Arzneimittel und Therapie

Immer gleich Ritalin und Co.?

Ein Gespräch zum Stellenwert der medikamentösen ADHS-Therapie

Über das Für und Wider der Behandlungsmöglichkeiten bei einer Aufmerksamkeits/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird immer wieder diskutiert. Wird in Deutschland ADHS anders behandelt als in anderen Ländern? Darüber sprachen wir mit dem Leitlinienkoordinator der deutschen S3-Leitlinie „ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski.

Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit der ­Medizinischen Fakultät Mannheim

DAZ: Eine Besonderheit in der deutschen S3-Leitlinie sind die Behandlungsempfehlungen in Abhängigkeit vom Schweregrad bei Kindern und Jugendlichen. Warum hat man sich in Deutschland im Gegensatz zu den USA und Großbritannien für diesen konservativen Ansatz entschieden?
Banaschewski: Unsere Empfehlungen beruhen auf wissenschaftlich hochwertigen Studien, die ergänzt werden von einem Expertenkonsens. Die Experten kamen zum Schluss, dass in der Abwägung möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen einer medikamentösen Behandlung bei milder Symptomatik ein Therapieversuch mit nichtmedikamentösen Methoden zunächst gerechtfertigt ist, auch wenn in Metaanalysen eine Evidenz für die Wirksamkeit von verhaltenstherapeutischen Elterntrainings auf die Kernsymptome nicht gefunden wurde. Grundlage war die Überlegung, dass sich individuell eine milde Symptomatik dennoch bessern könnte bzw. die Symptomatik bei Nicht-Ansprechen dieser Behandlung für einen Zeitraum von einigen Monaten tolerabel ist. Die britischen NICE-Guidelines sind, ähnlich wie die deutschen Leitlinien auch, systematisch sowohl konsens- als auch evidenzbasiert. In Deutschland liegt die administrative Prävalenz, das heißt die den Krankenkassen gemeldeten Diagnosen, unter der zu erwartenden epidemiologischen Prävalenz, der tatsächlichen Häufigkeit in der Bevölkerung, die etwa 5,3% beträgt. Aufgrund der im Vergleich zu Deutschland andersartigen Struktur des britischen Gesundheitssystems liegt die administrative Prävalenz dort deutlich niedriger, sodass Fälle, die in Deutschland als leicht klassifiziert werden, in UK praktisch nicht im Gesundheitssystem versorgt werden. Im Gegensatz dazu beruhen die US-Leitlinien methodisch vornehmlich auf Expertenkonsensus, nicht aber auf systematischen Metaanalysen. Die administrative Prävalenz diagnostizierter und medikamentös behandelter Fälle liegt in einigen Staaten der USA deutlich über der epidemiologischen Prävalenz, ein Umstand, den wir in Deutschland gerne vermeiden wollen.

DAZ: Für die medikamentöse Therapie sollen in erster Linie Stimulanzien eingesetzt werden, in Deutschland vorrangig Methylphenidat. Warum wird es den Amphetaminen vorgezogen?
Banaschewski: Ursache sind vor allem zulassungsrelevante und gesundheitsökonomische Gründe. Studien haben gezeigt, dass es bezüglich Wirkungen und Nebenwirkungen keinen relevanten Unterschied zwischen Dexamfet­amin und Methylphenidat gibt. In Deutschland ist die Initialbehandlung mit Amphetaminen jedoch off label.

DAZ: Seit fast fünf Jahren ist Guanfacin auch in Deutschland zur Behandlung der ADHS zugelassen. Welchen Stellenwert hat es?
Banaschewski: Grundsätzlich sind unsere Erfahrungen mit Guanfacin positiv, allerdings in der Second-Line-Therapie (im Verhältnis zu Stimulanzien) mit divergentem Verträglichkeitsprofil und Vorteilen für bestimmte Patientengruppen (z. B. bei Tic- oder Impuls-Kontroll-Störungen). Grob gesagt erhalten 80 bis 90% der medikamentös behandelten Kinder und Jugendlichen Stimulanzien, der Rest Guanfacin oder Atomoxetin.

DAZ: Hat das in den USA zur Behandlung der ADHS zugelassene Clonidin Vorteile im Vergleich zu hierzulande zugelassenen Arzneimitteln?
Banaschewski: Nein, hier liegt ganz klar ein schlechteres Nutzen-Risiko-Verhältnis vor als bei Guanfacin. So treten typische Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Sedierung und Somnolenz im Vergleich zu Guanfacin sehr viel häufiger und mit stärkerer Intensität auf.

DAZ: Eine nächste Überprüfung der S3-Leitlinie ist in ca. 1,5 Jahren geplant. Sind Änderungen möglich?
Banaschewski: Einige neuere Studien deuten darauf hin, dass eine möglichst frühzeitige Diagnosestellung und medikamentöse Behandlung wichtiger sein könnten als derzeit angenommen. So ist in einer Studie zum Mortalitätsrisiko bei ADHS-Patienten gezeigt worden, dass das Mortalitätsrisiko umso stärker sinkt, je kürzer der Zeitraum zwischen Diagnose und Behandlungsbeginn ist. Noch ist es jedoch verfrüht, daraus potenzielle Änderungen ableiten zu können.

DAZ: Vielen Dank für das Gespräch! |

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