Aus den Ländern

Von traditionellen Heilpflanzen zu modernen Phytopharmaka

Pharmaziehistorische Biennale der DGGP in Detmold

Vom 8. bis 10. Oktober 2021 fand die Biennale der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (DGGP) zum Thema „Heilpflanzen im Wandel der Zeiten“ in der ostwestfälisch-lippischen Kulturstadt Detmold statt. DGGP-Präsident Prof. Dr. Ulrich Meyer, Vizepräsident der Apothekerkammer West­falen-Lippe Frank Dieckerhoff und Bürgermeister Frank Hilker begrüßten die rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Samstagvormittag im Detmolder Sommertheater. Für musikalische Unterhaltung sorgte ein Posaunenquartett der Hochschule für Musik.

Die normalerweise zweijährlich abgehaltene Tagung musste aufgrund der COVID-19-Pandemie mehrmals verschoben werden, bot aber dank hervorragender Organisation des Veranstalters Christian Schmidt zahlreiche Möglichkeiten zu wissenschaftlichem Austausch, anregenden Diskussionen und kulturellen Aktivitäten.

Frühneuzeitliche Heilpflanzenforschung in Westfalen

Auf die besondere Bedeutung West­falens für die Heilpflanzenforschung im 18. und 19. Jahrhundert machte Prof. Dr. Christoph Friedrich (Marburg) im Eröffnungsvortrag am Samstag­vormittag aufmerksam. In Westfalen erfolgte nicht nur 1820 die Gründung des „Apothekervereins im nördlichen Teutschland“ und 1822 dessen Zeitschrift „Archiv des Apothekervereins in Teutschland“, in der zahlreiche Beiträge zur Arzneidrogenforschung erschienen, sondern hier wirkte auch der Paderborner Apothekergehilfe Friedrich Wilhelm Sertürner (1783 – 1841), der 1804/05 auf der Suche nach dem schlafmachenden Prinzip des Opiums Morphin entdeckte und damit den Weg für die nachfolgende Alkaloid- und Wirkstoffforschung bereitete. Neben Sertürner erwähnte Friedrich weitere westfälische Alkaloidforscher, darunter den Salzufler Apotheker Rudolph Brandes (1795 – 1842), der 1819 das Delphinin entdeckte.

Zuletzt wies Friedrich darauf hin, dass sich auch der Bielefelder Apo­theker und Lebensmittelfabrikant August Oetker (1862 – 1918) in jungen Jahren der Pflanzenforschung wid­mete. Dieser wurde 1888 mit einer botanischen Arbeit an der Universität Freiburg promoviert.

Mitgliederversammlung

Neben den üblichen Regularien stellte Prof. Dr. Axel Helmstädter auf der Mitgliederversammlung der DGGP das in Gründung befindliche Institut für Geschichte der Pharmazie und Medizin der Philipps-Universität Marburg vor, das seit Anfang des Jahres von Prof. Dr. Tanja Pommerening geleitet wird. Pommerening konnte neben zusätz­lichen Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch eine weitere W2-Professur für Geschichte der Medizin und Pharmazie/Arzneimittelgeschichte der Neuzeit verhandeln, die derzeit ausgeschrieben ist. Damit verbunden ist auch eine Neuausrichtung der Lehre, die erstmals gemeinsame Lehrveranstaltungen für Pharmazie- und Medizinstudierende vorsieht, um sowohl fächerübergreifende Inhalte zu vermitteln als auch die Kommunikation zwischen Studierenden beider Studiengänge zu stärken.

Wissenschaftliche Erschließung des Corpus Galenicum

Die Schriften des römischen Arztes Galen von Pergamon (129 – ca. 216 n. Chr.) bilden die Basis eines der beständigsten Lehrgebäude in der Geschichte der Medizin. Darüber hinaus stellen sie eine bisher nur wenig erforschte Quelle für pflanzliche Drogen und Heilpflanzen dar. Wie Dr. Maximilian Haars (Marburg) in seinem Vortrag zeigte, umfasst die Gesamtzahl der Einzelerwähnungen pflanz­licher Drogen im Corpus Galenicum über 30.000 Stellen, wovon viele aus Exzerpten älterer Pharmakologen stammen, die nur zu kleinen Teilen überliefert sind. Hierzu zählt beispielsweise eine in Hexametern abgefasste Schrift über Heilkräuter von Rufus von Ephesos (ca. 100 n. Chr.), aus der Galen nur einzelne Verse zitiert. Haars gab einen Überblick über die in Galens Werk am häufigsten genannten Pflanzenfamilien und erklärte, wie Galen Arzneidrogen anhand ihrer Wirkqualitäten und Potenziale systematisierte. Galens Forschungs­ansatz, der in der Vergangenheit von einigen Medizinhistorikern als Spekulation verkannt wurde, sei im Gegenteil von einem hohen Maß an Empirie geprägt, denn er vertraute bei der Prüfung von Drogen seiner Beobachtungsgabe und Sinneswahrnehmung, statt sich an Trugschlüssen zu orientieren.

Symbolik, Kultur und Religion traditioneller Heilpflanzen

Prof. Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Heidelberg) referierte über die Signaturenlehre Oswald Crolls (1560 – 1609) als Methode der Heilmittelfindung im kosmologischen Kontext der Frühen Neuzeit. Während sich erste Ansätze der Signaturenlehre bereits in Werken antiker Autoren wie Plinius d. Ä. (1. Jh. n. Chr.) oder Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) nachweisen lassen und Signaturen auch in der Arzneimitteltherapie des Mittelalters eine gewisse Bedeutung einnahmen, befasste sich erst Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1492/93 – 1541), in seinem Werk „De natura rerum“ im 16. Jahrhundert ausführlicher mit der Vorstellung des „Gezeichnetseins“ der Dinge. Hier widmete er sich der Signatur aus den Gestirnen sowie der Signatur der Heilpflanzen, aus denen ein Arzt Rückschlüsse auf deren Kräfte ziehen konnte. Neben Para­celsus beschäftigte sich vor allem Giambattista della Porta (1535 – 1615) in seinem 1588 veröffentlichten Werk „Pytognomonica“ mit Signaturen bei Pflanzen. Oswald Croll verknüpfte die Signaturenlehre schließlich mit neoplatonischen und hermetischen Traditionen und gründete seine Theorie auf einen hierarchisch gestalteten Kosmos, in dem die jeweils niedrigere Hierarchie von der höheren eingeschlossen ist. Für Ähnlichkeitsrela­tionen bedeutete dies, dass äußere Merkmale auf ähnliche Wirkquali­täten im Inneren hinweisen.

Die äußere Gestalt und Symbolik pflanzlicher Drogen spielt auch in der Bibel eine bedeutende Rolle, wie Roxana Schumann (Düsseldorf) in ­ihrem Vortrag „Früchte der Bibel in der Materia medica“ nachwies. Anhand der traditionellen Fruchtdrogen Feige, ­Olive und Zitronatzitrone skizzierte Schumann die Geschichte der Arzneidrogen bis hin zur modernen Analytik vor ihrem jeweiligen religiös-kulturellen und pharmazeutischen Hintergrund.

Ehrungen

Foto: Christian Schmidt

Verleihung der Johannes-Valentin-Medaille Dr. Ingrid Pieroth, Prof. Dr. Frank Leimkugel, Ulrich Koppitz, Stefan Wulle, Friedrich Wilhelm Wagner, Dr. Gabriele Beisswanger, Prof. Dr. Ulrich Meyer (von links)

Traditionsgemäß werden auf der Pharmaziehistorischen Biennale jeweils zwei Personen für das laufende und das zurückliegende Jahr bzw. für die zurückliegenden Jahre mit der Johannes-Valentin-Medaille ausgezeichnet. Für herausragende wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Pharmaziegeschichte erhielten für 2019 Prof. Dr. Frank Leimkugel und für das Jahr 2020 Prof. Dr. François Ledermann die Johannes-Valentin-Medaille in ­Silber. Dr. Ingrid Pieroth erhielt die ­Johannes-Valentin-Medaille in Bronze für das Jahr 2019, Ulrich Koppitz für 2020 und Friedrich Wilhelm Wagner sowie Stefan Wulle für 2021.

Prof. Dr. Christoph Friedrich, der von 2004 bis 2012 als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie wirkte, wurde zum Ehrenpräsidenten der DGGP ernannt und Sieglinde Remane zum korrespondierenden Mitglied.

Dr. Stefanie Bomann-Degen (Marburg) widmete sich der Geschichte pflanz­licher Aphrodisiaka. Diese spielen seit jeher eine bedeutende Rolle. Als prominente Beispiele nannte sie die vor allem im Mittelalter genutzte Mandragora sowie das in der Humoralpathologie verwendete Mannestreu. Ihre Anwendungsweisen und postulierten Wirkungen korrelierten mit medizintheoretischen, kulturellen und religiös-magischen Vorstellungen. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Wirkstoffforschung führte zur Suche nach aphrodisisch wirkenden Pflanzenstoffen, diese blieb jedoch oftmals erfolglos. Eine Ausnahme bildet das aus der Rinde des afrikanischen Yohimbe-Baumes gewonnene Alkaloid Yohimbin, das bis heute als „natürliches“ Potenzmittel Verwendung findet.

Dr. Dominik Merdes (Braunschweig) erklärte anhand der Geschichte des Chinesischen Raupenpilzes, des Baumes „Chaulmoogra“ und der Chine­sischen Engelwurz „Dang-gui“, wie sich der europäische Imperialismus auf die Geschichte traditioneller Arzneien auswirkte. Dabei ging er auf unterschiedliche epistemologische Brüche ein, die die kulturellen Vorstellungen in Bezug auf das Heilmittel und dessen Wirkweise betrafen. Merdes verdeutlichte, dass die Mate­rialität von Arzneistoffen in der Pharmaziegeschichtsschreibung als „Geflecht von Körpern, Diskursen und Machtbeziehungen“ verstanden werden solle, statt von einer „konti­nuierlichen Bewegung“ derselben auszugehen, die unabhängig von Kultur und Weltanschauung vonstattengeht.

Dr. Thomas Langebner (Linz) refe­rierte über die von Carl Warburg (ca. 1805 – 1892) entwickelte und nach diesem benannte „Warburger Fiebertinktur“, die in Europa im 19. Jahrhundert als Geheimmittel vertrieben und 1847 als erstes Fertigarzneimittel in Österreich zugelassen wurde. Warburgs Behauptung, er habe das Mittel aus vier noch nicht untersuchten westindischen Heilpflanzen gewonnen, konnte allerdings nicht bestätigt werden. Vielmehr handelte es sich um einen Auszug aus den bekannten Pflanzendrogen Ingwer, Angelikawurzel, Aloe, Campher und Safran, dem eine kleine Menge Chininsulfat zugesetzt wurde. Trotz dieser Widersprüchlichkeit war das Mittel noch bis 1938 in Gebrauch.

Posterpräsentation und Preisverleihung

Foto: Axel Helmstädter

Posterpreise gingen an Roxana Schumann, Patrick Troglauer und Dr. Maxi­milian Haars (v. l.)

An der diesjährigen Posterausstellung beteiligten sich zehn Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaftler, die ihre Poster anhand von Kurzvorträgen vorstellten. Traditionsgemäß wurden die drei besten Poster per Votum prämiert. Der erste Platz ging an Patrick Troglauer (WWU Münster), Dr. Kerstin Grothusheitkamp (Philipps-Universität Marburg), Dr. Meral Avci (RWTH Aachen) und Dr. Stefan Schellhammer (WWU Münster) für das Poster „Die Rolle der Armen bei der Entstehung des deutschen Gesundheitssystems“, das im Rahmen des BMBF-Verbundprojektes „Durch das Artefakt zur infra structura – Das Arzneimittelrezept als Zugang zur Gestaltung gesellschaftlicher Infrastruktur“ entstanden ist. Den zweiten Platz belegte Dr. Maximilian Haars mit seinem Poster „Heilpflanzen und Drogen im Corpus Galenicum – Auf dem Weg zu einem kommentierten Katalog und Index“. Roxana Schumann vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der HHU Düsseldorf erhielt für ihr Poster „Aus dem ‚Buch der Bücher’ ins Arzneibuch – Karrieren testamentarischer Pflanzen am Beispiel von Ficus carica, Olea europea und Citrus medica“ den dritten Preis.

Rechtliche Rahmenbedingungen für moderne Phytopharmaka

Prof. Dr. Ulrich Meyer (Greifswald) legte in seinem Vortrag dar, wie die Firmen Schwabe und Madaus zur ­Etablierung der Phytotherapie in Deutschland beitrugen. Anhand der von Schwabe entwickelten Präparate aus dem Kampferbaum, der Virginischen Zaubernuss, dem Hagedorn und dem Ginkgo-Baum sowie der von Madaus vermarkteten Arzneien aus der Weißbeerigen Mistel, der ­Mariendistel und dem Indischen Flohsamen veranschaulichte Meyer die Hinwendung der zunächst überwiegend homöopathischen Unter­nehmen zur Phytotherapie.

Über die historische Entwicklung zum heutigen Rechtsrahmen für pflanzliche Arzneimittel berichtete Dr. Barbara Steinhoff (Bonn). Ein wichtiger Schritt zur Arzneimittelsicherheit stellt das 1961 erlassene Arzneimittelgesetz (AMG) dar. Doch erst die Neufassung von 1976 forderte eine Nachweispflicht von Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines Arzneimittels als Voraussetzung für die Zulassung. Weitere wichtige Regelungen, die im Zuge der AMG-Neufassung eingeführt wurden, waren die offi­zielle Anerkennung besonderer Therapierichtungen einschließlich der Phytotherapie sowie die Gründung der Kommission E zur Aufbereitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Phytotherapie und Zusammenführung dieser in Form von Monographien. Dank der Richt­linie 2001/83/EG durften für die Zulassung pflanzlicher Arzneimittel von nun an auch Literaturdaten als Nachweis für die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit hinzugezogen werden. 2004 wurde das Registrierungsverfahren für traditionelle pflanzliche Arzneimittel gesetzlich verankert.

Prof. Dr. Michael Keusgen (Marburg) berichtete über seine Forschungsreisen nach Afghanistan. Mit eindrucksvollen Bildern veranschaulichte er die artenreiche Flora des Landes, die unter anderem ca. 5000 Gefäßpflanzen umfasst. Neben botanischen Studien ­führte Keusgen mit seinem Forschungsteam über 11.000 Interviews mit Einheimischen zur tradi­tionellen Verwendung pflanzlicher Drogen durch. Als besonders viel­seitig eingesetzte Heilmittel konnten Pflanzen aus der Gattung Artemisia sowie der Familie der Lamiaceae identifiziert werden. |

Dr. Kerstin Grothusheitkamp

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.