Arzneimittel und Therapie

Mehr Verletzte im Straßenverkehr nach Cannabis-Legalisierung

Involviert sind vor allem ältere und männliche Fahrer

In Kanada hat sich seit der Legalisierung von Cannabis die Zahl verletzter motorisierter Verkehrsteilnehmer mit einem Tetrahydrocannabinol(THC)-Wert von mindestens 2 ng/ml Blut mehr als verdoppelt. Besonders auffallend ist der Anstieg älterer Cannabis-konsumierender Verkehrsteilnehmer.

In Kanada wurde die Verwendung von Cannabis und Cannabinoiden als Arzneimittel 2001 legalisiert. 17 Jahre später, im Oktober 2018, folgte die Legalisierung von Cannabis als Freizeitdroge für Erwachsene. Der Umgang mit Cannabis ist mit einigen Restriktionen belegt, so etwa im Straßenverkehr, da Cannabis zu kognitiven und psychomotorischen Einschränkungen führen kann. Ob und inwieweit die Legalisierung von Cannabis in Kanada zu einem Anstieg an motorisierten Verkehrsunfällen unter Cannabis-Einfluss geführt hat, wurde nun anhand einer Kohorte bestehend aus 4339 mäßig verletzten Autofahrern untersucht. Dazu wurden deren THC- und Alkohol-Blutspiegel bestimmt.

Die Studie wurde zwischen 2013 und 2020 durchgeführt, sodass ein Teil der Probanden (n = 3550) vor und ein Teil (n = 789) nach der Cannabis-Legalisierung eingeschlossen wurden. Somit konnte ein Vergleich zwischen vorher und nachher gezogen werden. Der primäre Studienendpunkt umfasste THC-Werte > 0, THC-Werte von mindestens 2 ng/ml (das entspricht dem kanadischen Grenzwert) sowie THC-Werte von mindestens 5 ng/ml. In sekundären Endpunkten wurden Alkoholspiegel sowie THC-Werte in Kombination mit Alkoholwerten ermittelt.

Grenzwerte für Cannabis im Straßenverkehr

Foto: Parilov/AdobeStock

In der Regel werden THC-Werte entweder im Vollblut oder im Blutserum gemessen. Der Umrechnungsfaktor zwischen Vollblut und Blutserum beträgt 2, das bedeutet, dass 1,0 ng/ml im Vollblut äquivalent zu 2 ng/ml im Blutserum sind. Die internationalen Grenzwerte (meist Analyse von Vollblut) schwanken zwischen 0 (z. B. Australien) und 10 (z. B. Colorado) oder sind nicht definiert [Stand Dezember 2020]. Hier die Werte für Kanada und Deutschland:

Kanada: Ein THC-Nachweis im Vollblut unterhalb des Grenzwertes von 2 ng/ml THC wird nicht verfolgt. THC-Konzentrationen zwischen 2 und 5 ng/ml gelten als Ordnungswidrigkeit, während 5 ng/ml THC oder mehr als Straftat bewertet werden. Die Kombination mit Alkohol (Mischkonsum) wird härter geahndet als ein ausschließlicher Cannabis-Konsum.

Deutschland: Der THC-Grenzwert im Straßenverkehr beträgt in Deutschland 1 ng/ml Blutserum, das entspricht im Vollblut 0,5 ng/ml.

Vor der Legalisierung wurde ein THC-Spiegel > 0 bei 9,2% der Fahrer festgestellt, nach der Legalisierung wiesen 17,9% der Fahrer einen entsprechenden Wert auf; Werte von mindestens 2 ng/ml wurden vorher bei 3,8% der Fahrer und nachher bei 8,6% der Fahrer ermittelt und Werte > 5 ng/ml bei 1,1% (vorher) und 3,5% (nachher). Der Anteil hatte sich also nach der Legalisierung in allen drei Gruppen nahezu verdoppelt. Der größte Anstieg an THC-Werten auf mindestens 2 ng/ml wurde bei älteren Fahrern (≥ 50 Jahre; adjustierte Prävalenz-Ratio 5,18) sowie bei männlichen Fahrern (adjustierte Prävalenz-Ratio 2,44) ermittelt. Im Hinblick auf die Blutalkohol-Werte wurde vor und nach der Legalisierung von Cannabis keine signifikante Veränderung festgestellt. Der gleichzeitige Konsum von THC > 2,2 ng/ml und Alkohol (Spiegel > 0,05%) erhöhte die Rate an verletzten Verkehrsteilnehmern um knapp das Dreifache (Prävalenz-Ratio 2,88). |

Literatur

Brubacher J et al. Cannabis Legalization and Detection of Tetrahydrocannabinol in Injured Drivers. N Engl J Med 2022; 386:148-156; DOI: 10.1056/NEJMsa2109371

Bucher B et al. Bericht THC-Grenzwerte im Straßenverkehr; Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel. Eine Literaturanalyse im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Stand Dezember 2020

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

Irreversible Gehirnveränderungen drohen

Ein Kommentar zu den Folgen einer möglichen Cannabis-Legalisierung in Deutschland

Die Legalisierung von Cannabis in Deutschland ist umstritten. Experten warnen. So auch Prof. Dr. Martina Hahn, Fachapothekerin für Klinische Pharmazie an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitäts­klinikums Frankfurt.

Prof. Dr. Martina Hahn

Durch die Legalisierung von Cannabis und damit Zunahme des Konsums ist zu befürchten, dass vermehrt Cannabis-induzierte psychische Erkrankungen auftreten. Das ICD-10 listet neben der akuten Intoxikation (akuter Rausch) auch den schädlichen Gebrauch, das Abhängigkeitssyndrom, die psychotische Störung (Cannabis-Psychose), das amnestische Syndrom, das amotivationale Syndrom, sonstige psychische Verhaltensstörungen unter Cannabis und Entzugssyndrome (F12.1-F12.9). Schon vor der Legalisierung kommt es zu zahlreichen stationären Einweisungen und ambulanten Behandlungen durch diese Diagnosen. Der Cannabis-Konsum hat aber noch weitreichendere Folgen auf die Gesundheit des Gehirns: So konnte durch bildgebende Verfahren mit guter Evidenz belegt werden, dass morphologische Veränderungen auftreten. Dazu zählen strukturelle Veränderungen der grauen und weißen Hirnsubstanz, vermindertes hippocampales Volumen, Volumenminderungen der rechten Amygdala, des Cerebellums und des frontalen Cortex, Veränderung der axonalen Faserbahnen, Verlust an axonaler Integrität, reduzierte kortikale Dicke, reduzierte neuronale/funktionale Konnektivität in präfrontalen Bereichen/ subkortikalen Netzwerken, reduzierte Gehirnkapazität bzgl. der Freisetzung und Synthese von Dopamin [1 – 3]. Diese strukturellen Veränderungen erhöhen das Risiko für psychische Erkrankungen, da vor allem Gehirnareale betroffen sind, die für die Gefühlsregulation, Impulskontrolle und kognitive Leistungsfähigkeit verantwortlich sind. So besteht ein enger Zusammenhang zwischen Cannabis und der Entstehung von Depression, Manie, Angsterkrankungen, Panikstörungen, bipolare Erkrankungen, Suizidgedanken und Suizidalität, zusätzliche Suchterkrankungen, Anpassungsstörungen, Verhaltensstörungen, antisoziale oder emotional instabile Persönlichkeitsstörungen, Störungen der emotionalen Entwicklung und des Sozialverhaltens [4 – 6]. Bei zusätzlichen Veränderungen des Dopamin-Haushaltes erhöht sich zudem das Risiko für Aggressivität, Impulsivität inkl. hyperkinetischem Syndrom, Panikstörungen, psychotische Erkrankungen, schizophrene Psychosen, Essstörungen und Schizophrenie [4 – 6]. Dabei gilt: je früher der Konsum, desto größer die Auswirkungen auf das Gehirn. Gerade in der Adoleszenz, in der Cannabis oft erstmalig konsumiert wird, ist das Gehirn noch nicht ausgereift und besonders anfällig.

Im akuten Rausch – analog anderer Drogen und Alkohol – sind Tätigkeiten wie Autofahren nicht möglich, daher gelten entsprechende Höchstwerte im Blut. Bei längerfristigem Gebrauch ist Autofahren auch dann problematisch, wenn kein akuter Rausch besteht: Durch die lange Halbwertszeit sind noch Wochen nach Absetzen erhöhte THC-Konzentrationen im Blut bzw. Urin feststellbar, was die Exekutivfunktionen beeinträchtigt. Selbst bei unregelmäßigem Gebrauch kommt es durch die Akkumulation von THC im Fettgewebe zu anhaltenden schädigenden Effekten. Eine kanadische Metaanalyse konnte zeigen, dass vor allem das Lernen, das Gedächtnis und Exekutivfunktionen durch Cannabis eingeschränkt sind. Aber auch Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit werden durch Cannabis beeinträchtigt [7]. Die Schädigungen gehen über den akuten Konsum hinaus, was sich mit den oben genannten morphologischen Veränderungen erklären lässt, die irreversibel sind. Umso höher die kumulative Dosis, desto höher ist das Risiko für psychische Erkrankungen und kognitive Leistungsminderungen.

Fazit: Das Risiko für psychische Erkrankungen steigt unter Cannabis. Die Exekutivfunktionen sind beeinträchtigt, auch bei längeren Abstinenzphasen, so dass das Autofahren oder ähnlich komplexe Tätigkeiten mit einem hohen Risiko einhergehen. Die Kognition ist vermindert und dadurch die Leistungsfähigkeit eingeschränkt, was vor allem soziale Probleme wie Arbeitsplatzverlust nach sich zieht. Patienten sollten daher immer wieder zu Abstinenz motiviert werden, auch wenn das ursprüngliche Leistungsniveau durch die Abstinenz aufgrund der irreversiblen morphologischen Veränderungen nicht mehr erreicht werden kann, so kann doch das Niveau etwas verbessert und das Risiko für psychische Erkrankungen gesenkt werden.

 

Literatur

[1] Thomasius R. Die Folgen regelmäßigen Konsums werden oft unterschätzt. NEUROLOGIE & PSYCHIATRIE 2005; Vol. 7, Nr.6; CME-Fortbildung Psychiatrie

[2] Hoch E, Bonnet U, Thomasius R et al. Risks associated with the non-medicinal use of cannabis. Dtsch Arztebl Int. 2015;112:271–8

[3] WHO. The health and social effects of nonmedical cannabis use. 2016. Available at: www.who.int/substance_abuse/publications/msbcannabis.pdf

[4] Hahn M, Hefner G, Roll SC. Cannabiskonsum mit Folgen – Risiken im Jugendalter werden häufig unterschätzt. DAZ 2019;159(8):46-54

[5] Martin-Santos R, Fagundo AB, Crippa JA et al. Neuroimaging in cannabis use: a systematic review of the literature. Psychol Med 2010;40:383–98

[6] Hermann D. Aktuelle neurobiologische Studien zu gesundheitlichen Folgen von Cannabiskonsum mit Fokus auf Psychosen und neuropsychologischen Defiziten. In: 2. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2015.

[7] Kroon E, Kuhns L, Cousijn J. The short-term and long-term effects of cannabis on cognition: recent advances in the field. Current Opinion in Psychology 2021(38):49-55

[8] Brucher B, et al. Bericht THC Grenzwerte im Straßenverkehr 2020

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.