Arzneimittel und Therapie

Carboanhydratase-Hemmer sicherer als gedacht

Schwere Acetazolamid-Nebenwirkungen bei Glaukom-Therapie wohl selten

Carboanhydratase-Hemmer sind systemisch oder topisch wirksame Mittel zur Glaukom-Behandlung. Aber viele Ärzte sorgen sich, dass eine Therapie mit den Sulfonamid-Derivaten potenziell lebensgefähr­liche Nebenwirkungen provoziert. Eine aktuelle Studie deutet an, dass diese Sorge unbegründet sein könnte.

Bei rund der Hälfte der Glaukom-Patienten ist der Augeninnendruck erhöht, was den Sehnerv nachhaltig schädigen kann. Daher zielen Arzneimittel zur Glaukom-Behandlung darauf ab, die Kammerwasserproduktion zu bremsen und so den Augeninnendruck zu senken. So auch die Carboanhydratase-Hemmer. Carboanhydratasen katalysieren im menschlichen Körper, so dass aus Wasser und Kohlenstoffdioxid Hydrogencarbonat-­Ionen entstehen. Die Enzyme finden sich auch im Auge und steuern so die Flüssigkeitsmenge des Kammerwassers.

Daher lag es nahe, Carboanhydratase-Hemmer auch zur Glaukom-Therapie einzusetzen. Der Prototyp der Wirkstoffklasse ist Acetazolamid. Er wird in Akutfällen oral angewendet. Neben Acetazolamid sind bei uns die lokal verabreichten Carboanhydratase-Hemmer Dorzolamid und Brinzo­lamid gebräuchlich. Doch sie haben einen Haken.

Tödliche Hautreaktionen?

Carboanhydratase-Hemmer gehören strukturell zu den Sulfonamid-Derivaten. Diese gelten als Auslöser für die schweren Hautüberempfindlichkeitsreaktionen toxisch epidermale Nekrolyse (TEN) und Steven-Johnson-Syndrom (SJS). Diese Nebenwirkungen ­beginnen ein bis drei Wochen nach Exposition mit der auslösenden Verbindung mit Erosionen und Geschwüren an Mund und Augen, hinzu kommt Fieber.

Oft löst sich anschließend die Epidermis wie nach einer Verbrennung ab. Auch Schleimhäute sind betroffen. Tritt die nekrotische Erscheinung bei über 30% der Hautfläche auf, spricht man von einer toxisch epidermalen Nekrolyse. Sie endet bei vielen Betroffenen tödlich: Etwa jeder zehnte SJS- und jeder zweite TEN-Patient verstirbt an den Folgen.

Ärzte in den USA zögern

Daher zögern in den USA viele Ärzte, insbesondere das systemische Acetazolamid zu wählen – immerhin gibt es mit Betarezeptorenblockern, Alpha-2-selektiven Sympathomimetika und Prostaglandinderivaten einige andere wirksame Stoffklassen. Das schreiben die Autoren einer Studie, die sie kürzlich im Journal „JAMA Ophthalmology“ publizierten. Darin sind sie der Frage nachgegangen, wie häufig topische und orale Carboanhydratase-Hemmer die lebensbedrohlichen Nebenwirkungen auslösen.

Ihre Herangehensweise: Eine longitudinale Kohortenstudie, für die sie die Daten von 128.942 Glaukompatienten über 65 Jahren auswerteten. Die Hälfte der Patienten wendete Carboanhydratase-Hemmer systemisch an, die andere erhielt Augentropfen zur topischen Anwendung.

Wer die Sulfonamid-Derivate oral einnahm, hatte ein absolutes Risiko von 2,9 von 1000 Patienten, eine schwere Nebenwirkung zu erleiden. Bei Patienten mit topischen Carboanhydratase-Hemmern war das Risiko nur wenig kleiner und lag bei 2,08 pro 1000 Patienten (Risk Ratio = 1,40, 95%-Konfidenzintervall 1,12 bis 1,74). Das Risiko, eine SJS und TEN zu erleiden, war umso höher, je mehr Begleiterkrankungen und Klinikaufenthalte die Patienten hatten. Insgesamt ordnen die Autoren das errechnete Risiko als sehr gering ein.

Nur zur akuten Therapie

Die Studienautoren leiten aus ihren Ergebnissen ab, dass die Therapie mit oralen Carboanhydratase-Hemmern sicher ist. Dennoch dürfe die Therapie nicht beiläufig eingeleitet werden, zunächst müssten Ärzte ihre Patienten über mögliche Risiken aufklären.

Das Ergebnis der Studie untermauert die Vorgehensweise der Ophthalmologen in Deutschland. „Wir wissen, dass es diese schweren Nebenwirkungen gibt“, kommentiert Professor Hagen Thiem, Chefarzt der Universitätsaugenklinik in Magdeburg. „Aber in ­unserer Praxis spielen sie keine Rolle, weil wir Carboanhydratase-Hemmer systemisch nur zur Überbrückung ­anwenden.“ Bei schweren Glaukom-Fällen sind die Ursachen in der Regel nur chirurgisch zu beheben. Thiem wendet in diesen Fällen Acetazolamid intravenös oder oral an, bis die Patienten operiert werden können.

Eine größere Rolle, so Thiem, spielt unter Carboanhydratase-Hemmern die Nebenwirkung der Hypokaliämie, die aber durch Elektrolytspiegelbestimmungen und eine höhere Kalium-Zufuhr zu beheben ist. Bei topischen Carboanhydratase-Hemmern sei diese Nebenwirkung aber ebenfalls vernachlässigbar. |
 

Literatur

Popovic MM et al. Serious Adverse Events of Oral and Topical Carbonic Anhydrase Inhibitors. JAMA Ophthalmol 2022, doi:10.1001/jamaophthalmol.2021.5977

Apotheker Marius Penzel

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