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Mehr Mikroorganismen als Zellen

Das „gesunde“ Mikrobiom ist schwer zu definieren

mw | Das Mikrobiom war spannendes Thema bei der Interpharm online – so klärten Prof. Dr. Robert Fürst und Dr. Ilse Zündorf über die Physiologie der menschlichen Mikrobiota auf. Fünfhundert Millionen Jahre Symbiose aus Mensch und Mikrobiom seien besonders und gingen weit über die Vitamin- und Aminosäuresynthese hinaus. Auch verschiedene Krankheits­bilder können zum Teil massiv beeinflusst werden.

Mikrobiota, Mikrobiom – was ist was?

So versteht man unter der Mikrobiota die Gesamtheit aller Mikroorganismen – während die Gesamtheit aller Mikro­organismen und deren Gene als Mikrobiom bezeichnet wird. Zu den Kommensalen zählen passive „Mitesser“, die laut Zündorf den Wirt nicht schädigen, sondern sogar unterstützen können. Pathogene hingegen sind virulente Mikroorganismen, die zu einer Schädigung des Wirts führen – wobei der Übergang fließend sei. Ist die Lebensgemeinschaft in Balance, spricht man von einer Eubiose – Abweichungen davon werden als Dysbiose bezeichnet.

Als eine „Wahnsinnszahl“ bezeichnete Zündorf die Gesamtheit aller Mikro­organismen im und auf dem mensch­lichen Körper – etwa 1014 Mikroorganismen im Vergleich zu etwa 1013 menschlichen Zellen. Zu den Habitaten des Mikrobioms zählen der Mund, die Haut, der Urogenital- und Gastrointestinaltrakt. Dabei hänge die Anzahl und Verteilung verschiedener Arten, die sogenannte Diversität, stark vom Habitat ab – die größte Variabilität zeige das Hautmikrobiom. Trotz großer interindividueller Unterschiede in der Zusammensetzung der Mikrobiota bleiben die Stoffwechselwege ziemlich konstant.

Meilensteine in der Untersuchung des Mikrobioms

Die Untersuchung des Mikrobioms startete 1683 mit der mikroskopischen Stuhlanalyse, 1965 gelang der erste Transfer von Mikrobiota in keimfreie Mäuse. 1996 wurden Mikrobiota erstmals mittels Sequenzierung identifiziert. Startschuss für die funktionelle Analyse des menschlichen Mikrobioms erfolgte laut Fürst im Jahr 2007 im Rahmen des „Human Microbiome Project“.

Foto: DAZ/Alex Schelbert

Dr. Ilse Zündorf und Prof. Dr. Robert Fürst vom Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt präsentierten neue Erkenntnisse zum Mikrobiom.

Darmmikrobiom im Fokus

Im Mittelpunkt des Vortrages stand das Darmmikrobiom, das mit Stuhlanalysen oder genauer über endos­kopische Verfahren wie Biopsien, „luminal brushing“ oder schluckbare Probenkapseln untersucht werden kann. Dabei ließen sich laut Fürst viele Aussagen zur Lokalisation treffen – die invasiven Verfahren seien aber auch teuer und mit einer möglichen Kontaminationsgefahr verbunden.

Einteilung in fünf Phyla und drei Enterotypen

Unser Magen-Darm-Trakt stellt mit einer Oberfläche von 30 bis 40 m2 die zweitgrößte Kontaktfläche zur Außenwelt dar. Nach Zündorf lässt sich die Darmmikrobiota in fünf Phyla einteilen – Firmicutes, Bacteroidetes, Proteobacteria, Actinobacteria und Verrucomicrobia. Dabei zähle die Gruppe der Firmicutes (z. B. Streptoccocus) zu den sehr guten Nahrungsverwertern und sei besonders im Darm adipöser Menschen vertreten. Zu den wichtigsten Aufgaben des Darmmikrobioms zählen unter anderem die Optimierung der „Energieausbeute“ aus der Nahrung, metabolische Einflüsse und die Entwicklung des Immunsystems. Durch Kommensalen werde die Pathogen-Besiedlung in „Schach gehalten“, so Fürst. Je nach Nahrungszufuhr kann die Darmflora in drei sogenannte Enterotypen eingeteilt werden:

  • Enterotyp 1 besteht überwiegend aus Bacteroides, die Vitamin B2, B5, Biotin und Vitamin C produzieren. Assoziiert wird dieser Typ 1 mit einer „westlichen Ernährung“, die einen hohen Gehalt an Proteinen und gesättigten Fetten enthält.
  • Enterotyp 2 besteht überwiegend aus Prevotella, die Vitamin B1 und Folsäure produzieren. Assoziiert wird dieser Enterotyp mit einer vegetarischen Ernährung, also mit viel Obst und Gemüse und mit Kohlenhydrat-Dominanz.
  • Beim Enterotyp 3 sind überwiegend Ruminokokken nachzuweisen, die kurzkettige Fettsäuren bilden (z. B. Buttersäure). Er tritt typischerweise bei Allesessern auf und ist mit dem Abbau von Glykoproteinen assoziiert.

Die Referenten betonten, dass die Bestimmung des Enterotyps durch im Handel erhältliche Tests fraglich sei und lediglich eine Momentaufnahme widerspiegele: Die Mikrobiota ver­ändert sich über die Zeit mehr oder weniger stark.

Ernährung wichtigster ­Einflussfaktor

Das Mikrobiom werde durch zahlreiche extrinsische und intrinsische Faktoren beeinflusst, wobei die Ernährung einen wesentlichen Einfluss auf die Diversität hat. Besonders hoch scheint diese unter der „mediterranen“ Ernährung zu sein – eine „westliche“ Ernährung bringt eher das Gegenteil mit sich. Welchen Einfluss eine vegetarische oder eine FODMAP-reduzierte Ernährung, die wenige fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole enthält, auf die Diversität des Mikrobioms hat, sei laut Fürst noch nicht geklärt.

Bioakkumulation von Arzneistoffen

Seit 1972 ist bekannt, dass die Mikrobiota die Metabolisierung von Arzneistoffen beeinflussen kann. Aufgrund der Komplexität des Mikrobioms und der interindividuellen Unterschiede gibt es dazu bisher nur sporadische Untersuchungen, es wird aber aktuell auf diesem Gebiet intensiv geforscht. So konnte gezeigt werden, dass Arzneistoffe von der Darmmikrobiota intra­zellulär gespeichert werden können – die sogenannte „Bioakkumula­tion“. Diese intrazelluläre Speicherung ohne chemische Modifikation der Wirkstoffe könne laut Zündorf unter anderem Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik sowie das Auftreten von Nebenwirkungen beeinflussen. Auch das Ansprechen auf eine Krebstherapie kann durch das Mikrobiom ver­ändert werden. Insgesamt weiß man aber noch zu wenig, um gezielt therapeutisch die Mikrobiom-Zusammensetzung zu verändern.  |

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