Management

Wirgefühl bremst Weiterentwicklung

Wenn die Apotheke unter dem Harmoniebedürfnis des Teams leidet

In Artikeln, Büchern und „Sonntagsreden“ wird zuweilen das Hohelied des Wirgefühls gesungen. Aber es gibt auch Situationen, in denen das viel gepriesene Wirgefühl kontraproduktiv ist und eher negative Konsequenzen zeitigt. Wie sollte man damit umgehen?

Wenn vom Wirgefühl am Arbeitsplatz die Rede ist, meint man damit vor allem die harmonische und vertrauliche Beziehung zwischen der Führungskraft und den Mitarbeitern sowie das kollegiale Verhältnis innerhalb des Teams. Mitarbeiter und Apothekenleiter bilden eine verschworene Gemeinschaft, die fest zusammenhält, und sind beseelt von einem Teamspirit und Teamgeist, der zu einem sonnigen Betriebsklima beiträgt. Der Chef bindet die Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse ein, lässt ihnen Spielräume, betreibt eine offene Kommunikations- und Informationspolitik, bevorzugt und benachteiligt niemanden.

Aufgrund des Wirgefühls werden Herausforderungen transparent diskutiert, in der Teamsitzung angesprochen und so gelöst, dass Win-win-Situationen entstehen. Das Team interpretiert einen Fehler als Startschuss für Lern­prozesse und Verbesserungen, sodass nicht die Suche nach dem Schuldigen im Fokus steht, sondern die Suche nach Optimierungs­möglichkeiten. Ähnliches gilt für Kritik, die der Apotheken­leiter nutzt, um förderliches und konstruktives Feedback zu geben, das den Betroffenen weiterhilft.

Opfer des eigenen Erfolgs

Die Beschreibung der Vorteile und des Nutzens des Wirgefühls ließe sich fortsetzen. Allerdings gibt es Situationen in der Apotheke, in denen das Wirgefühl kontraproduktiv wirken kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Ansicht einer Minderheit – die Meinung ­eines einzelnen Mitarbeiters – nicht akzeptiert wird, weil sie den Teamfrieden stören könnte. Die Mehrheit unterdrückt die andere Meinung, damit das Gemeinschaftsgefühl, das ja zweifelsohne große Vorteile mit sich bringt, keine Risse erleidet.

Ein weiteres Beispiel: Der Wille, das Zugehörigkeitsgefühl nicht zu beeinträchtigen, verhindert, dass der Apothekenleiter gegenüber den Mitarbeitern unbequeme Wahrheiten auszusprechen wagt oder auch einmal Tacheles redet, weil etwas schiefläuft, was nicht schieflaufen darf. Aber müsste nicht gerade der gute Zusammenhalt in der Apotheke dazu führen, dass auch unliebsame Tatsachen thematisiert werden können, ohne dass dadurch Probleme entstehen? Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein, zumindest nicht immer. Denn irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem der Chef davor zurückschreckt, einen Mitarbeiter zurechtzuweisen oder eine prekäre Situation auf den Tisch des Hauses zu legen. Apothekenleiter und Team werden quasi zu Opfern des eigenen Erfolgs, denn das strah­lende Wirgefühl soll und darf nicht auch nur ansatzweise gefährdet werden, so die allgemeine Überzeugung. Und dann werden bestimmte Dinge einfach nicht angesprochen.

Erfolg darf nicht träge machen

Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer hat im Dezember 2021 in einem Interview mit dem „Spiegel“ (Ausgabe 50/2021, S. 76) geäußert, der wirtschaftliche Erfolg habe uns – der Bundes­republik Deutschland – den Blick darauf verstellt, dass wir uns immer wieder infrage stellen, weiterentwickeln und verändern müssten, um Fortschritte zu erzielen. Es ist wie bei einem Fußballteam, das von Erfolg zu Erfolg eilt, sodass sich die Verantwortlichen schließlich nicht mehr trauen, negative Aspekte anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass es brachliegende Optimierungs­potenziale gibt. Entwicklungen und Themen werden verdrängt und totgeschwiegen, um das tolle Gefühl der Teamgemeinschaft nicht in Mitleidenschaft zu ziehen.

Wichtiger als das Wirgefühl

Zurück in die Apotheke: Das Wirgefühl kann den Blick darauf verstellen, dass es Situationen gibt, in denen es Wichtigeres gibt als das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft. Dieser blinde Fleck hängt wohl auch damit zusammen, dass das gute Verhältnis zu den Vorgesetzten und zu den Kollegen für die Mehrheit der Mitarbeiter von großer Relevanz ist. Zu diesem Ergebnis gelangt zumindest die Untersuchung „Arbeitsmotiva­tion 2018“ der Manpowergroup Deutschland, die im Rahmen einer repräsentativen Befragung fest­gestellt hat, dass eine angenehme und kollegiale Arbeitsatmosphäre die Arbeitsmotivation am meisten verstärkt. Und nach einer 2018 weltweit durchgeführten Befragung der Unternehmensberatung Boston Consulting Group bei über 366.000 Personen gehören gute Beziehungen zu den Kollegen (Platz 2) und zu den Vorgesetzten (Platz 5) zu den wichtigsten Faktoren einer hohen Arbeitszufriedenheit.

Vom Umgang mit Minderleistungen

Harmonische Beziehungen am Arbeitsplatz dürfen nicht verab­solutiert werden. Eine Grenze ist überschritten, wenn die Erreichung der Apothekenziele auf dem Spiel steht und die Leistungsfähigkeit der Apotheke in Mitleidenschaft gezogen wird. Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit den eher unterdurchschnittlichen Leistungen eines Mitarbeiters, eines sogenannten Low Performers. Der Low Performer schwimmt mit im wohltuenden Bad des Wirgefühls. Wie jedoch soll der Chef reagieren, wenn die Leistungen stark zu wünschen übrig lassen? In dieser Situation reagiert so mancher unsicher, weil er die Minderleistungen und die Gründe dafür nicht offen ansprechen kann und will – er fürchtet um die Stabilität des Teamgeistes und des Betriebsfriedens, kurz: des Wirgefühls. Was also ist zu tun?

Mit Reflexion ausgewogene Balance finden

Die Herausforderung hierbei ist, ein gesundes Mittelmaß zwischen der Pflege des Wirgefühls und der Berücksichtigung des Leistungsprinzips zu finden. Letztendlich handelt es sich einmal mehr um das alte Dilemma, einerseits die Aufgabenorientierung und andererseits die Menschen- und Mitarbeiterorientierung zu beachten und die beiden Pole auszubalancieren.

Hilfreich in dieser Situation ist die Kompetenz des Apothekenleiters zur Reflexion und Selbstreflexion. Er legt sich in schwierigen Entscheidungssituationen die Frage vor, was momentan von größerer Wichtigkeit ist: die Wahrung des Wirgefühls oder die Thematisierung eines Problems, die gegebenenfalls eine Beeinträchtigung des Gemeinschaftsgeistes nach sich ziehen kann. Ein Patentrezept gibt es nicht, sondern nur die unvoreingenommene Prüfung der Situation.

Eines jedoch darf festgehalten werden: Befinden sich die Apotheke und das Team in einer krisenhaften Situation, wird es mit einiger Wahrscheinlichkeit zielführend sein, das Gemeinschaftsgefühl nach vorne zu rücken und zu stärken, um die Widerstandskräfte aufzubauen, die erforderlich sind, die Apotheke durch die Krise zu manövrieren. Einigkeit macht stark und das Wir hilft, in der Krise zu überleben und zu gewinnen. |

Dr. Michael Madel, freier Autor und Kommunikationsberater

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