoffe wieder so aufzureinigen, dass sie die Ausgangsstoffprüfungen bestanden. Er schränkt aber ein: „Das gelingt aber nicht bei jedem Wirkstoff – zumindest nicht ohne weitere Entwicklungsarbeit.“ Die Initiative in Erlangen zeigt: Neben Problemen steckt auch Hoffnung in Altarzneimitteln. Seine Mitarbeiter seien jedenfalls begeistert von ihrem Projekt. Und auch Pharmaziestudierende legen ihr Wahlpflichtpraktikum häufiger bei der Arbeitsgruppe ab, seit diese ein nachhaltiges Vorhaben voranbringt. |
 

Literatur

[1] Sicherstellung der ordnungsgemäßen Entsorgung von Altmedikamenten im Freistaat Sachsen. Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, 4. November 2020

[2] Pirchner D. Ein Leben nach dem Verfallsdatum – FAU-Team bereitet Altarzneimittel für die Forschung auf. Meldungen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) vom 6. Dezember 2021, www.fau.de

[3] Götz K, Keil F. Medikamentenentsorgung in privaten Haushalten: Ein Faktor bei der Gewässerbelastung mit Arzneimittelwirkstoffen? Umweltwissenschaften und Schadstoff-Forschung 2007;(19):180–188

[4] Müller M, Witte K. Umweltschutz – Arzneistoffe im Abwasser. Pharmazeutische Zeitung online vom 1. Dezember 2019

[5] Online-Dossier zum Zusammenhang zwischen Biodiversitätsverlust und Epidemien. Deutsche Koordinierungsstelle, Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), www.de-ipbes.de/de/Online-Dossier-zum-Zusammenhang-zwischen-Biodiversitatsverlust-und-Epidemien-2004.html

[6] Feldwisch-Drentrup H. Arzneistoffe in der Umwelt: Wie Medikamente sich auf Tiere und Umwelt auswirken. FAZ.net, aktualisiert am 2. August 2022, www.faz.net/aktuell/wissen/wie-medikamente-sich-auf-tiere-und-umwelt-auswirken-18207779.html

[7] Management of Pharmaceutical Household Waste. Leitfaden der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), veröffentlicht am 25. Juni 2021

[8] dpa/jb. Sachsens Apotheker fordern einheitliches Entsorgungssystem für Altarzneimittel. DAZ.online vom 13. Dezember 2019, www.deutsche-apotheker-zeitung.de

[9] Alte Arzneimittel wieder nutzbar machen – DBU-Projekt zum Global Recycling Day am 18. März. Pressemitteilung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) vom 17. März 2022, www.dbu.de

Apotheker Marius Penzel

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