5 Jahre EuGH-Urteil

Nichts ist in trockenen Tüchern!

Ein Kommentar

Foto: DAZ/A. Schelbert
Dr. Christian Rotta, Verleger, Deutscher Apotheker Verlag

Hanebüchen, ignorant, verworren – auch mit dem Abstand von fünf Jahren hat sich bei neuerlicher Lektüre des EuGH-Urteils vom 19. Oktober 2016 an meiner Einschätzung nichts geändert: Das Urteil, bei dem fünf Luxemburger Richter einer Kleinen EuGH-Kammer Teile der bisherigen EuGH-Rechtsdogmatik auf den Kopf gestellt haben, stellte einen Tiefpunkt in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dar. Die krude Logik des ­Judikats: Weil ausländische Arzneimittelversender ihre Kunden in Deutschland nicht so gut vor Ort beraten können wie „traditionelle Apotheken“ und sie auch nicht in der Lage sind, eine „Notfallversorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen“, muss ihnen als einzige Möglichkeit, „den unmittelbaren Zugang zum (deutschen) Markt zu finden und auf diesem konkurrenzfähig zu bleiben“, der Preiswettbewerb eingeräumt werden. Mit anderen Worten: Weil ausländische Versender keine ­Gemeinwohlverpflichtungen wahrnehmen, müssen sie preisrechtlich privilegiert werden. Purer Zynismus ist es, wenn in der Entscheidung darüber spekuliert wurde, dass in Gegenden mit einer geringen Apothekendichte bei Freigabe der Arzneimittelpreise von den dortigen Apotheken ja „höhere Preise verlangt werden könnten“ und es für „traditionelle Apotheken“ reizvoll sein dürfte, sich im Wettbewerb gegenüber preisaktiven Versandapotheken durch die verstärkte „Herstellung von Rezepturarzneimitteln und die Bereitstellung eines gewissen Vorrats und Sortiments an Arzneimitteln“ zu profilieren! – Wie bitte?

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Weit über den konkreten Fall hinaus war auch bemerkenswert, wie eine Kleine Kammer des EuGH in ihrer knappen Begründung das Urteil des Gemeinsamen Senats der obersten deutschen Gerichtshöfe zur Arzneimittelpreisbindung vom Tisch wischte. Der Senat, der sich aus den Präsidenten von Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundessozialgericht, Bundesfinanzhof und Bundes­arbeitsgericht zusammensetzt, hatte 2012 in einer ausführlichen Entscheidung unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Gesichtspunkte luzide begründet, warum das deutsche Arzneimittelpreisrecht auch für ausländische Arzneimittelversender gilt. Ähnlich hat sich das Bundesverfassungsgericht geäußert – auch hierzu in dem EuGH-Urteil kein Wort!

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Foto: picture alliance/dpa

Wie konnte es zu diesem (Fehl-)Urteil kommen? Ein Grund lag sicherlich in der – zurückhaltend ausgedrückt - nur suboptimalen Vorbereitung des Verfahrens auf deutscher Seite. Gleich fünffach stellte der EuGH in seiner Urteilsbegründung fest, dass „nicht dargetan“ worden sei, inwiefern durch die Festlegung einheitlicher Preise für Rx-Arzneimittel eine „bessere geografische Verteilung der traditionellen Apotheken in Deutschland sichergestellt werden“ könne. Auch seien „keine hinreichenden Nachweise“ erbracht worden, dass sich ein Preiswettbewerb nachteilig auf die Wahrnehmung bestimmter Gemeinwohlverpflichtungen auswirke.

Es war ein gravierendes Versäumnis der ABDA, die den Prozess der Wettbewerbszentrale begleitete, dass von den Verfahrensbeteiligten dem Gericht hierzu keine belastbaren Daten und Expertisen vorgelegt werden konnten, obwohl dies durchaus möglich gewesen wäre, wie das später von Noweda und Deutschem Apotheker Verlag in Auftrag gegebene May/Bauer/Dettling-Gutachten zeigte. Trotz Warnungen im Vorfeld fühlten sich die Verantwortlichen im Berliner Apothekerhaus offensichtlich zu selbstsicher und siegesgewiss. Ein folgenreicher Irrtum!

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Als Irrtum stellte sich auch die Erwartung heraus, dass der deutsche Gesetzgeber die durch das EuGH-Urteil entstandene Gemengelage alsbald wieder geraderücken würde. Durch die gesetzliche Verankerung eines Versandhandelsverbots für Rx-Arzneimittel wäre dies unionrechtskonform – allen interessengeleiteten Unken­rufen von DocMorris & Co. zum Trotz – möglich gewesen. Ohne dass dies der EuGH moniert hat, ist in immerhin 21 von 27 EU-Mitgliedstaaten der Versand von Rx-Arzneimitteln verboten. Dass es – entgegen der Vereinbarung im Koalitionsvertrag von Union und SPD vom März 2018 – in Deutschland nicht zu einem Rx-Versandverbot kam, ist vorrangig auf den erbitterten Widerstand von Gesundheitsminister Jens Spahn zurückzuführen. Seine apothekenpolitischen Positionen beim Versandhandel sind seit je her durch eine erstaunliche Nähe zu ausländischen Versandapotheken geprägt. Über die Gründe hierfür kann man nur spekulieren. Pikant ist, dass Spahn und den früheren DocMorris-Vorstand Max Müller eine langjährige Freundschaft und enge geschäftliche Beziehung verbindet: Beide waren zwischen 2006 und 2010 Gesellschafter der in der Gesundheitsbranche aktiven Lobby-Agentur Politas.

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Wie geht es weiter? Mit dem Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz, das am 15. Dezember 2020 in Kraft getreten ist, hat der Gesetzgeber die im deutschen Arzneimittelgesetz vom EuGH monierte Regelung zur grenzüberschreitenden Preisbindung bei Rx-Arzneimitteln aufgehoben und stattdessen im Sozialgesetzbuch das sog. Rx-Boni-Verbot verankert. Damit ist der Weg verbaut, ein weiteres EuGH-Verfahren in die Wege zu leiten, in dem es dann möglich gewesen wäre, untermauert mit validen Daten die schädlichen ­Folgewirkungen der Aufhebung der Arzneimittelpreisbindung aufzuzeigen. Immerhin hatte der Bundesgerichtshof – ungewöhnlich genug – in zwei Urteilen kaum verhohlen Kritik an der Luxemburger Entscheidung ­geübt und angedeutet, dass es ein ­weiteres EuGH-Verfahren für durchaus Erfolg versprechend hält.

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Dass die EU-Kommission inzwischen ihr Placet zur neuen Boni-Regelung im Sozialgesetzbuch gegeben hat, sollte niemanden in allzu großer Sicherheit wiegen. DocMorris kündigte bereits an, auch das jetzt geltende Boni-Verbot unionsrechtlich anzugreifen – Ausgang ungewiss. Die Folgen des desas­trösen EuGH-Urteils vom 19. Oktober 2016 sind also auch fünf Jahre später immer noch nicht geheilt. Nichts ist in trockenen Tüchern. Rechtssicherheit hätte nur ein Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel schaffen können. Aber diese Chance wurde vertan. |

 

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