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Management

Wenn Gesichter keine Erinnerung hinterlassen

Tipps zum Leben mit Gesichtserkennungsschwäche

Für manche Menschen ist es schwierig, andere Personen anhand ihrer Gesichter wieder­zuerkennen. Im Privaten kann diese Schwäche zu Missverständnissen führen. Am Arbeitsplatz Apotheke mit seinen ausgeprägten Kundenkontakten ist die Situation umso schwieriger. Menschen mit Gesichtserkennungsschwäche sind gezwungen, andere Wege zur Wiedererkennung zu nutzen. Was steckt dahinter? Wen betrifft es, mit welchen Folgen? Und welche Tipps zum Ausgleich dieser Schwäche gibt es?

Gesichtserkennung ist eine wich­tige soziale Fähigkeit. Gesichter nur schwer wiederzuerkennen, kann dementsprechend problematisch sein. Wahrscheinlich jeder kennt Situationen, in denen das Erkennen des Gegenübers erschwert ist. Besonders unangenehm sind Momente, in denen zwar wir selbst wiedererkannt werden, anders­herum der Groschen aber einfach nicht fallen will. Natürlich kann es sich immer auch um ein Versehen handeln, dennoch können solche Situationen peinlich sein. Sind dies keine Ausnahmen, sondern eher die Regel, liegt eventuell eine Gesichtserkennungsschwäche, auch Prosopagnosie genannt, vor.

In einem beruflichen Umfeld mit vielen Kundenkontakten wie in der Apotheke können solche Schwierigkeiten in der Gesichts­erkennung zum Problem werden. Immerhin freuen sich wahrscheinlich die meisten Kunden, dass sie wiedererkannt werden. Dieser zugewandte Kundenkontakt erleichtert für beide Seiten den Umgang und fördert die Kundenbindung. Es ist allerdings nicht für jeden Menschen leicht, Gesichter richtig einzuordnen. Die Bandbreite der Gesichtserkennungsschwächen ist groß beziehungsweise die Übergänge zwischen einer „echten“ Prosopagnosie zu einem durchschnittlichen Wiedererkennungsvermögen sind fließend. Doch gibt es so etwas wie eine „normale“ Fähigkeit, Menschen anhand ihrer Gesichter wiedererkennen zu können? Wie weit verbreitet sind Schwächen auf diesem Gebiet?

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Kennen wir uns? Diese Frage hat sich jeder schon einmal gestellt. Doch wer an Prosopagnosie leidet, stellt sich diese Frage regelmäßig. Für die Kundenbindung in der Apotheke kann das problematisch sein. Einen Versuch wert ist der bewusste Einsatz von Hilfsmerkmalen.

Wie viele Gesichter kennen wir?

Wie viele Gesichter können wir eigentlich wiedererkennen? Das ist eine gute Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Immerhin gibt es große individuelle Schwankungen. Ein Team um den Psychologieprofessor Rob Jenkins von der Universität York ermittelte in einer Studie aus dem Jahr 2018, dass Menschen durchschnittlich 5000 Gesichter wiedererkennen können. Die 25 Versuchsteilnehmer mussten zunächst vertraute Menschen wie Verwandte, Freunde und Kollegen wiedererkennen, anschließend wurden Gesichter von Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Sport oder Wissenschaft präsentiert. Dabei zeigte sich eine Spanne von 1000 bis 10.000 wiedererkannten Gesichtern.

In einer anderen Studie, geleitet von Jia Liu, Professor für kognitive Neurowissenschaften an der Beijing Normal University, wurde mithilfe von Experimenten analysiert, welche Zusammenhänge es zwischen der Fähigkeit der Gesichtserkennung und dem IQ gibt und inwieweit diese Fähigkeit vererbt wird. In dieser Studie wurden mehrere Experimente mit ein- und zweieiigen Zwillingspaaren zum Thema der Vererbbarkeit und zudem eine Versuchsreihe mit einer Gruppe von Studenten zur Frage eines möglichen Zusammenhangs mit dem IQ durchgeführt. Das Ergebnis war, dass die kognitive Leistung der Gesichtserkennung unabhängig von der allgemeinen Intelligenz ist. Zudem seien ungefähr 35 Prozent der individuellen Unterschiede genetisch bestimmt und somit vererbbar.

Prosopagnosie – Was ist das?

Prosopagnosie ist ein allgemein eher unbekanntes Phänomen. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Gesicht“ (prósōpon) und „Unkenntnis, nicht erkennen“ (agnōsia). Prosopagnosie wird teilweise auch als Gesichtsblindheit bezeichnet. Dieser Begriff ist jedoch nicht gut gewählt, da keine echte Blindheit für Gesichter vorliegt. Die Betroffenen können sehr wohl einzelne Teile des Gesichts wie die Augen gut erkennen und auch Alter und Geschlecht richtig benennen. Sie können die Gesichter allerdings nicht bestimmten Personen zuordnen. Vielmehr sehen für sie alle Gesichter letztlich gleich oder zu ähnlich aus. Das heißt, es bereitet ihnen Probleme, sich die Gesichter zu merken und die Menschen damit zu identifizieren beziehungsweise wiederzuerkennen. In ausgeprägten Fällen bezieht sich die Prosopagnosie auch auf sehr bekannte Gesichter wie die von Freunden. Selbst das eigene Gesicht, so berichten einige Betrof­fene, wird von ihnen nicht erkannt. Interessant ist, dass sich diese kognitive Schwäche einzig auf Gesichter bezieht. Auf das Wiedererkennen anderer Dinge wie beispielsweise Gegenstände bezieht es sich nicht.

Die meisten Betroffenen wissen zunächst gar nicht, dass sie eine Schwäche der Gesichtserkennung haben, die andere Menschen in dieser Form nicht haben. So manch einer wird es auch nie erfahren, dass er darunter leidet. Andere wiederum stoßen irgendwann in ihrem Leben auf diesen Begriff – und verstehen dadurch, warum sie Gesichter nicht gut zuordnen können. Um wirklich sicher zu sein, dass es sich um Prosopagnosie handelt, können sich Betroffene testen lassen. Bei solchen Tests werden beispiels­weise Gesichter gezeigt, bei denen allerdings lediglich das eigent­liche Gesicht mit Stirn, Kinn, Augen, Nase und Mund zu sehen ist, die bekannten Persönlich­keiten zugeordnet werden sollen. Für Menschen mit Prosopagnosie eine unlösbare Aufgabe.

Nicht nur Brad Pitt leidet darunter

Brad Pitt kennt wahrscheinlich (fast) jeder. Doch wer weiß schon, dass der bekannte Hollywoodstar unter Prosopagnosie leiden soll? Der Schauspieler offenbarte in einem Interview, das er im Jahr 2013 der US-Zeitschrift „Esquire“ gab, dass es ihm große Schwierigkeiten bereite, sich Gesichter zu merken. Seine Vermutung sei deshalb, dass ihn manche Menschen als unfreundlich wahrnehmen würden oder meinten, es fehle ihm an Respekt den anderen gegenüber. Gerade als Person des öffentlichen Lebens sei ihm diese Schwäche besonders un­angenehm.

Auch in der Literatur gibt es Beispiele für eine Gesichtserkennungsschwäche. Ein Beispiel entstammt dem Band 4 „Anne of Windy Poplars“ der Kinderbuchreihe „Anne of Green Gables“ der kanadischen Autorin Lucy Maud Montgomery. In diesem bekannten Werk bekennt einer der Protagonisten: „[…] I’m not like other folks … I can’t recall a face … I can’t see faces as most folks do in their mind. […]“ In Worte gekleidet wird hier, was es für die Betroffenen bedeuten kann, an Prosopagnosie zu leiden – dass sie sich als „anders“ empfinden. Der Satz „Ich bin nicht wie andere Leute“ benennt die Problematik anschaulich.

Doch wie verbreitet ist die Pro­sopa­gnosie? Dr. Martina Grüter erforscht in einem ihrer Schwerpunkte die Gesichtserkennung und ihre Störungen. Die Medizinerin von der Universität Bamberg, affiliiert am Lehrstuhl für allgemeine Psychologie und Methodenlehre, hat in einer Studie mit fast 700 Studenten und Schülern ermittelt, wie hoch der Anteil der Studienteilnehmer mit dieser Schwäche ist. Sie kam dabei zu dem – wie sie selbst einräumt – zunächst etwas ungläubig bestaunten Ergebnis, dass etwa zweieinhalb Prozent der Bevölkerung in Deutschland betroffen seien. Inzwischen sei dieser Wert jedoch allgemein anerkannt – und werde durch eine Vielzahl von persönlichen Erfahrungs­berichten ergänzt.

Fließende Übergänge

Prosopagnosie gibt es sowohl in einer angeborenen als auch in einer erworbenen Form. Die angeborene Prosopagnosie ist vermutlich erblich, da familiäre Häufungen beobachtet werden (s. o.). Bei der erworbenen Form liegen schädigende Ereignisse wie Schlag­anfälle oder Schädelhirntraumata als Auslöser für diese spezielle kognitive Störung vor. Durch diese Ereignisse werden bestimmte Areale im hinteren Bereich des Schläfenlappens geschädigt, die für die Gesichtsverarbeitung verantwortlich sind. Es handelt sich um das fusiforme Gesichtsareal und das occipitale Gesichtsareal.

Zudem sind die Übergänge zu einem „normalen“ Vermögen, Menschen anhand ihres Gesichtes identifizieren zu können, fließend. So gibt es auch Fälle, bei denen nicht mehr von einer „echten“ Prosopagnosie gesprochen werden kann, beispielsweise wenn Betroffene Schwierigkeiten haben, Menschen, die sie nur in bestimmten Zusammenhängen kennen, in einem anderen Kontext wieder­zuerkennen. Ihnen fehlen einordnende Hinweise – und das Gesicht reicht dann nicht oder nur unzureichend für das Erkennen.

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Die Hilfsmerkmale können uns auch in Pandemiezeiten helfen, wenn das Erkennen unserer Kunden aufgrund der Maskentragepflicht erschwert wird.

„Super-Recogniser“ – besondere Fähigkeit hilft Kriminalpolizei

Die Fähigkeit, andere Menschen anhand ihrer Gesichter wieder­erkennen zu können, ist unterschiedlich ausgeprägt. Große Pro­bleme haben Menschen mit entsprechender Schwäche. Andererseits gibt es interessanterweise auch genau das Gegenteil – und diese Super-Fähigkeit kann für die Polizei sehr hilfreich sein. Es handelt sich um sogenannte „Super-Recogniser“, Menschen, die sich überdurchschnittlich gut Gesichter merken können. Wahrscheinlich verfügen zwischen ein bis zwei Prozent der Bevölkerung über diese Fähigkeit. Andere Schätzungen gehen allerdings nur von unter einem Prozent aus. „Super-Recogniser“ können beispielsweise besonders gut Personen in einer großen Menschenmenge ausmachen oder Gesichter in Überwachungsvideos, selbst bei schlechter Videoqualität, zuordnen. Vermutlich ist ihre Fähigkeit erblich. Die Forschung kann dies allerdings noch nicht einwandfrei beantworten. Ganz allgemein sind viele Fragen zu den „Super-Recognisern“ noch offen.

Tipps zum Leben mit Prosopagnosie

Prosopagnosie ist die Unfähigkeit, Personen alleine anhand des Gesichts zu erkennen. Wichtig ist dabei: Menschen mit Gesichts­erkennungsschwäche sind nicht unfreundlich, sie wollen ihre Mitmenschen erkennen. Wie können Betroffene also reagieren? Welche Tipps zum besseren Umgang mit dieser Schwäche gibt es?

Prosopagnosie ist leider weder heil- noch behandelbar. Dennoch kann das Wiedererkennen von anderen Menschen erleichtert werden, indem Betroffene bestimmte Strategien anwenden. Da das Identifizieren einer Person alleine mithilfe des Gesichtes nicht möglich ist, behelfen sie sich, indem sie sich zusätzliche identifizierende Merkmale von Personen besonders aufmerksam einprägen.

So werden die Frisur, die Haar­farbe, die Stimme, typische Mund­bewegungen beim Sprechen, die Kleidung beziehungsweise der Kleidungsstil, die Schuhe oder bestimmte Bewegungsmuster abgespeichert und dann als identifizierende Hilfsmerkmale herangezogen. Auch bestimmte, eventuell sogar auffällige Verhaltensweisen können die Wiedererkennung erleichtern. Der Kunde beispielsweise, der grundsätzlich als erstes auf die Waage steigt, bevor er irgendetwas anderes macht. Beispiele dieser Art gibt es viele im Apothekenalltag. So kann die persönliche Ansprache unserer Kunden auch ohne ein Rezept mit dem Namen als Identifizierungshilfe gut gelingen.

Wer unter einer Prosopagnosie leidet, ist meist erleichtert, wenn eine Diagnose endlich erklärt, was hinter den Gesichtserkennungsproblemen steckt. Die Strategie, individuelle Merkmale zur Identifizierung anderer heranzuziehen, kann helfen, mit der Schwäche besser umgehen zu können. Meist wird diese Möglichkeit instinktiv genutzt. Auch das Ansprechen der Problematik im eigenen Umfeld ist hilfreich. So kann für mehr Verständnis geworben werden. In jedem Fall sollte der Betroffene lernen, die Prosopagnosie anzunehmen – und eventuell vorhandene soziale Ängste abzubauen. |

Inken Rutz, Apothekerin und freie Journalistin

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