Aus den Ländern

Primärversorgung – Chance und Herausforderung für Apotheken

Für eine optimale Versorgung der Menschen vor Ort

Pharmazeutische Dienstleistungen müssen in neu gestalteten Primärversorgungseinrichtungen eine wichtige Rolle spielen. So das Fazit der Online-Veranstaltung „Gesundheit, Kommune, Apotheke – wie passt das zusammen?“, veranstaltet vom Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) am 10. November 2021.

Primärversorgung ist ein Konzept der Weltgesundheitsorganisation WHO: Primary Health Care soll die erste Kontaktmöglichkeit des Einzelnen, der Familie und der Gemeinde mit dem nationalen Gesundheitssystem sein. Die Erstversorgung soll so nah wie möglich an den Lebenswelten der Menschen angesiedelt sein, so heißt es in der Deklaration von Alma Ata (WHO 1978). Hintergrund ist die Erkenntnis, dass viele Menschen die Möglichkeiten, die das Gesundheits- und Sozialwesen bieten, nicht nutzen können, sei es aus finanziellen, kognitiven, sprachlichen oder auch kulturellen Gründen. Ein gut funktionierendes Primärversorgungssystem, das den Menschen niedrigschwellig zur Ver­fügung steht oder sie sogar abholt, kann die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt verbessern.

In der Bundesrepublik sind zwar die Hausärztinnen und Hausärzte der Anker der Primärversorgung. Aber gerade in sozial benachteiligten Stadtquartieren und im ländlichen Raum sind für viele Menschen schon der Besuch eines Arztes eine hohe Hürde. Außerdem stehen Hausärztinnen und Hausärzte längst nicht mehr überall ausreichend zur Verfügung.

Neu sind Primärversorgungseinrichtungen in der Bundesrepublik, die nicht nur die medizinische Erstver­sorgung sicherstellen, sondern die gleichzeitig den Nachfragenden die Möglichkeit eröffnen, Angebote der Gesundheitsförderung und der sozialen Sicherung vor Ort kennenzulernen. Außerdem wirken diese Einrichtungen in die Quartiere hinein, um dort die Verhältnisse zu verbessern und gleichzeitig weitere kommunale Politikfelder einzubinden. Beispiele sind die Poli­klinik Veddel in Hamburg sowie die von der Robert Bosch-Stiftung geförderten „Patientenorientierten Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung“.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Wohle Benachteiligter

Prof. Dr. Kerstin Hämel, Gesundheitswissenschaftlerin aus Bielefeld berichtete, in welchen Ländern die Idee der Primärversorgung schon umgesetzt wurde und zeigte anhand von Beispielen aus Spanien und Brasilien, welche Vorteile dies für die Gesundheit der Bevölkerung hat. Wesentliches Merkmal ist neben der Primärversorgung die Gesundheitsförderung und vor allem die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Zentren.

Michaela Schmidtke aus dem Gesundheitsamt der Städteregion Aachen stellte den Plan der Stadt Aachen und der umliegenden Städte und Gemeinden vor, wie dort eine solche Primärversorgung auf den Weg gebracht werden soll. Vorbild ist hier der „Gesundheitskiosk“ Billstedt/Horn aus Hamburg, der zwar keine medizinische oder therapeutische Versorgung anbietet, der aber mit ärztlichen Angeboten vernetzt ist, sodass den Nachfragenden entsprechende Angebote gemacht werden können. Auch hier ist es zentrales Anliegen, sozial Benachteiligte dorthin zu vermitteln, wo ihnen am besten geholfen wird, und ihnen Mut zu machen, die vorhandenen Angebote anzunehmen. In Aachen ist man noch auf dem Weg, in Köln-Chorweiler steht mit der sogenannte Kümmerei bereits ein solches Angebot zur Verfügung. In Essen, Duisburg und Bochum sind weitere Projekte dieser Art auf dem Weg. Dem Vorbild der Poliklinik in Hamburg folgen Modelle in Berlin, Köln, Leipzig und Dresden.

Sabine Haul aus Hamburg zeigte in ihrem Beitrag, welche Bedeutung pharmazeutisches Engagement hat, sollen die Menschen vor Ort optimal versorgt werden. Denn Arzneimittel spielen fast immer eine wichtige Rolle zur ­Behandlung von Krankheiten, zur Schmerzlinderung oder zur Vorbeugung von Erkrankungen. Dies wird aber von den Planern der neu entstehenden Primärversorgungseinrichtungen nicht immer gesehen. Deshalb, so Haul, sei es notwendig, dass Pharmazeutinnen und Pharmazeuten vor Ort mit den Verantwortlichen ins Gespräch kommen. Es müsse deutlich gemacht werden, dass bereits jetzt, aber vor allem vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des absehbaren Fachkräftemangels, alle vorhandenen Kräfte gebündelt und optimal in interprofessioneller Zusammenarbeit die Probleme lösen. Gerade in sozial benachteiligten Quartieren sei der Bedarf besonders hoch. Aber bei richtigem Einsatz der vorhandenen Kompetenzen könnten die meisten Gesundheitsgewinne für die Bevölkerung erzielt werden. Hinzu komme, dass die vor Ort verankerten Apotheken durch ihre fachlichen Kompetenzen und vor allem aufgrund des hohen Vertrauens, dass die Bevölkerung dem Apothekenpersonal entgegenbringt, prädestiniert sind, in solchen lokalen und regionalen Primärversorgungseinrichtungen mitzuarbeiten.

In der Diskussion mit den drei Referentinnen wurde deutlich, dass in der Bundesrepublik die Idee der Primärversorgung im Sinne der WHO bislang nur rudimentär verankert ist, dass aber durch die sich jetzt entwickelnden Initiativen in Städten und Landkreisen ein verheißungsvoller Weg erkennbar wird. Dabei werden die Kommunen und hier der Öffentliche Gesundheitsdienst eine wichtige Rolle spielen müssen. Dass Apotheken und damit pharmazeutisches Know-how automatisch eingebunden wird, ist wenig wahrscheinlich. Es bedarf überzeugender Angebote der Apotheken vor Ort, wenn sie von den Verantwortlichen aufgegriffen werden sollen. Dass pharmazeu­tische Kompetenzen aber nicht außen vor gelassen werden dürfen, konnte Sabine Haul überzeugend darlegen. Wenn ein solches Angebot steht, würden sich auch Möglichkeiten gut begründen lassen, warum ein solches Engagement strukturell und auf Dauer gefördert werden müsse. Die Ansätze über den Notdienstfonds und demnächst über die pharmazeutischen Dienstleistungen sind dabei ein guter Anfang. Damit kann es gelingen, dass Apotheken und pharmazeutische Dienstleistungen ein wichtiges Element der Primärversorgung werden, wie es in anderen Ländern bereits der Fall ist.

Ein ausführlicher Bericht über die Veranstaltung folgt im kommenden Rundbrief (Ausgabe 112) des VdPP im Januar 2022 unter www.vdpp.de |

Esther Luhmann, VdPP-Vorstandsreferentin, Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten e. V. (VdPP)

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