DAZ aktuell

Der Anfang vom Ausstieg aus dem Sachleistungsprinzip

Problemfall Hilfsmittelversorgung von Menschen mit Inkontinenz

cm/ral | Die Versorgung von Patienten mit Inkontinenzprodukten stellt Apotheken in vielerlei Hinsicht vor Herausforderungen – nicht zuletzt vor finanzielle. Die aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich verschärfen die Situation und machen die Inkontinenzversorgung wirtschaftlich zum Desaster. AVWL-Chef Thomas Rochell beobachtet derzeit den „Anfang vom Ausstieg aus dem Sachleistungsprinzip“.

Nach Angaben der Deutschen Kontinenz Gesellschaft (DKG) leiden in Deutschland mehr als neun Millionen Menschen an Inkontinenz. „Die meisten sprechen nicht über das Tabuthema – und erhalten deshalb auch keine Hilfe. Sie schweigen und bleiben mit ihren Beschwerden alleine“, schreibt die Fachgesellschaft in einer Broschüre aus dem Jahr 2019. Dabei steht mittlerweile eine Vielzahl wirksamer Heil- und Hilfsmittel für die erfolgreiche Behandlung von Menschen mit Inkontinenz zur Verfügung, betont die DKG.

Neben Verhaltensintervention, opera­tiven Eingriffen, Physiotherapie und medikamentöser Behandlung sind laut der S2e-Leitlinie „Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie“ (Stand: 2. Januar 2019) auch Hilfsmittel wie aufsaugende Inkontinenzprodukte ein wichtiger Baustein für die Betroffenen, um ihre Lebensqualität zu verbessern und weiterhin am sozialen Leben teilhaben zu können. Eine adäquate Versorgung hilft zudem, körperliche Folgen wie Haut­irritationen, Dekubitus und damit verbundene Schmerzen zu verhindern.

Wirtschaftlich nicht darstellbar

Aufsaugende Inkontinenzprodukte beziehen viele Patienten in den Apotheken – doch die Versorgung steht auf wackeligen Beinen. Das wird deutlich am Beispiel Westfalen-Lippe: Dort hat jüngst die AOK NordWest eine Kürzung der Monatspauschalen für die Versorgung ihrer Versicherten um etwa ein Drittel angekündigt. ­Lediglich 11,89 Euro soll es ab dem 1. Februar 2022 noch geben – ein Betrag, für den diese Leistung für die Apotheken nicht mehr wirtschaftlich darstellbar ist. „Das sind Konditionen, bei denen wir einfach sagen müssen: Jetzt geht es nicht mehr“, betont der Chef des Apothekerverbands West­falen-Lippe (AVWL), Thomas Rochell, im Gespräch mit der DAZ. Vertragsverhandlungen, wie sie eigentlich im Sozialgesetzbuch V vorgesehen sind, habe es nicht gegeben, berichtet der AVWL-Vorsitzende. Zumindest nicht, was die Vergütung betrifft. „Da hat die AOK NordWest nicht mit sich reden lassen.“ Die Konsequenz: Der bestehende Vertrag läuft Ende Januar aus, einen Folge­vertrag wird es mit dem Verband zu diesen Bedingungen nicht geben. Apotheken, die weiterhin ihre Stamm­kunden mit Inkontinenzprodukten versorgen wollen, müssen dem Regelwerk separat gegenüber der AOK NordWest beitreten.

Das haben tatsächlich schon einzelne, wenige Betriebe getan, wie Rochell bestätigt. „Es liegt in unserer DNA, Patientinnen und Patienten versorgen zu wollen. Oft kennen die Apothekeninhaberinnen und -inhaber die Betroffenen schon sehr lange, es kommt für sie nicht infrage, diese Menschen im Stich zu lassen. Ich verstehe das gut, mir geht es nicht anders. Als Verband müssen wir allerdings hier ein Signal senden und ‚Stopp‘ sagen, um zu verhindern, dass die Kassen weiter auf Kosten der Patienten sparen.“

Was ist aus dem TSVG geworden?

Aufmerksame DAZ-Leser erinnern sich vermutlich an das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) aus dem Jahr 2019, das aus der Feder von Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stammt. Darin kippte der Gesetzgeber die bis dahin üblichen Ausschreibungen und verankerte in § 127 SGB V Abs. 1 Satz 1 Vertragsverhandlungen der Kassen mit den Leistungserbringern bezüglich der Hilfsmittelversorgung. Nicht mehr nur der Preis, sondern auch Qualitätskriterien sollen dabei eine Rolle spielen, so die Vorschrift. Spahn versprach sich davon spürbare Verbesserungen insbesondere bei der Versorgung von Menschen mit Inkontinenz. Was ist daraus geworden? Nicht viel, meint Rochell. Der große Wurf sei das nicht gewesen. Von einer Beschwerde beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS; ehemals Bundes­versicherungsamt) über die mangelnde Verhandlungsbereitschaft der AOK NordWest – diese Möglichkeit hätte der Verband –, verspricht er sich wenig. „Wir prüfen unsere Möglich­keiten derzeit noch.“ Auch dass ein gewisser gesellschaftlicher Druck aufgebaut wird, stellt Rochell bisher nicht fest. „Diese Menschen haben keine starke Lobby.“ Letztlich müssten also die Versicherten selbst für das Preisdumping der Kassen aufkommen, denn an ihnen bleiben die Mehrkosten hängen. „Das ist der Anfang vom Ausstieg aus dem Sachleistungsprinzip.“

AOK NordWest: Neuer Vertrag verbessert Versorgungsqualität

Was sagt die beteiligte Kasse zum Sachverhalt? „Die AOK NordWest prüft und bewertet insbesondere im Interesse an einer qualitativ hochwer­tigen und gleichzeitig zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung ihrer Versicherten die bestehenden Verträge im Bereich der Hilfsmittelversorgung“, antwortet sie auf Anfrage der DAZ. Dabei berücksichtige sie Aspekte wie Service und Dienstleistung, aber auch anfallende Mehrkosten für die Versicherten. Im Zuge dieser Bewertungen „sind wir zu dem Entschluss gelangt, dass die Versorgung der Versicherten mit aufsaugenden Inkontinenzhilfen dringenden Handlungsbedarf aufweist“. Der neue Vertrag enthalte zusätzliche Qualitätsmerkmale. So stehen den Versicherten zwei geeignete, mehrkostenfreie Produktmuster zu, die Beratung durch den Leistungserbringer muss umfassend dokumentiert werden, die Lieferung hat verpflichtend innerhalb von 48 Stunden zu erfolgen und spätestens nach vier Wochen steht eine Abfrage an, ob der Kunde mit der Service- und Produktqualität zufrieden ist.

Was die Preise betrifft, beruft sich die AOK NordWest auf „Verhandlungen mit kleineren, aber auch bundesweit tätigen Leistungserbringern“ – darunter auch Apotheken. „Bei der Kalkulation der neuen Preise sind auf unserer und auf der Seite der Verhandlungspartner die bisherigen Versorgungsmengen, die Einkaufspreise, aber auch die nötigen Service- und Dienstleistungsaspekte berücksichtigt worden.“ Sie unter­lägen „einer ausführlichen Mischkalkulation. Die Verhandlungspartner haben uns ausdrücklich zugesichert, dass die Preise eine auskömmliche, wirtschaftliche, zweckmäßige und gleichermaßen qualitativ hochwertige Versorgung der Versicherten gewährleisten“.

BVMed beklagt Preisdumping

Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) sieht ebenfalls Handlungsbedarf bei der Inkontinenzversorgung – jedoch aus einer völlig anderen Perspektive als die AOK NordWest. „Die ambulante und stationäre Versorgung gesetzlich Krankenversicherter, die unter Harn- oder Stuhlinkontinenz leiden, bleibt weit hinter den Anforderungen aktueller medizinischer Leitlinien und Pflegestandards an Inkontinenzhilfsmittel zurück, die eine möglichst individuelle Versorgung fordern“, kritisiert der Verband in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2020. „Eine solche Versorgung erhält oft nur, wer bereit ist, die Differenz zwischen Kassenerstattung und tatsächlichem Preis aus eigener Tasche zu zahlen. Hier tut sich ein Widerspruch zwischen dem Sachleistungsanspruch des Fünften Sozialgesetzbuches (§ 33 SGB V), der eine Versorgung auf aktuellem Niveau intendiert, und der Realität auf.“ Die Versorgung sei aktuell durch Beitrittsverträge gekennzeichnet, die sich von der Erstattungshöhe eher an ehemaligen Ausschreibungen orientierten. Eine Umkehr der Preisspirale sei mit Wegfall der Ausschreibungen nicht eingetreten. Vielmehr habe sich die durchschnittliche Erstattungshöhe in den letzten fünf Jahren um nahezu ein Viertel reduziert. „Eine Versorgung, die den individuellen Anforderungen des einzelnen Patienten gerecht wird, ist zu Dumpingpreisen nicht möglich“, so der BVMed.

Was darf ein Inkontinenzprodukt kosten?

Die Monatspauschalen liegen nach Angaben des BVMed bei Verhandlungs- beziehungsweise Beitrittsverträgen im ambulanten Bereich zwischen 23,95 Euro und weniger als 10 Euro netto – Tendenz fallend. Von diesem Geld entfalle nur ein Bruchteil auf die Hilfsmittel, denn der mit den Verträgen vereinbarte Leistungsumfang umfasst weit mehr als das Inkontinenzprodukt:

  • Individuelle Beratung des Patienten
  • Ermittlung des individuellen Bedarfs
  • Kostenlose Bemusterung des Patienten
  • Dokumentation des gesamten Ver­sorgungsprozesses
  • Einzug der Patienten-Zuzahlung
  • Administrative Zusammenarbeit mit der Krankenkasse
  • Lagerhaltung und Logistik
  • Versand an den Patienten

Für diese Posten veranschlagt der BVMed etwa 6 bis 8 Euro netto. Vor diesem Hintergrund macht der Verband eine Modellrechnung auf. Darin geht er von einer Pauschale von 15 Euro aus. Davon werden entsprechend 7 Euro abgezogen, es bleiben also 8 Euro übrig. Benötigt der Versicherte zum Beispiel 100 Inkontinenzprodukte pro Monat – grob bedeutet das, er wechselt sie dreimal täglich –, stehen pro Hilfsmittel folglich noch 8 Cent zur Verfügung. „Zum Vergleich: Eine wesentlich ein­facher herzustellende Babywindel kostet derzeit im Einzelhandel ohne Mehrwertsteuer rund 17 Cent“, so der BVMed. Gleichzeitig stiegen die Produktionskosten kontinuierlich an, zum Beispiel für die Herstellung (Rohstoffe, Personal, Transport- und Logistik, Produktion) und Dienstleistungen.

Dem Verband drängt sich die Frage auf, weshalb sich Leistungserbringer angesichts des enormen Kostendrucks aus sinkenden Versorgungspauschalen einerseits und steigenden Kosten andererseits den finanziellen Erwartungen der Krankenkassen beugen. Die Antwort gibt er sodann selbst: „Die Einkaufsmacht der Krankenkassen lässt den Firmen kaum eine andere Wahl. Die Alternative zur Teilnahme ist oft nur das Ausscheiden aus dem Markt.“ Zudem sei die Inkontinenzversorgung für den Fachhandel nur ein Teil seines Hilfsmittelgeschäfts. „Er hofft, ein eventuelles Verlustgeschäft durch wirtschaftliche Aufzahlungen und ertragreiche Produktgruppen quer­subventionieren zu können.“

Marktverengung auch eine Gefahr für die Kassen

Der BVMed hat naturgemäß insbesondere die Interessen der Hersteller im Blick. Wie bei den Apotheken zeichne sich auch hier eine Marktverengung ab: Immer mehr Anbieter geben demnach angesichts steigender Anforderungen bei sinkenden Erlösen auf. „Die Konsequenz für die Versicherten: Wechsel zu anderen Versorgern, weniger Auswahl, häufig keine wohnortnahe Versorgung mehr.“ Aber auch Krankenkassen begeben sich durch die ständig sinkende Anzahl an Leistungserbringern in Abhängigkeiten zu den verbleibenden Leistungserbringern – „ein bis jetzt unterschätztes Risiko“. |

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