Arzneimittel und Therapie

Mehr als ein Hype?

Gastkommentar zur Vitamin-D-Versorgung und den „neuen“ Berechnungen des DKFZ

Mitte Februar 2021 veröffentlichte das Deutschen Krebsforschungs­zentrum (DKFZ) eine Pressemitteilung, dass durch eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung die Mortalität über alle Krebserkrankungen hinweg um rund 13% sinken könnte [13]. Nach Berechnungen des DKFZ könnten möglicherweise bis zu 30.000 Krebstodesfälle pro Jahr vermieden werden, wenn alle Deutschen über 50 Jahre Vitamin D supplementieren würden. Für Apotheker Uwe Gröber, der zahlreiche Fachbücher zu diesem Thema veröffentlich hat, keine Überraschung, wie er in einem Gastkommentar schreibt.

Uwe Gröber

Bereits 2009 hatten Wissenschaftler um Dr. William Grant aus Kalifornien im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse für 17 europäische Länder (u. a. Belgien, Deutschland, Frankreich, Spanien) errechnet, dass durch die bevölkerungsweite Anhebung des 25(OH)D-Status auf 40 ng/ml Gesundheitskosten von bis zu 187 Milliarden Euro pro Jahr eingespart werden könnten [1]. Für Deutschland errechnete Prof. Dr. Armin Zittermann vom Herz- und Diabeteszentrum NRW 2010 ein Einsparpotenzial von bis zu 37,5 Milliarden Euro pro Jahr [2]. Es verwundert daher nicht, dass im April 2011 bei einem Vitamin-D-Kongress an der Charité Berlin immer wieder der hohe präventivmedizinische Nutzen von Vitamin D ausdrücklich betont wurde. Im Anschluss an die Veranstaltung forderte eine Gruppe von Wissenschaftlern um Prof. Dr. Michael F. Holick und Prof. Dr. Bruce Hollis Fachgesellschaften, Gesundheitspolitik und die Öffentlichkeit auf, diese Erkenntnisse in entsprechende Empfehlungen umzusetzen [3, 4]. Passiert ist in Deutschland aber nichts. Vit­amin D wurde weiterhin (und teilweise bis heute) als „Hype“ abgetan. Aber in den folgenden Jahren konnte immer wieder gezeigt werden, dass eine Supplementierung von Vitamin D die Mortalität signifikant senkt. So fand Yayuan Zheng 2013 in einer Meta­analyse von 42 randomisierten Studien, dass zwar eine kurzfristige Vitamin-D-­Therapie (Dauer < drei Jahren) keinen Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit hat. Allerdings zeigte die Sub­analyse von 13 randomisierten und placebokontrollierten Studien, dass die Supplementierung von Vitamin D über drei Jahre oder länger die allgemeine Mortalität um 6% senkt [5].

Niedriger 25(OH)D-Status mit erhöhter Mortalität assoziiert

Im Rahmen einer US-amerikanischen Metaanalyse vom Juni 2014 wurde der Zusammenhang zwischen dem Vitamin-D-Status und der allgemeinen Mortalität erneut untersucht [6]. Dabei wurden insgesamt 32 Studien aus dem Zeitraum 1966 bis 2013 mit über 500.000 Teilnehmern (Alter: ± 55 Jahre) erfasst. In 25 der 32 Studien zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen höheren 25(OH)D-Spiegeln im Blut und einer reduzierten Gesamtsterblichkeit. Die Ergebnisse dieser Metaanalyse bekräftigten erneut eine inverse Beziehung zwischen dem 25(OH)D-Serumspiegel und der allgemeinen altersangepassten Mortalitätsrate. Demnach haben Personen mit einem Vitamin-D-Mangel [25(OH)D: 0 bis 9 ng/ml] gegenüber denjenigen mit einem normalen 25(OH)D-Status [25(OH)D: > 30 ng/ml] ein um 90% erhöhtes Risiko, vorzeitig zu versterben.

Generell waren in der Studie von Garland 25(OH)D-Serumspiegel ≤ 30 ng/ml mit einer signifikant erhöhten allgemeinen Mortalität assoziiert im Vergleich zu 25(OH)D-Spiegeln > 30 ng/ml. US-amerikanische Wissenschaftler um Prof. Dr. Cedric Garland weisen ausdrücklich darauf hin, dass der vom US Institute of Medicine (IOM) empfohlene 25(OH)D-Schwellenwert von 20 ng/ml zur Beurteilung eines Vit­amin-D-Mangels zu niedrig ist, um präventive Wirkungen in Bezug auf die allgemeine Mortalität und das Risiko für eine Vielzahl von Erkrankungen (z. B. Krebs, Autoimmunerkrankungen) ausreichend auszuschöpfen. Der Schwellenwert für den 25(OH)D-Status sollte nicht bei 20 ng/ml, sondern bei 30 ng/ml angesetzt werden. Durch die Einnahme von Vitamin-D-Supplementen mit 2000 IE bis 4000 IE Vitamin D3pro Tag könnte der 25(OH)D-Spiegel im Serum ungefähr um 20 bis 40 ng/ml angehoben werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Institute of Medicine einen täglichen Sicherheitswert (UL-Wert) für die Vit­amin-D-Einnahme bei Personen über neun Jahre von 4000 IE angibt und die amerikanische Endokrinologische Gesellschaft sogar von 10.000 IE [6, 7].

Auch das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) hat bereits 2014 in einer Metaanalyse von acht prospektiven Kohortenstudien aus Europa und den USA mit über 26.000 Männern und Frauen (Alter: 50 bis 79 Jahre) ­einen signifikanten inversen Zusammenhang zwischen dem 25(OH)D-Spiegel im Serum und der allgemeinen Mortalität beobachtet [14]. Konsistent über alle Einzelstudien hinweg lag die Gesamtsterblichkeit von Probanden mit den niedrigsten 25(OH)D-Spiegeln (≤ 10 nmol/l) signifikant höher (1,57-fach) als bei denjenigen mit einem 25(OH)D-Status ≥ 90 nmol/l (= 36 ng/ml). Eine separate Auswertung der Krebssterblichkeit ergab zudem, dass Krebspatienten mit einem ausgeprägten Vitamin-D-Mangel (25(OH)D ≤ 10 nmol/l) ein 1,7-fach erhöhtes Risiko haben, an der Erkrankung zu versterben, im Vergleich zu Krebspatienten mit einem 25(OH)D-Status ≥ 90 nmol/l (= 36 ng/ml). Trotz dieser Ergebnisse empfahl das DKFZ Personen mit niedrigen 25(OH)D-Spiegeln nicht, Vitamin D zu supplementieren. Bis gesicherte Erkenntnisse zur Vit­amin-D-Einnahme vorliegen, solle stattdessen in der warmen Jahreszeit wohldosiert Sonne getankt werden – am besten in der Kombination mit Sport und Bewegung im Freien [14]. So könnte jeder eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung sicherstellen und ein Depot für den Winter anlegen. Eine aus unserer Sicht falsch gezogene Schlussfolgerung [8, 9]. Am 12. Februar 2021 erfolgte dann der plötzliche Schwenk des DKFZ.

DKFZ errechnet Gewinn an Lebensjahren

In einer Pressemeldung berichten die Forscher aus Heidelberg Erstaunliches: Drei Metaanalysen haben in den letzten Jahren ergeben, dass eine Vit­amin-D-Supplementierung mit einer Reduktion der Krebsmortalität um etwa 13% assoziiert ist. Diese Ergebnisse habe man auf die Situation in Deutschland übertragen und dabei errechnet, dass bei einer Vitamin-D-Supplementierung aller Deutschen über 50 Jahre bis zu 30.000 Krebstodesfälle pro Jahr vermieden und mehr als 300.000 Lebensjahre gewonnen werden könnten – bei gleichzeitiger Kostenersparnis [13]! Dabei entnahmen die Forscher die Kosten für eine Krebsbehandlung der wissenschaftlichen Literatur und gingen von mittleren zusätzlichen Behandlungskosten von 40.000 Euro allein für das letzte Lebensjahr der an Krebs gestorbenen Patienten aus. Eine um 13% verringerte Krebsmortalität in Deutschland entsprach im Jahr ca. 30.000 weniger krebsbedingten Todesfällen, deren Behandlungskosten sich in der Modellrechnung auf 1,154 Milliarden Euro beliefen. Zieht man davon die Kosten für die Vitamin-D-Supplementierung ab, ergibt sich eine Einsparung von 254 Millionen Euro jährlich [13]. Neben diesen Kosten hätte auch viel Leid erspart werden können, wenn man die seit Jahren bekannten wissenschaftlichen Daten zu Vitamin D ernst genommen hätte. Könnte es nicht beim Thema COVID-19 und Vit­amin D ähnlich sein? Nicht, dass wir in einigen Jahren feststellen, dass man durch ausreichende 25(OH)D-Spiegel die Resilienz gegen SARS-CoV-2 hätte steigern können [12]! |

Literatur

[1] Grant W, Cross, Garland C et al. Estimated benefit of increased vitamin D status in reducing the economic burden of disease in western Europe. Progress in Biophysics and Molecular Biology 2009;99(2-3):104–113

[2] Zittermann A. The estimated benefits of vitamin D for Germany. Mol Nutr Food Res 2010;54(8):1164–1171

[3] Gröber U, Holick MF. Vitamin D – die Heilkraft des Sonnenvitamins. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2020

[4] Gröber U, Spitz J, Reichrath J et al. Vitamin D. Update 2013. From rickets prophylaxis to general healthcare. Dermatoendocrinol 2013;5:3,e2:331-347

[5] Zheng Y, Zhu J, Zhou M et al. Meta-analysis of long-term vitamin D supplementation on overall mortality. PLoS One 2013;8(12):e82109

[6] Garland CF, Kim JJ, Mohr SB et al. Meta-analysis of all-cause mortality according to serum 25-hydroxyvitamin D. Am J Public Health 2014;104(8):e43-e50

[7] Gröber U, Reichrath J, Holick MF. Live longer with vitamin D? Nutrients 2015;7(3):1871-1880

[8] Schöttker B, Jorde R, Peasey A et al. Vitamin D and mortality: meta-analysis of individual participant data from a large consortium of cohort studies from Europe and the United States. BMJ 2014;348:g3656, doi: 10.1136/bmj.g3656

[9] Gröber U, Holzhauer P, Kisters K, Holick MF, Adamietz IA. Micronutrients in Oncological Intervention. Nutrients 2016;8(3), pii: E163. doi: 10.3390/nu8030163

[10] Modellrechnung: Vitamin D für alle über 50 – weniger Krebstote? Ärzte Zeitung online vom 12. Februar 2021, www.aerztezeitung.de/Medizin/Vitamin-D-fuer-alle-ueber-50-weniger-Krebstote-417081.html

[11]Niedermaier T, Gredner T, Kuznia S et al. Vitamin D supplementation to the older adult population in Germany has the cost-saving potential of preventing almost 30.000 cancer deaths per year. Mol Oncol 2021;Epub ahead

[12] Gröber U, Holick MF. The coronavirus disease (COVID-19) - A supportive approach with selected micronutrients. Int J Vitam Nutr Res 2021;1-22, doi: 10.1024/0300-9831/a000693

[13] Vitamin-D-Supplementierung: möglicher Gewinn an Lebensjahren bei gleichzeitiger Kostenersparnis. Pressemitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Nr. 07 vom 11. Februar 2021, www.dkfz.de

[14] Ungünstige Krebs-Prognose bei niedrigem Vitamin-D-Spiegel. Pressemitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Nr. 33 vom 9. Juli 2014, www.dkfz.de

Apotheker Uwe Gröber, 
Akademie für Mikronährstoffmedizin, Essen

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