Arzneimittel und Therapie

Mehr Sicherheit für Erdnussallergiker

Spezifische Immuntherapie ist mit Palforzia® seit November verfügbar

Seit dem 1. November 2021 ist es so weit: In spezialisierten Gesundheitszentren können an einer Erdnussallergie leidende Kinder und Jugendliche im Alter zwischen vier und 17 Jahren mit der ersten zugelassenen oralen Immuntherapie Palforzia® therapiert werden. Welchen Therapieerfolg das Arzneimittel in den Studien erzielte und welche Fallstricke es bei der Anwendung gibt, lesen Sie im Folgenden.
Foto: Tanawut/AdobeStock

In Deutschland leiden schätzungsweise 1,6% aller Kinder an einer Erdnussallergie.

Der Begriff Allergie stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „Fremdreaktion“ (állos: „fremd“ und érgon: „Reaktion“). Unzählige Arten von Allergien auf unterschiedlichste Auslöser (Allergene) sind bekannt. Sie alle haben gemeinsam, dass der Körper mit einer überschießenden, krankhaften Abwehrreaktion des Immunsystems auf körperfremde, eigentlich harmlose Umweltstoffe reagiert. Bei einer Erdnussallergie ist das enthaltene Erdnussprotein der Auslöser dieser Reaktion. Die Erdnussallergie ist eine Nahrungsmittelallergie vom Typ I (s. Abb. 1). Typisch ist ein Auftreten der allergischen Symptome unmittelbar nach oder bereits beim Verzehr von Erdnüssen. Weil Erdnüsse im Vergleich zu anderen Lebensmitteln ein sehr hohes allergenes Potenzial haben, können bereits kleinste Mengen von Erdnussprotein reichen, um lebensbedrohliche Reaktionen bei den Betroffenen hervorzurufen. Die Erdnussallergie ist damit innerhalb der Gruppe von Allergien eine der Hauptursachen für allergiebedingte Todesfälle. Häufig tritt sie schon im Kindesalter auf und bleibt oft – im Gegensatz zu vielen anderen Nahrungsmittelallergien – lebenslang bestehen. Die Prävalenz von Erdnussallergien ist stark steigend und hat sich in Europa zwischen 2005 und 2015 verdoppelt, die Häufigkeit von Krankenhauseinweisungen sogar versiebenfacht.

Abb. 1: Typ-1-Reaktionen treten innerhalb weniger Minuten bis zu einer Stunde nach Exposition auf und werden daher auch Sofortreaktionen genannt. Bei Kontakt mit dem Allergen kommt es zunächst zu einer starken Immunglobulin(Ig)E-Bildung. Diese binden über ihr Fc-Stück an die Oberfläche von Mastzellen. Bei erneutem Antigenkontakt kommt es zur Überbrückung zweier Antigenbindungsstellen. Über verschiedene Mechanismen werden dann hochaktive Mediatoren (z. B. Histamin, Bradykinin, Serotonin und Leukotriene) aus den Mastzellen freigesetzt, die über eine erhöhte Gefäßpermeabilität Ödeme und Nesselsucht, aber auch lebensbedrohliche Bronchokonstriktionen auslösen. (Abb. nach Mutschler et al.)

Einmal allergisch, immer allergisch?

Allgemein sind Allergien gut behandelbar. Neben der Allergenkarenz (konsequente Vermeidung des Allergens) und einer medikamentösen Therapie mit beispielsweise Antihistaminika, Adrenalin oder Glucocorticoiden ist auch eine ursächliche Therapie möglich. Anstatt wie bei der medikamentösen Therapie die Symptome zu mildern, ist die Hyposensibilisierung – auch spezifische Immuntherapie (SIT) oder „Allergie-Impfung“ genannt – die einzig verfügbare kausale Therapie von Typ-I-Allergien. Und die Erfolgschancen sind gut. Bei einer Hyposensibilisierung wird der Körper langsam und vorsichtig an das Allergen „gewöhnt“. Man setzt den Patienten hierfür unter kontrollierten Bedingungen dem Allergen in unterschwelligen, langsam ansteigenden Konzentrationen aus und trainiert damit das Immunsystem, nicht mehr überempfindlich auf den harmlosen Stoff zu reagieren. Auf immunologischer Ebene wird die Typ-I-Allergie-typische, Allergen-spezifische IgE-vermittelte Reaktionsbereitschaft des Immunsystems herabgesetzt. Verabreicht werden die Allergene in der Regel entweder subkutan oder sublingual.

Erste spezifische Immun­­­therapie bei Erdnussallergie

Am 17. Dezember 2020 erteilte die Europäische Kommission die Zulassung für Palforzia®, das erste spezi­fische Immuntherapeutikum gegen Nahrungsmittelallergie in Europa und folgte damit der Empfehlung des Humanarzneimittelausschusses. Die FDA erteilte die Zulassung für die USA bereits am 31. Januar 2020. Seit dem 15. Oktober 2021 ist es nun auch in den deutschen Apotheken verfügbar. Die europäische Zulassung gilt für Kinder im Alter von vier bis 17 Jahren mit diagnostizierter Erdnussallergie. Auch bei über 18-Jährigen darf die Behandlung fortgeführt werden, wenn sie vor dem 18. Geburtstag begonnen wurde. Zulassungsinhaber ist Aimmune, eine Tochter der Nestlé-Pharmasparte Nestlé Health Science.

Wie wirkt Palforzia?

Die orale Arzneiform enthält als Wirkstoff entfettetes Erdnussproteinpulver (Arachis hypogaea L.) und steht in sechs unterschiedlichen Dosierungen zur Verfügung: 0,5 mg, 1 mg, 10 mg, 20 mg, 100 mg, 300 mg in Kapseln oder im Beutel (300 mg). Wie bei an­deren Desensibilisierungen erfolgt die Therapie mit steigenden Dosen des Allergens, um die Toleranz zu erhöhen. Die niedrigste Dosierung von 0,5 mg entspricht der Menge an Erdnussprotein aus 1/600stel einer einzigen Erdnuss. Die höchste Dosierung von 300 mg entspricht demnach einer ganzen Erdnuss.

Therapie in drei Phasen

Die Therapie besteht aus drei Stufen: der initialen Aufdosierung, der Dosissteigerung und der Dosiserhaltung (s. Abb. 2). Besonders die ersten beiden Phasen erfordern eine sorgfältige ärztliche Überwachung. Neben der initialen Aufdosierung sollte auch die erste Dosis jeder neuen Dosissteigerungsstufe in der Arztpraxis erfolgen. Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass die danach zu Hause eingenommenen Kapseln aus der gleichen Charge stammen. Hierdurch sollen Dosisschwankungen vermieden werden. Für die initiale Aufdosierung werden in jeweils 20- bis 30-minütigen Abständen 0,5 mg, 1 mg, 3 mg und 6 mg innerhalb eines Tages eingenommen. Bei guter Toleranz des Patienten startet bereits am darauffolgenden Tag die Phase der Dosissteigerung mit 3 mg Erdnussproteinpulver. Diese Dosis wird dann für zwei Wochen beibehalten, bevor sie weiter auf 6 mg gesteigert wird. Im gleichen Zeitschema von jeweils zwei Wochen wird – sofern toleriert – weiter gesteigert auf 12 mg, 20 mg, 40 mg, 80 mg, 120  mg, 160 mg, 200 mg, 240 mg und schlussendlich auf 300 mg. Bei gutem Therapieverlauf wird die Maximaldosis von 300 mg also nach 20 Wochen erreicht. Für den Fall, dass eine Dosisstärke nicht toleriert wird, wird ärztlich und patientenindividuell über das weitere Vorgehen entschieden: eine Verlängerung der Dosisstufe über mehr als zwei Wochen, eine Reduktion der Dosis oder ein Aussetzen. Für den Fall, dass auch 300 mg Erdnussproteinpulver vertragen werden, beginnt die Erhaltungsphase mit 300 mg täglich. Wichtig ist, dass der Patient sich über die komplette Therapiedauer erdnussfrei ernährt.

Abb. 2: Die Behandlung mit Palforzia® erfolgt in drei aufeinanderfolgenden Phasen. (Quelle: Aimmune Therapeutics Germany)

Besonderheit: Einnahme ohne Kapselhülle

Eine Besonderheit, die eine gute Patientenschulung erfordert, ist, dass die aus Hydroxypropylmethylcellulose bestehende Kapselhülle nicht mit eingenommen werden soll. Darauf wird in der Produktinformation explizit verwiesen, außerdem wird im Beipackzettel erklärt, wie die Kapseln zu öffnen sind. Um das Einatmen des Pulvers zu vermeiden, soll es nach Öffnung der Kapsel in wenige Löffel halbfester/ cremiger/ breiiger Nahrung wie Joghurt oder Fruchtmus eingerührt werden. Dagegen sollten Flüssigkeiten wie Milch, Wasser oder Saft bei der Zubereitung vermieden werden. Nach der Einnahme sollten die Hände gut gewaschen werden. Jede Einnahme zu Hause sollte – bevorzugt abends – zur gleichen Uhrzeit und zusammen mit einer Mahlzeit eingenommen werden. Nach verschiedenen Altersgruppen aufbereitetes Schulungsmaterial wird von der Firma Aimmune zur Verfügung gestellt.

Verordnung nur in Kombination mit Adrenalin-Pen

Allergiker ihrem Allergen auszusetzen, birgt Risiken, und unterschiedlich starke Überempfindlichkeitsreaktionen sind zu erwarten. Typischerweise setzen die Reaktionen in den ersten beiden Stunden nach Einnahme des Pulvers ein und sind im Normalfall leicht bis mäßig ausgeprägt. Für den Fall einer schwereren Reaktion wird allerdings obligatorisch ein Adrenalin-Pen zur Selbstinjektion mit verordnet. Bezüglich der ersten Anzeichen einer allergischen Reaktion und der Handhabung des Auto-Injektors ist eine sorgfältige Patientenschulung unbedingt notwendig. Das körpereigene Stresshormon sorgt im Notfall dafür, dass die durch die Anaphylaxie erweiterten Blutgefäße sich wieder verengen und der Blutdruck ansteigt.

Welche Nebenwirkungensind zu erwarten?

Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Bauchschmerzen (knapp 50%) und Rachenreizungen (40,7%). Rund ein Drittel der Probanden berichtete außerdem über Juckreiz und Übelkeit, etwas seltener traten Erbrechen und Nesselsucht (28,5%) auf. Zeitlich gesehen traten die Nebenwirkungen in der initialen Aufdosierung (45,1%) und in der Erhaltungsphase (57,7%) weniger häufig auf als während der Dosissteigerung (85,7%). Die Ergebnisse der Zulassungsstudien deuten außerdem darauf hin, dass Kinder die Immuntherapie besser vertragen als Jugend­liche. Systemische allergische Reaktionen traten bei 11,9% der Kinder bis elf Jahre und bei 21,9% der Jugendlichen auf. Insgesamt brachen 10,5% der Probanden die Studie aufgrund von Nebenwirkungen ab, in 1,6% der Fälle führten die Nebenwirkungen zum Behandlungsabbruch.

Foto: Aimmune

Wirksamkeit in zwei Phase-III-Studien belegt

Der Zulassungsinhaber Aimmune hat den positiven Nutzen der Desen­sibilisierungstherapie in zwei doppel­blinden, randomisierten und placebokontrollierten klinischen Phase-III-Studien (ARTEMIS und PALISADE) belegt. Die ARTEMIS-Studie umfasste 175 Teilnehmer, bei PALISADE waren es 499 Teilnehmer. Alle Probanden waren zwischen vier und 55 Jahre alt und Erdnussallergiker. Ausgeschlossen wurden Patienten, die innerhalb von 60 Tagen vor Studienbeginn unter schweren Anaphylaxien oder an schwerem Asthma litten. Die Erhaltungstherapie mit 300 mg erfolgte in der PALISADE-Studie über sechs Monate, die der ARTEMIS-Studie über drei Monate. Zu Beginn und am Ende der Studie wurden die Probanden einer doppelblinden, placebokontrollierten Nahrungsmittelprovokation unterzogen. Der betrachtete primäre Endpunkt war in beiden Studien der Anteil der Studienteilnehmer zwischen vier und 17 Jahren, die im Rahmen der Nahrungsmittelprovokation bei Studienende eine einzelne Höchstdosis von mindestens 1000 mg Erdnussproteinpulver (entsprechend ca. drei Erdnüssen) tolerierten und dabei maximal leichte allergische Symptome zeigten. Dies war bei 50,3% in der PALISADE-Studie und 58,3% in der ARTEMIS-Studie schlussendlich der Fall. Unter Placebo waren es jeweils 2,4% und 2,3%. Die Weiterführung der Erhaltungs­dosis von 300 mg täglich über zwölf und 18 Monate steigerte die Toleranz von 1000 mg bei den Probanden sogar auf 79,8% bzw. 96,2% (ARTEMIS).

Palforzia® kann also als erstes ursächlich wirkendes Arzneimittel gegen Erdnussallergie vielen Betroffenen nach erfolgreicher Behandlung eine absolute Allergenkarenz und die damit verbundenen Herausforderungen ersparen. |

Literatur

Fachinformation Palforzia®, Stand der Information Juli 2021

Hourihane J et al. Efficacy and safety of oral immunotherapy with AR101 in European children with a peanut allergy (ARTEMIS): a multicentre, double-blind, randomised, placebo-controlled phase 3 trial. The Lancet Child & Adolescent Health 2020;10:728-739

Mutschler M, Geisslinger G, Kroemer HK, Ruth P, Schäfer-Korting M. Mutschler – Arzneimittelwirkungen. 9. Auflage 2008, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgar

The PALISADE Group of Clinical Investigators. AR101 oral immunotherapy for peanut allergy. N Engl J Med 2018;379:1991-2001

Apothekerin Leonie Vormittag

Das könnte Sie auch interessieren

Erste Orale Immuntherapie bei Erdnussallergie

EU lässt Palforzia gegen Erdnussallergie zu

epikutane Immuntherapie

„Erdnusspflaster“ gegen Allergie

Kleinkinder mit Erdnussallergie profitieren von epikutaner Immuntherapie

Erdnuss zum Aufkleben

Eine orale Hyposensibilisierung von Erdnussallergikern zeigt Erfolge

Erdnüssen ihren Schrecken nehmen

Orale Immuntherapie gegen Erdnussallergie erweist sich als vielversprechend

„… darf Spuren von Erdnüssen enthalten“

Prävention einer Nahrungsmittelüberreaktion

Lässt sich Erdnussallergie durch frühe Exposition vermeiden?

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.