Wirtschaft

E-Rezept: Was bringt die Open-Source-Strategie der Gematik?

Die Fachcommunity soll Sicherheitslücken aufspüren – finanzielle Anreize gibt es aber nicht

cm/ks | Anfang August ver­öffentlichte die Gematik die sogenannten Quellcodes der E-Rezept-App. Zum einen, um Transparenz zu schaffen, zum anderen, um die Sicherheit zu erhöhen – denn nach ihrer Vorstellung soll sich jetzt die „Fachcommunity“ damit befassen. Was hat es damit auf sich? Die AZ sprach darüber mit dem IT-Experten Martin Tschirsich.

Als die Gematik vor knapp drei Wochen die Quellcodes für die E-Rezept-App veröffentlichte, hieß es in der Pressemitteilung vom 5. August: „Damit folgt sie ihrem Weg der Transparenz gegenüber der breiten Öffentlichkeit und der Fachcommunity.“ Man wolle damit das Vertrauen in die Telematik­infrastruktur (TI) stärken und in den Austausch gehen. „Die Community ist kein stiller Leser – wir erwarten konstruktive Kritik von Experten, was unserer App letztendlich zugutekommt und die Nutzerfreundlichkeit erhöhen kann“, kommentierte Florian Hartge, Verantwortlicher für Produktionsprozesse innerhalb der Gematik. „Die Entwicklung, die Einführung und auch die sicherheitstechnische Bewertung der E-Rezept-App sollen mit größtmöglicher Offenheit geteilt werden“, so die Idee.

Doch die wenigsten Apotheker dürften mit solchen Codes etwas anfangen können. Wie viel Transparenz steckt also wirklich in der Open-Source-Strategie der Gematik? Und lässt sich auf diesem Weg das Ziel erreichen, das Vertrauen in die TI zu stärken – also bringt dieses Vorgehen einen Gewinn in puncto Sicherheit?

Was ist ein Quellcode?

Ein Quellcode (source code) oder Quelltext ist in der Informatik der für Menschen les­bare, in einer Programmiersprache geschriebene Text eines Computerprogrammes. Abstrakt betrachtet kann der Quelltext für ein Programm auch als Software-Dokument bezeichnet werden, welches das Programm formal so exakt und vollständig beschreibt, dass dieses aus ihm vollständig automatisch von einem Computer in Maschinensprache übersetzt werden kann.

(Quelle: Wikipedia)

Spezifikationen bedeutender als Quellcode

Martin Tschirsich ist Spezialist für Informationssicherheit und Mitglied im Chaos Computer Club (CCC). Im Gespräch mit der AZ begrüßt er grundsätzlich den Ansatz, diese Informationen öffentlich zugänglich zu machen – auch wenn das im Fall der Quellcodes für die E-Rezept-App aus seiner Sicht nicht unmittelbar einen Mehrwert bringt. Denn vor rund einem Jahr hatte die Gesellschaft bereits die Spezifikationen für die App bekannt gemacht. Deren Bedeutung ist laut Tschirsich deutlich höher einzustufen als die der nun publizierten Quellcodes.

Verglichen mit dem Bau eines Hauses seien die Spezifikationen so etwas wie der Bauplan, erläutert der IT-Experte. „Da steckt alles Wichtige drin“, sagt er. Die Quellcodes könne man mit dem Rohbau vergleichen. „Anhand der Quellcodes kann man also überprüfen, ob das, was im Bauplan steht, auch umgesetzt wurde und ob vorgeschlagene Änderungen eingeflossen sind.“ Immer vorausgesetzt, die publizierten Quellcodes würden auch eins zu eins umgesetzt.

Zudem ist es möglich, anhand der Quellcodes potenzielle Sicherheitslücken zu identifizieren. Das ist naturgemäß keine Spielwiese für die Apotheker sondern für Fachleute wie Tschirsich. Es gibt nur ein Problem: Anders als auf Konzernebene inzwischen üblich, lobt die Gematik keine Prämien aus für das Auffinden solcher Schwachstellen. Die im Fachjargon als „Bug Bounties“ bezeichneten Boni sind meist gestaffelt, je nachdem, als wie gefährlich die auf­gespürte Sicherheitslücke einzustufen ist. „Damit sorgt man dafür, dass möglichst viele Menschen, die etwas davon verstehen, die Sicherheit des Systems prüfen“, erklärt der IT-Spezialist.

Gematik: finanzielle Incentives nicht erforderlich

Die Gematik verzichtet darauf, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Zwar sei man „hoch­interessiert an Meldungen von Schwachstellen, die Sicherheitsforschende in unseren Anwendungen gefunden haben“, erklärt eine Sprecherin auf Nachfrage. Durch die Veröffentlichung des Sourcecodes werde diese Community auch kontinuierlich in die weitere Verbesserung der Softwarekom­ponenten integriert. Geplant sei zudem, „noch in diesem Jahr eine Policy für das Coordinated Vul­nerability Disclosure zu veröffentlichen“, in der die Regeln für eine Meldung, Bewertung, Behebung und anschließende Veröffentlichung von gefundenen Schwachstellen niedergeschrieben sind. „Eine finanzielle Incentivierung über sogenannte Bug Bounties wird durch dieses Vorgehen nicht erforderlich sein.“

Das heißt: Die Quellcodes sind zwar für jedermann zugänglich, doch dass sie sich wirklich jemand anschaut, sei sehr unwahrscheinlich, so Tschirsich. „Das ist extrem aufwendig und die Zeit, die man reinsteckt, wird nicht honoriert.“ Für die sogenannte Security Community fehle schlicht der Anreiz, sich damit zu befassen.

Knackpunkt Identifikation

Unabhängig von den technischen Aspekten sieht Tschirsich seit Langem ein weiteres, besonders schwerwiegendes Problem – und das betrifft die „Schlüsselvergabe“ zu den Verordnungsdaten der Versicherten. Hier öffneten die Krankenkassen Angreifern ein Tor, indem sie bei der Ausgabe der NFC-fähigen Gesundheitskarten und der Persönlichen Identifika­tionsnummern (PIN) auf Verfahren setzten, die nicht geeignet seien, die Identität einer Person sicher festzustellen.

Wie leicht es ist, sich in ein vermeintlich sicheres System einzuschleichen, hat der IT-Fachmann zuletzt demonstriert, als er sich gemeinsam mit Dr. André Zilch Zugang zum DAV-Portal verschaffte. Auch als es Mitgliedern des CCC im Dezember 2019 gelungen war, die Telematikinfrastruktur zu knacken, war Tschirsich beteiligt gewesen. In beiden Fällen nutzten die IT-Spezialisten nicht etwa eine technische Lücke, sondern verschafften sich Zugang, indem sie Schwachstellen bei der „Schlüsselvergabe“ identifizierten. Im Fall des DAV-Portals etwa gaben sie sich als Apotheker aus und gelangten so an einen Zugangscode.

Ein vergleichbares Problem besteht auch bei der E-Rezept-App, meint Tschirsich. Um diese vollumfänglich nutzen zu können, benötigt jeder Versicherte eine NFC-fähige Gesundheitskarte plus eine PIN von seiner Krankenkasse. Viele Kassen, insbesondere große Versicherer, bieten für die Identifikation bei Beantragung der NFC-fähigen Karte ein sogenanntes Robo-Ident-Verfahren an. „Das ist wie ein Video-Identifikationsverfahren, nur ohne menschliches Zutun“, erläutert Tschirsich gegenüber der AZ. Im Klartext: Ob die Person, die sich als der Versicherte XY ausgibt, auch wirklich XY ist, überprüft lediglich ein Roboter.

Sowohl Video-Ident als auch Robo-Ident seien zwar von der Gematik abgesegnet, laut dem Bundesdatenschutzbeauftragen aber unzulässig, da sie den sehr hohen Schutzbedarf nicht gewährleisten können. Die Kassen setzten sich schlicht über die Vorschriften hinweg – ein Einfallstor für Angreifer. |

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