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Politik

Ein Virus kommt selten allein

Was können wir aus der Grippeimpfsaison 2020/2021 lernen?

Aktuell bestimmen Fragen der Impfungen gegen das Corona-Virus die öffentliche Wahr­nehmung und Diskussion. Das Thema Grippe­impfung beschäftigt hingegen vor allem die Fachkreise, verdient aber aus drei Gründen ebenfalls Aufmerksamkeit. Erstens ist die aktuelle Grippeimpfsaison 2020/2021 fast abgeschlossen, bedarf aber noch der Aufarbeitung. Zweitens ist die nächste Saison 2021/2022 bereits in Vorbereitung. Drittens bestehen Interferenzen zwischen den Impfungen gegen COVID-19 und Influenza. Alles in allem gute Gründe jetzt zu diskutieren, wie es gelaufen ist, und zu analysieren, was künftig besser gemacht werden könnte bzw. muss. | Von Thomas Friedrich 

Die saisonale Impfung gegen Grippeviren ist seit Langem ein gesellschaftlich gefordertes und gefördertes Präventionsziel und zugleich eine anspruchsvolle Herausforderung für das Gesundheitssystem in Deutschland. Die Frage, wie sie zielführend organisiert und durchgeführt werden kann, wird allerdings je nach Interessengruppe sehr unterschiedlich beantwortet. Dabei unterliegen die Antworten der Politik, deren gesetzliche Rahmenvorgaben und administrative Steuerungsversuche einer schnellen Abfolge von Änderungen, die der heuristischen Methode „trial and error“ zu folgen scheinen, ohne dass bisher eine befriedigende Lösung gefunden wurde. Das ungelöste Problem ist das Spannungsfeld zwischen gewünschter Steigerung der Impfquote und dem Dogma der Wirtschaftlichkeit. Nach einer teilweise schmerzhaften Phase von Ausschreibungen folgte zuletzt die „Neuordnung“ durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG).

Neue Rahmenbedingungen durch das TSVG

Exklusive Ausschreibungen erbrachten zwar Kostenein­sparungen, blieben aber intransparent und gefährdeten zugleich die Versorgungssicherheit, weil jeweils nur ein Hersteller den exklusiven Zuschlag für das jeweilige Ausschreibungsgebiet erhalten hat. Versorgungsstabilität und -sicherheit sind jedoch die Vertrauensgrundlage für die Akzeptanz der Grippeimpfungen. Insoweit ist zu begrüßen, dass diese Ausschreibungen per Gesetz abgeschafft worden sind. Allerdings wurde zugleich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das „Kind“ waren die alternativen Versorgungsmodelle einiger Landesapothekerverbände, die den Krankenkassen einen durchaus attraktiven Vertragspreis anboten und zugleich durch Verträge mit Impfstoffherstellern Versorgung sicherten sowie wirtschaftliche Anreize für ein Engagement der Apotheken setzten. Dieses sogenannte „Berliner Modell“ wurde in seiner Ursprungsregion durch die Apothekerverbände Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit der AOK Nordost, aber zum Beispiel auch in Hamburg und Schleswig-Holstein mit dem feder­führenden Landesverband der Ersatzkassen bzw. der zuständigen AOK Nordwest über Jahre erfolgreich praktiziert.

Als neue „Versuche“ wurden durch das TSVG unter anderem ein Bedarfsmeldeverfahren für die Kassenärzte und eine feste Vergütung für die Apotheken eingeführt. Das Bedarfsmeldeverfahren war von Anfang an eine untaugliche Kopfgeburt und trägt nichts zur Versorgungssicherheit bei. Die Bindung des Abrechnungspreises pro Dosis an die Arzneimittelpreisverordnung ist mindestens ambivalent und in seiner Ausgestaltung teilweise kontraproduktiv.

Verlässliche Zahlen als Planungs- und Steuerungsgrundlage

Um Versorgungssicherheit erreichen und Steigerungsziele definieren zu können, werden verlässliche und belastbare Zahlen benötigt. Doch daran mangelt es nach wie vor im ­hohen Maße im System. Zumindest, was die für alle Ver­sorgungsbeteiligten zugänglichen Zahlen anbelangt.

Allgemein zugänglich sind die in der jeweiligen Saison freigegebenen Chargen an Grippeimpfdosen, aus denen sich während der Impfkampagne von Woche zu Woche Versorgungstendenzen für ganz Deutschland ableiten lassen.

Es zeigt sich, dass bereits Anfang September über 15 Mio. Impfdosen freigegeben worden waren. Allerdings vergehen von der Freigabe bis zum Eintreffen in den Arztpraxen zwei bis vier Wochen. Angesichts der insgesamt limitierten Logistikkapazitäten benötigte diese große Zahl, deutlich mehr als die Hälfte der avisierten Gesamtmenge für 2020/2021, eher die längere Auslieferungszeit. Aber auch in den Folge­wochen bis Ende November 2020 wurden weitere Chargen freigegeben, wuchs die Dosenzahl kontinuierlich zu der avisierten Gesamtmenge auf.

Kumulative Anzahl der freigegebenen Dosen von Influenza-Impfstoff in Deutschland in vier verschiedenen Saisons (Quelle: PEI).

Die zweite öffentliche Quelle bilden die GAmSi-Zahlen (Arzneimittel-Schnellinformationen des GKV-Spitzenverbandes) zu den in einer Saison durch die Vertragsärzte tatsächlich zulasten der GKV verimpften Influenza-Impfdosen. Allerdings stehen die Zahlen entgegen dem in diesem Falle euphemistischen Titel „GKV-Arzneimittel-Schnellinforma­tion“ erst im September des laufenden Jahres zur Verfügung. Da ist der Abschluss der ausgewerteten Saison schon ein halbes Jahr vorbei und hat die nächste Saison mit der Auslieferung der ersten freigegebenen Chargen bereits wieder begonnen. Insofern sind diese Zahlen nur für eine nachgelagerte Auswertung der Vorsaison geeignet, abzuleitende Schluss­folgerungen für die aktuelle Saison kommen zu spät. Insbesondere dann, wenn wünschenswerterweise die verbindliche Vorbestellung für den Kampagnenstart im Herbst bereits im ersten Quartal des betreffenden Jahres erfolgen soll.

Tab. 1: Impfquoten in der GKV nach GAmSi 2019/2020
Impfdosen
Prozentsatz
Baden-Württemberg
1.483.000
15,7
Bayern
1.742.000
15,7
Berlin
774.000
23,7
Brandenburg
735.000
32,5
Bremen
118.000
19,7
Hamburg
287.000
18
Hessen
896.000
16,5
Mecklenburg-Vorpommern
446.000
30,4
Niedersachsen
1.362.000
19,3
Nordrhein
1.490.000
17,8
Rheinland-Pfalz
492.000
14,6
Saarland
177.000
20,7
Sachsen
1.270.000
33,8
Sachsen-Anhalt
783.000
38
Schleswig-Holstein
456.000
18,3
Thüringen
541.000
27,5
Westfalen-Lippe
1.423.000
19,2
gesamt
14.475.000
20

GAmSi-Daten, eigene Berechnungen

Gleichwohl lohnt ein kurzer Blick auf die Zahlen der Vorsaison 2019/2020. Sie zeigen, dass die Durchimpfungsrate bezogen auf die gesetzlich Versicherten in den einzelnen Bundesländer stark abweicht. Generell besteht ein starkes Gefälle zwischen den relativ hohen Quoten im Osten und den generell niedrigeren Quoten im Westen Deutschlands. Das Bundesland mit der höchsten Quote ist Sachsen-Anhalt mit 38 Prozent. Rheinland-Pfalz steht hingegen ganz am Ende mit 14,6 Prozent. Schleswig-Holstein befindet sich mit 18,3 Prozent etwa in der Mitte, erreicht aber noch nicht mal den Bundesdurchschnitt von 20 Prozent für die Saison 2019/2020.

Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Impfquoten in der aktuellen Saison deutlich verbessert haben. Offizielle Zahlen werden aber wohl wieder erst mit den (zu) späten GAmSi-Berichten zur Saison 2020/2021 vorliegen.

Zur Saison 2020/2021 unter den „Spielregeln“ des TSVG

Die (fast) abgelaufene Saison 2020/2021 ist die erste „reine“ Saison nach den TSVG-Regeln. Bis zum 15. Dezember des Vorjahres, also 2019, sollten erstmals die ambulant in der GKV tätigen Ärztinnen und Ärzte für ihre Arztpraxen den Bedarf an Grippeimpfdosen an ihre jeweilige Kassenärztliche Ver­einigung melden. Diese wiederum waren durch Gesetz aufgefordert, den zusammengefassten Bedarf pro KV-Bezirk an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) weiterzuleiten. Die KBV sollte dann den erfassten Gesamtbedarf bis zum 15. Januar dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) mitteilen. In einem zweiten Verfahren sollten die Hersteller die ihnen vorliegenden Bestellungen ebenfalls dem PEI übermitteln. Am Ende sollte das PEI diese Meldungen im Benehmen mit dem RKI bis 15. März prüfen und unter Berücksichtigung einer Reserve von 30 Prozent für 2020 das Ergebnis „unverzüglich“ der KBV und den Impfstoffherstellern mitteilen. Über die Einzelheiten dieses Verfahrens, das offenbar die Planbarkeit der Impfstoffproduktion, die im 2. Quartal beginnt, verbessern soll, ist wenig nach außen gedrungen. Insbesondere, was das PEI mit dem Ergebnis „macht“, welche Schlussfolgerungen es zieht und wie es erforderlichenfalls auf die Hersteller einwirkt, ist wenig bekannt. Kolportiert wird, dass über die Bedarfsmeldung nur etwa 5 Mio. Impfdosen und über die Bestellungen im ersten Quartal bei den Herstellern etwa 12 Mio. Dosen erfasst wurden. Das wären deutlich weniger, als in der Vorsaison allein im GKV-Bereich verimpft und erst recht durch das PEI freigegeben worden sind. Berichtet wird, dass im Rahmen der behördlichen Abstimmungen das Impfziel auf mindestens 20 Mio. Impfdosen und angesichts der aufziehenden Corona-Pandemie nach ministerieller Einwirkung noch einmal um 30 Prozent auf ca. 26 Mio. Impfdosen angehoben wurde. Wie dieses Ziel durchgesetzt wurde, wie die im Wettbewerb stehenden Hersteller mit ihren unterschiedlichen Marktanteilen „eingeschworen“ wurden, entzieht sich der Kenntnis des Autors und auch der rechtlichen Vorstellungskraft. Zum Ende der Saison bleibt zu konstatieren, dass die Beschaffungs­menge mit den vom PEI gemeldeten ca. 25 Mio. freigegebenen Impfdosen und den als Teil der sogenannten Spahn-Reserve zusätzlich importierten Dosen (französische „1er“-Vaxiprip und amerikanisches Fluzone), die damit dem deutschen Markt dem Grunde nach zur Verfügung standen, erreicht wurden. Sicherlich eine anerkennenswerte Leistung der Hersteller und ein aufwendiger Kraftakt politischer Steuerung.

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Unsicherheiten bezüglich der Spahn- bzw. Bayern-Reserve: Bei den 1er-Spritzen, die Sanofi ursprünglich für den französischen Markt produziert hatte, war zunächst unklar, ob diese überhaupt zulasten der GKV abgerechnet werden dürfen. Denn grundsätzlich gelten im Sprechstundenbedarf nur Großgebinde als wirtschaftlich.

Es stellt sich die Frage, wie viel von dieser gesteigerten Menge auch tatsächlich verimpft werden konnte. Seit Dezember letzten Jahres wurden zahlreiche Meldungen laut, dass noch Grippeimpfstoffe in den Arztpraxen und Apotheken abrufbereit seien, aber die Nachfrage der Patientinnen und Patienten wohl nicht zuletzt wegen des einsetzenden harten Lockdowns deutlich nachgelassen hat. Auch Aufrufe im Januar und Februar dieses Jahres, dass das Impfen gegen Influenza noch sinnvoll sei, verhallten weitgehend ungehört. Mit dazu beigetragen haben letztlich Meldungen, dass es wegen der Corona-Abstands- und Sicherheitsregeln auch zu keiner Grippeepidemie in diesem Winter gekommen ist.

Kein einheitliches Bestellverfahren

Obwohl dies für die Versorgungssicherheit notwendig wäre, regelt auch das TSVG keine verlässliche, verbindliche ­Bestellsystematik: In vielen Bundesländern wurde kein Bestellverfahren etabliert und somit zu wenig bestellt. Es ­bestand zum Teil die irrige Annahme, mit dem TSVG gäbe es ausreichend Lagerware beim Großhandel, aus der man in der Saison ab September jederzeit bedarfsgerecht abrufen könne. Zwar verspricht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn persönlich den Ärzten, dass auch eine über 30 Prozent höhere Vorbestellung, die dann gegebenenfalls nicht vollständig verimpft wird, grundsätzlich keiner Wirtschaftlichkeitsprüfung und Regressierung unterliegen soll. Diese Botschaft wurde aber in kaum einem Bundesland in die gemeinsamen Vorgaben der Krankenkassen und KVen „übersetzt“. Im Gegenteil: In Rheinland-Pfalz lautete die Vorgabe sogar fünft Prozent weniger als im Vorjahr, in Schleswig-Holstein immerhin zehn Prozent mehr. Nach Kenntnis des Autors hat einzig die KV Hamburg ihre Ärztinnen und Ärzte zu einer Bestellung bis zu 130 Prozent ermutigt. Damit standen der Start und die Durchführung der Impfkampagne 2020/2021 von Anfang an unter keinem guten Vorzeichen.

Die Versorgungssituation im Verlaufe der Impfkampagne

Die gute Nachricht vorab: Bei der stets von Neuem mit Restrisiko behafteten biotechnologischen Produktion der Grippeimpfstoffe kam es diesmal zu keinen Ausfällen oder Verzögerungen, wie dies in vorangegangenen Jahren immer mal wieder der Fall war. So standen die ersten freigegebenen Chargen bereits Anfang August zur Verfügung und wuchsen bis Ende November kontinuierlich an. Insofern hätte es eine stabile Impfkampagne werden können. Aber nicht alle Hersteller waren bereits im August/Anfang September lieferfähig und nicht alle Ärztinnen und Ärzte hatten vorbestellt. Es ist aber im wahrsten Sinne des Wortes gute Praxis, dass zuerst die Apotheken beliefert werden, die frühzeitig verbindlich bestellt haben. Und es ist selbstverständlich auch sinnvoll, wenn mit dem Impfen bereits im September begonnen wird. Zwar empfehlen WHO und RKI die Monate Oktober und November als die geeignetsten für die Grippeimpfung, aber in diesen Monaten allein würde es rein praktisch nicht gelingen, alle Impfdosen zu verteilen, weil bereits die Logistik­kapa­zitäten mengenmäßig überfordert wären. Hinzu kommt das von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Ende der Sommerferien und der diffe­rierende Beginn der Herbstferien. Während zum Beispiel die Sommerferien in Schleswig-Holstein bereits am 8. August 2020 endeten und vom 5. bis 17. Oktober die Herbstferien dauerten, endeten die Sommerferien in Bayern erst am 7. September 2020 und die Herbstferien umfassten die Zeit vom 31. Oktober bis 6. November letzten Jahres. Deshalb sollte es mehr als verständlich sein, dass die Ärzte im Norden mit ihrer Impfkampagne bereits im September beginnen wollen und nicht erst in der zweiten Hälfte des Oktobers. Dementsprechend lieferten diejenigen Hersteller, die es konnten, bereits im September in den Norden. Je nachdem, bei welchem Hersteller die Apotheken bestellt hatten, stand damit der erste Grippeimpfstoff pünktlich zum Start zur Verfügung.

Apotheken bleiben auf Impfstoff und wirtschaftlichem Schaden sitzen

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Angenommen, eine Apotheke hat 1000 Grippeimpfdosen geordert, so beträgt ihr Wareneinsatz ca. 10.000 Euro. Setzt sie davon 900 Impfdosen ab, beträgt ihr Rohgewinn im Idealfall (ohne Kappungen) 900 Euro. Sie hätte aber bei Nichterstattung von 100 Impfdosen allein einen Warenwertverlust von 1000 Euro. Ein Vorwurf, sie hätte eben besser planen müssen, wäre hinterhältig. Die Wirkungen der öffentlichen Diskussion über Lieferengpässe wurden bereits erwähnt. Hinzu kommt der bundesweite Lockdown seit Dezember letzten Jahres. So berichtet beispielhaft eine Arztpraxis aus Schleswig-Holstein, dass sie wegen der ungewöhnlich hohen Nachfrage im September und Anfang Oktober ihre vorbestellte Menge von 110 Prozent bereits aufgebraucht hatte und deshalb eine Warteliste mit insgesamt rund 400 Interessenten erstellte. Ende November konnte die Partner-Apotheke noch einmal Grippeimpfdosen in dieser Höhe liefern. Doch mit Eintritt des Lockdowns riss der Besuch der Impfwilligen trotz persönlicher telefonischer Einladung durch die Praxis schlagartig ab. Der Kontakt nur zum Zwecke des Impfens wurde offenbar gescheut, wohl auch weil inzwischen kolportiert worden war, dass in dieser Saison eine Grippewelle ausbleibe. Nur ca. 50 Patientinnen und Patienten erschienen ein zweites Mal zum Impfen.

Zur öffentlichen Wahrnehmung der Grippeimpfung in der abgelaufenen Saison

Der Start der Grippeimpfsaison ist auch ein beliebtes, jährlich wiederkehrendes Medienthema und erlangte wegen der Corona-Pandemie nochmals gesteigerte Aufmerksamkeit. Die im September erfolgte ministeriale Aufforderung – über die STIKO-Empfehlung hinaus –, jeder solle sich wegen der Pandemie impfen lassen, tat ihr übriges. Bereits im September erlebten die Arztpraxen einen ungewöhnlich hohen Andrang von Impfwilligen. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) beispielsweise meldete laut der Deutschen Presse-Agentur für September 2020 einen Anstieg um 165 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Und sehr schnell berichteten die Medien auch darüber, dass noch nicht überall, regional oder in einzelnen Arztpraxen Grippeimpfstoff zur Verfügung stehe. Damit wurden Ängste geschürt, es könne wie in manchen Vorjahren der Impfstoff nicht reichen, was die Nachfrage nochmals ankurbelte. Es gab auch banalere Gründe, warum der Impfstoff nicht immer sofort aus- oder nachgeliefert werden konnte: Es „klemmte“ bei den Kühlboxen des Großhandels für den Transport, weil die Apotheken diese oft zu langsam wieder zurückgaben. Es nutzte auch nur bedingt, dass der Autor bei Medienanfragen im Bereich Hamburg und Schleswig-Holstein mit Blick auf die wöchentlichen PEI-Zahlen immer wieder versichert hat, dass noch mit weiteren Grippeimpfdosen zu rechnen ist. Ende Oktober/Anfang November wurde der öffentliche, medial erzeugte Druck so groß, dass viele Ärzte bei mehreren Apotheken nachbestellten und dann aber nur jene Lieferung abnahmen, die zuerst zur Verfügung stand. Die weiteren Apotheken blieben auf ihren Nachbestellungen sitzen.

Die Auswirkungen der Grippeimpfstoff-Reserve

Die bereits erwähnte ministerielle Erhöhung der bereitzustellenden Liefermengen in Deutschland waren sicherlich gut gemeint und für das nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie erklärte Ziel einer Steigerung der Impfleistung in Deutschland um 30 Prozent auch notwendig. Der Umgang mit diesen Reserven war allerdings suboptimal. Die Lieferungen aus der sogenannten Spahn-Reserve und auch aus der Bayern-Reserve kamen Ende Oktober/Anfang November zu spät. Bei den 1er-Spritzen, die Sanofi ursprünglich für den französischen Markt produziert hatte, bestand Unsicherheit, ob diese überhaupt zulasten der GKV abgerechnet werden dürfen. Denn grundsätzlich gelten im Sprechstundenbedarf nur Großgebinde von 10er- oder 20er-Packungen als wirtschaftlich. Und zum Einsatz allein für Privatver­sicherte kamen sie in dieser Menge ebenfalls verspätet, obwohl (wieder einmal) ein Mangel an geeigneten 1er-Spritzen zum Saisonstart bestanden hatte. Auch der hochdosierte Fluzone-Impfstoff aus den USA kam zu spät und verunsicherte wegen seiner Hochpreisigkeit. Bei Ärzten und Apotheken machten sich Regressängste breit und viele Krankenkassen hielten sich „vornehm“ zurück, diesen Impfstoff als wirtschaftliche Versorgung zu akzeptieren. Der Ratschlag, den deutlich teureren Hochdosis-Impfstoff vor allem in den Alten- und Pflegeheimen einzusetzen, zeugt von wenig Kenntnis des Kampagnenverlaufes. Im November sind in aller Regel längst alle Pflegeeinrichtungen durchgeimpft.

Aktuell stellt sich die Frage, was mit den nicht verimpften Dosen in den Arztpraxen und Apotheken sowie bei den Herstellern und Großhandlungen passiert. Soweit sie aus der Spahn-Reserve stammen, wird berichtet, dass es für die Hersteller und Großhandlungen eine Erstattungszusage gibt. Diese gilt bisher aber nicht für die verbleibende Ware in den Apotheken. Wie verlautet, wird aber intensiv an einer Lösung gearbeitet.

SGB V und die ungenutzten Möglichkeiten von Versorgungsverträgen

Gesetzlich Versicherte erhalten die im fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) ge­regelten Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen (Sach­leistungsprinzip). Hierfür schließen die Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern ab. Dazu zählen nicht nur die Verträge der Apotheken zur Arz­nei­mittel- und Hilfsmittelversorgung, sondern auch die Inter­dependenzen mit Verträgen zur ambulanten ärztlichen Versorgung. Obwohl im Jahr 2000 mit der Neufassung des § 69 SGB V die gesamten Leistungs- und Vertragsbeziehungen unter das Öffentliche Recht subsumiert wurden, hinkt die Vertragsgestaltung hinter den sich ergebenden Anforderungen einer öffentlich-rechtlichen Leistungsbeziehung her.

Vortrag von Dr. Thomas Friedrich „SGB V und die ungenutzten Möglichkeiten von Versorgungsverträgen“ im Rahmen des ApothekenRechtTag online am 6. Mai 2021 von 15 – 16 Uhr, Anmeldung unter www.interpharm.de

Fazit und Forderungen

Bereits diese erste Analyse erlaubt wichtige Schlussfolgerungen und Forderungen. Zwar ist zu vermuten, dass in der abgelaufenen Saison trotz der aufgetretenen Störungen die angestrebte Steigerung der Impfquote erreicht, das anspruchsvolle Ziel von 26 Mio. Grippeimpfungen aber verfehlt wurde. Damit bleibt Deutschland weiterhin deutlich hinter den WHO-Empfehlungen zurück. Folgende Punkte sind Vorschläge, wie sich diesem Ziel weiter angenähert werden kann:

1. Es muss ein verbindliches Bestellverfahren bis Ende 1. Quartal, besser noch bis Ende Februar wegen der PEI-Prüfung bis 15. März, etabliert werden. Dazu bedarf es einer Konsentierung auf Landesebene zwischen Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Landesapotheker­verbänden, wie dies in Hamburg und Schleswig-Holstein bereits seit Jahren bewährte Praxis ist. Die Vorbestellungen der Ärzte müssen auf bis zum Ende der Saison gültigen Rezepten erfolgen und sollten zwischen bestellender Arztpraxis und beliefernder Apotheke hinsichtlich der Impfstoffauswahl und jeweiligen Menge abgestimmt werden.

2. Für diese frühzeitige verbindliche Bestellung sind verlässliche Eckdaten zu Indikation und Preis der für die Saison zur Verfügung stehenden Grippeimpfstoffe zwingend. Das, was sich Ende letzten Jahres und Anfang dieses Jahres an Hü und Hott und wieder Hü rund um den neuen hochdosierten Grippeimpfstoff ergeben hat, darf sich nicht wiederholen. Viele LAV und KV haben wegen der Unsicherheit hinsichtlich Zulassungsalter und Erstattungsfähigkeit von Efluelda® lange Zeit keine oder widersprüchliche Empfehlungen ge­geben. Deshalb haben vielerorts erst jetzt die Bestellungen begonnen, in Hamburg und Schleswig-Holstein müssen Anpassungen vorgenommen werden. Gleichwohl ist vom PEI zu vernehmen, dass die Vorbestellphase bereits in Kürze abgeschlossen sein soll. Negative Auswirkungen auf die kommende Saison sind damit leider vorprogrammiert.

3. Es bedarf früherer, für alle transparenter Zahlen, sowohl während der Impfkampagne als auch für die Vorbereitung der nächsten Saison. Bekanntlich erfassen die Arztpraxen jede Impfung von über Sechzigjährigen als Standard­impfung mit der Abrechnungsziffer 89111 und mit der 89112 die Indikationsimpfung von unter Sechzigjährigen. Es sollte ein Weg gefunden werden, wie diese Zahlen wöchentlich elektronisch gemeldet und zusammengefasst werden, um die Kampagnenbeteiligten, aber auch die Öffentlichkeit zeitnah über den Impffortschritt zu informieren.

4. Den Apotheken und ihren Verbänden, als Treiber einer frühzeitigen verlässlichen Bestellung müssen wirtschaft­liche Anreize für ihr Engagement geboten werden. Dazu gehört eine risiko- und kostenadaptierte Vergütung. Es ist naiv anzunehmen, die Apotheken lieferten nur Packungen von A nach B und deshalb spiele die jeweilige Menge auch keine Rolle. Die derzeit gesetzlich geregelte Vergütung von einem Euro pro Dosis ist eine Mindestgröße, Deckelungen bei 75 Euro pro Verordnungszeile sind nicht sachgerecht. Mit dieser Vergütung beträgt der Rohgewinn bei „normalem“ tetravalenten Impfstoff kaum mehr als 10 Prozent. Mit der Einführung des Hochdosis-Impfstoffes Efluelda® wird der Rohgewinn gedrittelt. Wenn hier zum Beispiel nur ca. 30 Impfdosen am Saisonende liegenbleiben, beträgt der Schaden bereits rund 1000 Euro, da müssten zuvor ca. 1000 Impfdosen erfolgreich verkauft worden sein, um auf ein Nullsummen-Spiel zu kommen. Dabei bleiben die Betriebs- und Personalkosten der Apotheke unberücksichtigt.

Idealerweise bis Ende März bestellen

dm | „Wie immer muss im März der Impfstoff-Bestellprozess für die kommende Influenzasaison abgeschlossen sein“, darüber informierte vor wenigen Wochen das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Ärzte und Apotheker sollten bedenken, dass der Umfang der mehrmonatigen Herstellung der Impfstoffe auf diesen Bestellmengen basiert. Der gesamte Herstellungsprozess der Influenzaimpfstoffe sei sehr langwierig. Nachbestellungen könnten somit nicht berücksichtigt werden. Aufgrund des weltweiten Bedarfs seien auch keine Zusatzkontingente vorhanden, die „Nachzüglern“ zur Verfügung gestellt werden könnten, so das PEI. Wird also jetzt nicht genügend bestellt, könnte im Herbst ein Mangel entstehen. Bestellungen sollten daher zeitnah, für den Hochdosis-Impfstoff idealerweise noch vor dem 31. März 2021 abgegeben werden. Bekanntlich dienen die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) als Orientierungshilfe für die Vorbestellung der entsprechenden Impfstoffe. Eine wichtige Änderung gegenüber den Vorjahren ist: Personen ab 60 Jahren haben ab der Grippesaison 2021/2022 Anspruch auf eine Grippeimpfung mit einem Hochdosis-Impfstoff.

5. Wenn wieder zum Instrument der Reservebildung gegriffen wird, sollte das Nebeneinander von Landes- und Bundesinitiativen vermieden werden. Alle Beteiligten der Kampagne müssen Einzelheiten zur Menge, zum Zeitpunkt des Markteintrittes, zu Fragen der Preisbildung und des Eigentumsübergangs bekannt sein. Und vor allem: Es muss in der gesamten Liefer- und Versorgungskette ein Rückgaberecht für diese Reserve-Impfstoffe geben! Sinnvoll ist auch, wenn diese Reserve-Impfstoffe als Lagerware beim Großhandel flexibel zur Verfügung stehen.

6. Mit den angestrebten Steigerungen der Impfzahlen müssen auch die Kühl- und Transportkapazitäten für die saisonale Kampagne mitwachsen. Dies gilt um so mehr, als für die kommende Saison von einem Nebeneinander der Logistik für Corona- und Influenza-Impfstoffe gerechnet werden muss. |

Autor

Dr. Thomas Friedrich, Diplom-Jurist, seit 1999 Geschäftsführer des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein und seit 2011 auch Geschäftsführer des Hamburger Apothekervereins

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