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Pandemie Spezial

Gibt es ein Post-Vac-Syndrom?

PIMS und Long-COVID werden als seltene Impffolgen diskutiert

Derzeit kursieren Berichte über bisher kaum erfasste unerwünschte Ereignisse nach einer COVID-19-Impfung. Manche Experten sprechen vom Post-Vac-Syndrom. Zu möglichen Impffolgen zählen auch Long-COVID und PIMS, das Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome. Die Datenlage ist jedoch äußerst dünn, die Kausalität schwer zu belegen. Anhand der Fallberichte sind diese Komplikationen möglich, das Risiko scheint jedoch deutlich geringer zu sein als nach einer Infektion mit SARS-CoV-2. | Von Ralf Schlenger 

Der sperrige Begriff Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome – temporally associated with SARS-CoV-2 (PIMS-TS) steht für eine immunvermittelte Erkrankung, die bei einem kleinen Anteil von Kindern und Jugendlichen zwei bis sechs Wochen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 beobachtet wird. PIMS-TS ist selten, führt aber die Hälfte der Kinder auf die Intensivstation. Die Pathogenese ist ungeklärt, ebenso die Frage, ob die Impfung das Syndrom verhindert oder möglicherweise auslöst [1, 3]. Für primär gesunde Kinder stellt PIMS die relevantere Krankheitslast dar als die akute Infektion – das zeigt das Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, das seit Mai 2020 nachgewiesene Fälle der Erkrankung erfasst (s. Kasten „PIMS“). Vom Beginn des Surveys bis zum 19. Juni 2022 wurden der DGPI 863 PIMS-erkrankte Kinder und Jugendliche gemeldet. Für das Risiko des Auftretens von PIMS-TS bei SARS-CoV-2-infizierten Kindern liegen aussagekräftige Daten vor: Es lag beim Wildtyp bei unter 0,1% und ist mit jeder Folgevariante deutlich niedriger geworden [2]. Aber wie hoch ist das Risiko bei Geimpften?

PIMS, das multisystemische Entzündungssyndrom bei Kindern

Seit dem 27. Mai 2020 erfasst die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) Fälle des Pädiatrischen Inflammatorischen Multiorgansyndroms (pediatric inflammatory multisystem syndrome – temporally associated with SARS-CoV-2, PIMS-TS). Bekannt ist es auch als multisystem inflammatory syndrome in children, MIS-C). PIMS-TS ist selten, aber klinisch gravierend, die Pathogenese unklar. Die Falldefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfasst neben Fieber und erhöhten systemischen Entzündungsparametern mindestens zwei Organbeteiligungen, den Nachweis einer aktuellen (PCR- oder Antigennachweis) oder stattgehabten (positive SARS-CoV-2-­Serologie) SARS-CoV-2-Infektion sowie den Ausschluss anderer infektiologischer Ursachen (2). In der deutschen Erhebung waren die am häufigsten angegriffenen Organe der Gastrointestinaltrakt (80%), Herz und Gefäße (73%), Haut (71%) und Schleimhaut (64%). Anders als bei der pädiatrischen COVID-19-Erkrankung, bei der die Hälfte der betroffenen Kinder im ersten Lebensjahr sind, verteilen sich die Inzidenzen bei PIMS recht gleichmäßig auf die Altersgruppen, erst ab dem 14. Lebensjahr wird die Erkrankung seltener. Auch sind PIMS-TS-Patienten häufiger männlich (64%) als dies bei COVID-19-Erkrankungen der Fall ist (53%), und sie haben seltener Vorerkrankungen (15% vs. 24%).

Das Risiko, nach einer SARS-CoV-2 Infektion ein PIMS zu entwickeln, lag unter der Wuhan- und der Alpha-Variante von SARS-CoV-2 bei etwa 1:4000 [9]. Unter der Delta-Variante ist das Risiko laut Dr. med. Jakob Armann, dem Leiter des PIMS-Survey, etwa dreimal niedriger geworden, also ca. 1:12.000; Omikron hat verglichen mit Wuhan/Alpha ein etwa 15- bis 20-fach geringeres Risiko (ca. 1:60.000 bis 80.000). So gering die Inzidenzen des PIM-Syndroms sind, ist die Belastung der Erkrankten nicht zu vernachlässigen. Praktisch jedes zweite erkrankte Kind wird intensivmedizinisch behandelt, einige benötigen eine invasive Beatmung. Der Verlauf ist trotz des schweren Krankheitsbildes günstig: Nur bei 4,3% der jungen Patientinnen und Patienten bestanden laut dem DGPI-Register bei Entlassung weiterhin Beschwerden oder Auffälligkeiten (vor allem bezogen auf das Herz-Kreislauf-System), die nicht sicher als reversibel einzuschätzen waren. Tödliche PIMS-TS-Verläufe wurden bisher in Deutschland nicht gemeldet (Stand 20. Februar 2022) [4].

Wenig Daten, viele Variablen

„Bei der Frage nach dem Anteil der Geimpften unter den PIMS-Fällen ist die Datenlage deutlich dünner und schwerer zu analysieren“, sagt der Leiter des PIMS-Surveys, Dr. med. Jakob Armann von der Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Dresden gegenüber der DAZ. „Grundsätzlich sehen wir Meldungen von PIMS, die durch eine Impfung ausgelöst wurde (PIMS durch Impfung) als auch Fälle bei denen eine Durchbruchsinfektion nach Impfung ein PIMS ausgelöst hat (PIMS trotz Impfung). Insgesamt haben wir aktuell 23 dieser Fälle erfasst, wobei einschränkend anzumerken ist, dass in knapp der Hälfte der Meldungen der Impfstatus als unbekannt angegeben wurde. Daher muss die Interpretation sehr vorsichtig erfolgen.“

Von den bislang 863 gemeldeten PIMS-Fällen kamen laut Dr. Armann rund 400 seit Beginn der Impfkampagne auf. 23 impfassoziierte Fälle unter 400 würden knapp 6% bedeuten. Die Fallzahl erscheint indes geringer, wenn man sie in einen epidemiologischen Kontext stellt:

  • In Deutschland leben 13,75 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, von denen 5,78 Millionen ab fünf Jahren (42%) geimpft sind. Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 19% zweimalig geimpft (Stand 20. April 2022), aber unter denjenigen, für die seit Juni 2021 ein PIM-Syndrom gemeldet wurde, nur 3% [4].
  • Von den Zwölf- bis 17-Jährigen sind 63% zweimal geimpft, bei den PIMS-Fällen in dieser Altersgruppe waren es nur etwa 15%.

Die Häufigkeit von PIMS scheint also unter geimpften Kindern um ein Mehrfaches niedriger zu sein, als unter ungeimpften. Welche Beziehung zwischen Impfstatus und Risiko von Folge­erkrankungen wie PIMS oder Long-COVID tatsächlich besteht, lässt sich aber schon deshalb schwer ergründen, weil es kaum noch immunnaive Kinder gibt: In den letzten beiden Infektionswellen (Delta und Omikron) offenbarten die anlasslosen Reihentestungen hohe Inzidenzen, also SARS-CoV-2-Infektionen jeglicher Ausprägung, in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen – wobei ein Großteil der Infektionen mild oder asymptomatisch verlief. Seit Beginn der Pandemie wurde eine SARS-CoV-2-Infektion mittels PCR bei 48,5% der Fünf- bis Elfjährigen bestätigt und bei 77,5% ist sie nach Modellierungen zu vermuten [4]. Gleichzeitig sind in derselben Altersgruppe 19% geimpft. Es gibt also Kinder mit infektionsbedingter, solche mit impf­induzierter und solche mit hybrider Immunität. In dieser Gemengelage immunbedingte Symptome eindeutig der Impfung oder der natürlichen Infektion zuzuschreiben, erscheint nicht unproblematisch. Ein PIMS nach einer Impfung könnte auch auf eine vorangegangene stille Infektion zurückzuführen sein.

Dem PEI wird wenig gemeldet

In einem gewissen Gegensatz zu den Daten des DGPI-Surveys stehen jene aus den Sicherheitsberichten des Paul-Ehrlich-­Instituts (PEI) zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach der COVID-19-Impfung. In den letzten drei der quartalsweise erscheinenden Berichte sind die Inzidenzen einstellig. Im Bericht zum vierten Quartal 2021 wird von drei Jugendlichen mit PIMS (zwei männliche, eine weibliche Person) im zeitlichen Zusammenhang von etwa vier Wochen nach Comirnaty-Impfung berichtet. Zu zwei der drei Meldungen liegen dem Paul-Ehrlich-Institut keine weiteren Informationen vor. Bei einer 17-jährigen Jugendlichen bestätigten serologische Untersuchungen den Verdacht, dass sie zuvor höchstwahrscheinlich eine asymptomatische SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht hatte [5]. Im zuletzt erschienenen Bericht, der Meldungen bis zum 31. März erfasst, taucht der Begriff PIMS gar nicht mehr auf. Auf Anfrage der DAZ erklärte das PEI, dass das Thema PIMS in den nächsten Sicherheitsbericht, der Daten bis zum 30. Juni 2022 einschließt, aufgenommen werde.

Die Meldungen von Nebenwirkungen nach Impfung mit COVID-19-Impfstoffen erhält das Paul-Ehrlich-Institut nach dem Infektionsschutzgesetz via Gesundheitsamt durch die Ärzteschaft, weiterhin durch die Arzneimittelkommissionen der Apotheker und der Ärzte, die standesrechtlich zur Meldung verpflichtet sind. Auch Geimpfte selbst oder deren Angehörige können dem PEI vermutete Nebenwirkungen direkt per Post, E-Mail, Telefon oder über das elektronische Meldeportal (www.nebenwirkungen.bund.de) melden. Aussagen zur tatsächlichen Häufigkeit der unerwünschten Ereignisse sind auf Basis solcher passiver Spontanmelde­systeme nicht möglich. Vermutet wird ein hohes Ausmaß an „underreporting“, das sich laut PEI „nicht exakt beziffern“ lässt. Ein Artikel im „Spiegel“ thematisierte jüngst die Frage, ob Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen inzwischen ein Tabuthema in der Ärzteschaft darstellen könnten [6].

Long-COVID nach Impfung?

Auch bei Symptomen, die auf Long- oder Post-COVID hindeuten, hat das PEI bisher kein mit einem Impfstoff assoziiertes Risikosignal erkennen können. Gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt ließ das Institut verlauten, die Verdachtsmeldungen zum chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) – einem besonders schweren, definierten Erschöpfungssyndrom, das mindestens sechs Monate lang besteht – lägen deutlich unter der bisher beobachteten Prävalenz in der Bevölkerung. Auch auf EU-Ebene gebe es bisher keine Hinweise auf ein Risikosignal für Long-COVID nach COVID-19-Impfungen [7]. Zur Erinnerung: Schon die Inzidenz von Long-COVID nach stattgehabter Infektion mit SARS-CoV-2 lässt sich angesichts variabler Definitionen und Studienkriterien schwer quantifizieren. Acht bis zwölf Wochen nach den Erstsymptomen werden Prävalenzen von wenigen Prozent bis zu 70% berichtet, die sich über alle Altersgruppen einschließlich Kinder und Jugendliche verteilen. Wie häufig Long-COVID nach einer Impfung vorkommt, lässt sich aktuell noch weniger sagen. Anhand eines Post-Marketing-Reports von Biontech/­Pfizer vom Februar 2021 schätzt Prof. Dr. Bernhard Schieffer, Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitäts­klinikum Marburg, die Wahrscheinlichkeit eines Post-Vac-Syndroms auf etwa 0,02% nach einer Impfung [8]. Die Marburger Uniklinik unterhält eine „Spezialsprechstunde Post-Vax“, eine von zweien in ganz Deutschland, die sich an Personen mit lang anhaltenden Beschwerden in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung gegen SARS-CoV-2 richten. Seit Anfang 2022 haben die Marburger rund 200 Patienten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit vermutetem Post-Vac-Syndrom erfasst. Die Patienten präsentierten sich mit einem sehr heterogenen Bild, welches dem eines Long-COVID-Syndroms sehr ähnele, sagte Schieffer im Deutschen Ärzteblatt. Es gebe eine Warteliste von über 1800 Personen, wobei diejenigen, die eine Corona-Infektion hatten, bereits herausgefiltert sind. Die zweite Post-Vac-­Spezialambulanz in Deutschland unterhält die Klinik für Neurologie, Charité Universitätsmedizin Berlin. Sie wendet sich nur an Betroffene mit primär neurologischen Beschwerden wie Kopfschmerzen oder kognitiven Einschränkungen. Die Nachfrage sei auch hier so hoch, dass eine Warteliste geführt wird, erklärt Oberärztin Dr. Christiana Franke. Die Datenlage reiche bisher nicht aus, um bei neurologischen Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Impfung eine kausale Verbindung herzustellen; es könne sich auch um andere, nur im zeitlichen Zusammenhang neu aufgetretene Erkrankungen handeln [7].

Ursachensuche läuft

Dass sich Kausalität und Koinzidenz (noch) nicht auseinanderhalten lassen, verwundert angesichts der spekulativen Ursachen beim Post-Vac-Syndrom nicht. Diskutiert werden unter anderem die Reaktivierung einer Epstein-Barr-­Virus(EBV)-Infektion oder die Bildung von Antikörpern gegen körpereigenes Gewebe, wie sie auch bei Personen mit Long-COVID nach einer Infektion vorkommt. Auch nach der Impfung wurden in Einzelfällen Autoantikörper gefunden, etwa gegen Angiotensin-konvertierendes Enzym 2 (ACE2), den Rezeptor für das Spike-Protein des Coronavirus, oder Antikörper gegen Beta-2-Glykoprotein. Publikationen hierzu gibt es bislang nicht, aber entsprechende Untersuchungen und Studien laufen. Laut Prof. Dr. Bernhard Schieffer soll es in den nächsten Monaten gelingen, Auslöser eines Post-Vac-Syndroms dingfest zu machen. |

Literatur

[1] Götzinger F, Santiago-García B, Noguera-Julián A, et al. COVID-19 in children and adolescents in Europe: a multinational, multicentre cohort study. Lancet Child Adolesc Health 2020;4(9):653-661, doi: 10.1016/S2352-4642(20)30177-2

[2] PIMS-Survey. Informationen der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), https://dgpi.de/pims-survey-update/

[3] Zimmermann P et al. Should children be vaccinated against COVID- 19? Arch Dis Child 2022;107(3):e1, doi: 10.1136/archdischild-2021-323040, Epub 3. November 2021

[4] STIKO: 20. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung. Epidemiologisches Bulletin des Robert Koch-Instituts (RKI) 2022;21:3-51

[5] Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor COVID-19 seit Beginn der Impfkampagne am 27. Dezember 2020 bis zum 30. September 2021. Sicherheitsbericht vom 26. Oktober 2021, Paul-Ehrlich-Institut (PEI)

[6] Rydlink K. Unerklärliche Symptome nach der Coronaimpfung – und alle ducken sich weg. Spiegel online 12. Juni 2022, www.spiegel.de/gesundheit/post-vac-syndrom-unerklaerliche-symptome-nach-der-corona-impfung-und-alle-ducken-sich-weg-a-6b3ea94e-138f-4ed0-b459-d86377daf08b

[7] Gießelmann K, Martin M. Post-Vac-Syndrom: Seltene Folgen nach Impfung. Dtsch Arztebl 2022;119(19):A-862/B-714, www.aerzteblatt.de/archiv/225071/Post-Vac-Syndrom-Seltene-Folgen-nach-Impfung

[8] Cumulative analysis of post-authorization adverse event reports of PF07302048 (BNT162B2) Received Through 28-feb-2021. Biontech/Pfizer, https://phmpt.org/wp-content/uploads/2021/11/5.3.6-postmarketing-experience.pdf

[9] Sorg AL et al. Risk of Hospitalization, severe disease, and mortality due to COVID-19 and PIMS-TS in children with SARS-CoV-2 infection in Germany. Preprint vom 30. November 2021.auf medRxiv, www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.11.30.21267048v1

Autor

Ralf Schlenger ist Apotheker und arbeitet als freier Autor und Medizinjournalist in ­München.

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