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Medikationsplan für alle Frauen im gebärfähigen Alter gefordert

Barmer Arzneimittelreport beleuchtet Arzneimitteltherapie Schwangerer und gebärfähiger Frauen

cel | Viele Frauen im gebärfähigen Alter bekommen potenziell terato­gene Arzneimittel verordnet. Problematisch ist dies spätestens, wenn sie tatsächlich schwanger werden und die Präparate weiter einnehmen. Die Barmer Ersatzkasse hat das Thema für ihren aktuellen Arzneimittelreport unter die Lupe genommen und leitet aus den Erkenntnissen eine klare Forderung ab: Frauen im gebärfähigen Alter mit Dauer­medikation sollten einen Anspruch auf einen bundeseinheitlichen Medikationsplan erhalten. Damit könne das Risiko für das ungebo­rene Leben bei einer notwendigen teratogenen Medikation massiv reduziert werden.

Arzneimitteltherapie in der Schwangerschaft – wie häufig kommt das vor? Sind die meisten Frauen nicht jung und gesund – und ohne Arzneimitteltherapie? Dass diese Annahme nicht stimmt, zeigt der Barmer Arzneimittelreport 2021, der vergangene Woche vorgestellt wurde. Dieser analysiert die Verordnungen des Jahres 2018 und kommt zu dem Ergebnis, dass 65 Prozent der weiblichen Barmer-Versicherten im Alter zwischen 13 und 49 Jahren vor der Schwangerschaft Verordnungen für mindestens ein Arzneimittel erhielten; jede sechste bekam eine Langzeitmedikation vor der Schwangerschaft. Kindsschädigend sind diese Arzneimittel in den meisten Fällen nicht. Aber: Bei der Barmer waren es im Untersuchungsjahr immerhin 7,8 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter, die potenziell teratogene Arzneimittel verordnet bekamen. In den meisten Fällen (6,8%) stand ein schwach teratogenes Arzneimittel auf dem Rezept, doch 1,4 Prozent der 13- bis 49-Jährigen bekamen auch ein gesichert teratogenes Arzneimittel oder ein unzweifelhaft starkes Teratogen verschrieben.

Nun sind potenziell fruchtschädigende Arzneimittel nicht per se schlecht oder haben ein generell negatives Nutzen-Risiko-Profil – zumindest, solange keine Schwangerschaft besteht. Das Problem ist: Nicht alle Schwangerschaften sind geplant und die Frau weiß unter Umständen in den ersten Wochen nach der Empfängnis nicht, dass sie überhaupt schwanger ist. Doch gerade in den ersten acht bis zwölf Wochen erfolgt die Organanlage beim Ungeborenen und damit ist dann das Risiko für Fehlbildungen am Embryo am größten.

Teratogene Arzneimittel: Risiko für Fehlbildungen um bis zu 30 Prozent erhöht

Auch ohne Arzneimitteltherapie liegt das Risiko für strukturelle Fehlbildungen im ersten Trimenon bei 3 Prozent, das heißt: Drei von 100 Kindern sind von Missbildungen betroffen. Teratogene Arzneimittel erhöhen dieses Risiko jedoch um ein Vielfaches, je nach Ausmaß ihrer fruchtschädigenden Wirkung. Unzweifelhaft starke Teratogene verzehnfachen die Gefahr für strukturelle Fehlbildungen und führen zu einem Fehlbildungsrisiko von bis zu 30 Prozent. Bei als gesichert teratogen eingestuften Arzneimitteln liegt das Fehlbildungs­risiko bei bis zu 10 Prozent. Schwach teratogen sind Arzneimittel, wenn sie das Risiko für strukturelle Fehlbildungen um bis zu 4 Prozent erhöhen.

Nicht nur an Arzneimittel-­Neuverordnungen denken

„Daher ist nicht nur die Neuverordnung in der Schwangerschaft, sondern auch die Weiterverordnung einer bereits vor der Schwangerschaft begonnenen Arzneimitteltherapie bei der Risikobewertung zu betrachten“, erklärte Prof. Daniel Grandt, einer der Autoren des Barmer Reports. Der Chefarzt der Inneren Medizin I am Klinikum Saarbrücken rät, dass grundsätzlich mit allen Frauen im gebärfähigen Alter besprochen und dokumentiert werden sollte, wenn teratogene Arzneimittel verordnet werden. Dass dies nur unzureichend geschieht, offenbart der Report ebenfalls: Bei un­geplanten Schwangerschaften wurde bei zwei von drei Frauen die Unbedenklichkeit der Gesamtmedikation vor Eintritt der Schwangerschaft nicht geprüft, bei geplanten Schwangerschaften war der Anteil geringer, dennoch fehlte bei einer von drei Frauen die Unbedenklichkeits-Analyse der Medikation.

Barmer-Chef: Anspruch schon ab einem Arzneimittel

Barmer-Chef Christoph Straub fordert aus diesem Grund den bundeseinheitlichen Medikationsplan für alle gebärfähigen Frauen. Damit könne das Risiko für das ungeborene Leben bei einer notwendigen teratogenen Medikation massiv reduziert werden, erklärte er. Die Defizite bei der Dokumentation machten es weiterbehandelnden Ärztinnen und Ärzten schwer bis unmöglich, ihre Patientinnen und das ungeborene Kind vor unnötigen Risiken zu schützen. Bei einem solchen Rechts­anspruch auf einen Medikationsplan, so Straub, dürfe es auch keine Rolle spielen, ob die Frauen nur ein oder mehrere Arzneimittel einnähmen – bisher besteht der Anspruch auf den Medi­kationsplan nur ab der regelmäßigen Einnahme von mindestens drei Medikamenten. Darüber hinaus sollte in Zukunft die Gesamtmedika­tion grundsätzlich auf mögliche Schwangerschaftsrisiken geprüft werden, rät Straub.

Teratogene Arzneimittel zu selten abgesetzt

Selbst bei Eintritt der Schwangerschaft werden teratogene Arzneimittel nicht konsequent abgesetzt: Gerade bei riskanten Präparaten liegen die Absetzquoten dem Arzneimittel-Report zufolge mit Eintritt der Schwangerschaft lediglich zwischen 31 und 60 Prozent. „Diese Absetzquoten sind viel zu niedrig“, erklärte Straub. Auf der anderen Seite gilt es auch zu vermeiden, dass Schwangere oder Frauen mit Kinderwunsch ihre Arzneimittel, auch nicht teratogene, aus Angst vor Schäden für das Baby eigenmächtig absetzen. Denn auch schlecht eingestellte Grunderkrankungen können das Ungeborene schädigen.

Ziel: „Never-Event“ in der Schwangerschaft

Vorbildlich ist die Situation aus Barmer-Sicht in Großbritannien gelöst. So wurde in Großbritannien das „Never-Event“-Konzept entwickelt bzw. konkretisiert. Dabei versteht man unter einem „Never-Event“ Ereignisse mit schweren Folgen, die grundsätzlich vermeidbar sind. Heißt: Die Verordnung eines teratogenen Arznei­mittels in der Schwangerschaft gilt als „Never-Event“, das immer aus­geschlossen werden müsse und nicht passieren dürfe, so Straub. „In Deutschland muss die Verschreibung von einem teratogenen Arzneimittel in der Schwangerschaft ebenfalls zum ,Never-Event‘ werden“, sagt Straub. Er findet: „Der Bundesein­heitliche Medikationsplan, die Prüfung der Arzneimitteltherapie und das ,Never-Event‘-Konzept könnten den Schutz von Ungeborenen signifikant steigern. Diese Schritte sind überfällig.“

Die Barmer treibe bereits mehrere Innovationsfonds-Projekte voran, bei denen es darum gehe, dass riskante Verordnungen bei Schwangeren zu Never-Events würden. |

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