Gesundheitspolitik

AOK fordert faire Preise für neue Arzneimittel

Vorschläge für Reformen und kurzfristige Einsparungen / AOK-Chef Litsch: Erleichterte Abgaberegeln für Arzneimittel nicht nötig

ks | Normalerweise erscheint im Herbst der Arzneiverordnungs­report, der alljährlich zu hohe Arzneimittelausgaben beklagt. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) hat diesen Report bis vor zwei Jahren mitherausgegeben, nun setzt es auf eine eigene Publikation: Vergangenen Mittwoch haben WidO und AOK-Bundesverband erstmals den „Arzneimittel-Kompass 2021“ vorgestellt. Im Fokus stehen hochpreisige Arzneimittel und wie– zehn Jahre nach der Zeitenwende durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – eine faire Preisgestaltung aussehen könnte. Bei der Vorstellung der Publikation brachte der Vorstandschef des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, aber noch weitere Sparideen ins Spiel.
Foto: AOK-Mediendienst

Martin Litsch – Vorstandschef der AOK

In der sich neigenden Legislaturperiode waren Einsparungen im Gesundheitswesen kein Thema – erst recht nicht während der Pandemie. Das könnte sich nun ändern. Die gesetzliche Krankenversicherung fährt nach einigen komfortablen Jahren wieder Defizite ein – trotz steigender Bundes­zuschüsse und der Übernahme vieler pandemiebedingten Gesundheitsausgaben durch den Staat. Aus der Vergangenheit wissen wir nur zu gut: Wenn kurzfristig gespart werden soll, setzt die Politik gern im Arzneimittelsektor an. Und beim WidO und dem AOK-Bundesverband fände man das nur gerechtfertigt.

Teure Neuheiten

Helmut Schröder, stellvertretender WidO-Geschäftsführer und Mit­herausgeber des „Arzneimittel-Kompass“, präsentierte einige Zahlen, die aufhorchen lassen: Mit 49,2 Milliarden Euro haben die GKV-Arzneimittelausgaben 2020 einen neuen Höchststand erreicht. 2011, so Schröder, habe ein Arzneimittel im Mittel noch 180 Euro pro Packung gekostet – im August 2021 habe der Preis bei durchschnittlich 1225 Euro gelegen (Gesamtmarkt). Neue Arzneimittel, die in den vergangenen 36 Monaten auf den deutschen Markt gekommen sind, kosteten aktuell sogar im Schnitt 51.189 Euro pro Packung (2011: 902 Euro). Die Aussagekraft solcher Daten ist allerdings sehr beschränkt. Das teuerste Arzneimittel ist mittlerweile das Gen­therapeutikum Libmeldy mit einem Listenpreis von 2,9 Millionen Euro. Die Hälfte der gesamten GKV-Arzneimittelausgaben fiel auf den patent­geschützten Bereich – der Verordnungsanteil dieser neuen Präpa­rate liegt aber nur bei 6 Prozent (2011 waren es noch 15 Prozent). Es wird also sehr viel Geld für die Behandlung sehr weniger Patienten ausgegeben. Und die Hochpreiser, die auch Apotheken zu schaffen machen können, schlagen immer deutlicher zu Buche: Ent­fielen 2011 rund 17 Prozent des Arzneimittelgesamtumsatzes auf Präparate mit einem Preis von 1000 Euro oder mehr, waren es 2020 bereits 43 Prozent.

Überdurchschnittliche EBIT-Margen der Hersteller

Auch wenn es sicher wichtige Innovationen gibt: Die Autoren der AOK-Publikation vermissen eine Balance zwischen dem Nutzen, dem Preis und den Gewinnen der Industrie. Laut dem Beratungs­unternehmen Ernst & Young konnten die 21 weltweit umsatzstärksten Pharmaunternehmen, die im vergangenen Jahr 53 Prozent der Nettoumsätze des GKV-Gesamtmarktes auf sich vereint haben, EBIT-Margen (Gewinn vor Zinsen und Steuern im Verhältnis zum Umsatz) von durchschnittlich 25,7 Prozent aufweisen. Eine überdurchschnittliche Marge im Vergleich zu anderen Branchen, die aus Kassensicht durchaus gesenkt werden kann.

Dazu sei zum einen nötig, die frühe Nutzenbewertung mit den anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen weiter­zuentwickeln. Die Kritik an der freien Preisgestaltung der Unternehmen im ersten Marktjahr und die Forderung, den Erstattungs­betrag rückwirkend geltend zu lassen, sind nicht neu. Der AOK-Bundesverband möchte aber auch, dass es schneller geht: Die Nutzenbewertung könnte schon vor dem Marktzugang beginnen, die Verhandlungen über den Erstattungsbetrag von vier auf zwei Runden verkürzt werden, erklärte AOK-Chef Litsch. Neun Monate nach dem Markteintritt könnte der Preis stehen – in dieser Zeit sollte ein Interimspreis gelten, danach könne ein rückwirkender Ausgleich zwischen Kassen und Hersteller erfolgen.

Was ist ein „fairer Preis“?

Doch der „Arzneimittel-Kompass“ präsentiert auch einen Vorschlag, der über das Schrauben am bekannten Verfahren hinausgeht. Ein Algorithmus soll den Weg zu wirklich fairen Preisen bereiten, am besten gleich für ganz Europa. Die Idee stammt von der Erasmus Universität Rotterdam, der Internationale Verband der Krankenkassenverbände und Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit (AIM) hat daraus einen Lösungsansatz entwickelt, der laut AOK auch schon im Europäischen Parlament vorgestellt wurde. Demnach werden die Kosten für Forschung und Entwicklung (F&E) eines neuen Arzneimittels mit einem Pauschalbetrag von 250 Millionen Euro angesetzt. Pharmazeutische Hersteller können aber auch ihre darüber hinaus gehenden eigenen Investitionen dokumentieren und bis zu einer Grenze von 2,5 Milliarden Euro geltend machen. Eine Pauschale (oder reale Kosten) werden auch bei den Produktions- und Gemeinkosten berücksichtigt. Für Vertrieb und fachliche Information werden 20 Prozent der F&E-Kosten veranschlagt. Sodann wird dem Unternehmen ein Grundgewinn von 8 Prozent gewährt. Um einen Anreiz für die Entwicklung nutzbringender und benötigter Arzneimittel zu schaffen, setzt das Modell noch einen Innovationsbonus oben drauf. Er könnte bei bis zu 40 Prozent aller Kosten liegen.

Altbekannte Sparideen

Dies klingt nach Zukunftsmusik. Litsch sparte daher auch nicht mit Vorschlägen, wie kurzfristig im Arzneimittelmarkt gespart werden könnte – und griff dabei in einen altbekannten Instrumentenkasten. So sollte der gesetzliche Herstellerrabatt für patentgeschützte Arzneimittel von 7 auf 16 Prozent angehoben und der Mehrwert­steuersatz von 19 auf 7 Prozent gesenkt werden. Festhalten wollen die AOKen auch am langjährigen Preismoratorium für den nicht festbetragsgeregelten Bestandsmarkt. „Das klingt nicht schick für die Industrie“, räumte Litsch ein. Angesichts ihrer EBIT-Margen hält er die Einschnitte aber für erträglich.

Loblied auf Rabattverträge

Litsch verteidigte überdies mit Verve die Rabattverträge – und zwar im Einpartnermodell. Dieses helfe den Unternehmen, sicher ihre Abgabemengen zu kalkulieren, und führe zudem seltener zu Präparatewechseln für die Patienten. Die Rabattverträge hätten den AOKen im vergangenen Jahr 11 Prozent der Arzneimittelkosten eingespart – rund 5 Milliarden Euro weniger habe die gesamte GKV durch die Verträge ausgeben müssen. Diese Erfolgsgeschichte, die sich auch im Pandemiejahr fortsetzte, ist für Litsch allerdings kein Grund, die erleichterten Abgaberegeln beizubehalten, die die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverodnung den Apotheken eröffnet, wenn ein Rabattarzneimittel nicht verfügbar ist. Aus seiner Sicht haben diese Sonderregelungen schlicht keine Relevanz und sind daher auch künftig nicht nötig. Wenn die Apothekerschaft eine Verstetigung dieser Regeln fordert, geht es aus Litschs Sicht nur um ein „Symbolthema“.

Nicht zuletzt regte der AOK-Chef die Rückbesinnung auf andere vom Gesetzgeber begrabene Maßnahmen im Arzneimittelbereich an: So sollten Grippeimpfstoffe wieder ausgeschrieben werden oder zumindest Preisverhand­lungen zwischen Kassen und Apo­theken stattfinden. Und im onkologischen Bereich, so Litsch, könne man ebenfalls wieder „offener“ werden. |

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