Gesundheitspolitik

Bottroper Krebspatienten erhielten mehr Infusionen

Nach dem Zytoskandal: NRW-Ministerium präsentiert Vergleichsstudie

hfd | Ist der Verlauf der Krebs­erkrankung von Patienten auffällig, die von der früheren „Alten Apotheke“ in Bottrop mit Krebsmitteln beliefert wurden? Schließlich waren diese Infusionen teilweise stark unterdosiert. Eine erste grobe Auswertung der AOK Rheinland/Hamburg hatte im Jahr 2018 Hinweise hierauf ergeben, weshalb das NRW-Gesundheitsministerium eine größere Vergleichsstudie in Auftrag gab. Diese zeigt nun: Patienten der „Alten Apotheke“ haben signifikant mehr Infusionen erhalten als solche, die anderweitig versorgt wurden. Zudem trat bei Brustkrebspatientinnen mit Rezidiv dieses deutlich früher auf.

„Ob dies mittelfristig auch mit einer höheren Sterberate einhergeht, kann derzeit nicht beurteilt werden“, erklärt das NRW-Ministerium in einer Pressemitteilung anlässlich der Vorstellung der Studie am 13. April. Die vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) durchgeführte Kohortenstudie ergab, dass Brustkrebspatientinnen der „Alten Apotheke“ zwar früher, aber nicht signifikant häufiger ein Rezidiv hatten als Vergleichspatientinnen. Ähnlich ist es für Patienten und Patientinnen einer zweiten untersuchten Gruppe, die Blut- oder Lymphdrüsenkrebs hatten: Diese verstarben nicht häufiger als Vergleichspatienten. Doch auch sie erhielten deutlich mehr Therapien.

Foto: Trsakaoe – stock.adobe.com

Erschüttertes Vertrauen

„Bei dem Fall des Bottroper Apothekers handelt es sich um ein unfassbares Verbrechen, das mich zutiefst erschüttert hat“, erklärt Gesundheitsminister Laumann – auch habe der Fall das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung schwer beschädigt. „Ich hoffe, die Studienergebnisse tragen zur Aufklärung der Auswirkungen dieser nicht ordnungsgemäßen medikamentösen Versorgung bei.“ Laumann stellte die Ergebnisse zusammen mit der Studienleiterin Ulrike Haug vom BIPS in einer Videokonferenz Bottroper Patienten vor. Die Ergebnisse seien ein Beweis, dass sie schwer geschädigt worden sind, erklärte der Minister laut Teilnehmern.

Für die Studie hatten die Epidemiologin Haug und ihr Team 255 Brustkrebspatientinnen sowie 149 Personen mit nicht-soliden Tumoren mit Patienten verglichen, die bis zum Therapiebeginn eine ähnliche Erkrankung hatten und ungefähr gleich alt waren. Andere Risikofaktoren, zu denen die Forscher Daten von fünf Krankenkassen auswerten konnten, wurden in der Analyse mit berücksichtigt. Brustkrebspatientinnen der Bottroper Apotheke erhielten im Mittel an 15 Tagen individuell hergestellte Therapien, Vergleichspatientinnen an elf Tagen, ergab die Studie. Bei Patienten mit nicht-soliden Tumoren waren es 16 Tage, wenn sie von der „Alten Apotheke“ versorgt wurden, die anderweitig versorgten erhielten an zwölf Tagen Therapien. Im Mittel traten Rezidive bei den Brustkrebspatientinnen rund 2,5 Monate früher auf als in der Vergleichsgruppe.

„Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hier um die Ergebnisse des Gruppenvergleichs handelt“, erklärt Haug: Es könne nicht geschlossen werden, dass die unterdosierten Zubereitungen aus der „Alten Apotheke“ bei keinem der betroffenen Patienten zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf geführt haben. „Man sollte aber auch bedenken, dass die längerfristigen Auswirkungen noch nicht abschließend beurteilt werden konnten. Dazu wäre eine noch längere Beobachtungszeit interessant.“ Laut Teilnehmern der Videokonferenz erwägt Laumann, weitere Untersuchungen zu finanzieren.

Längere Therapie wegen ausbleibender Effekte?

Haug sieht einen möglichen Erklärungsansatz darin, dass bei den klinischen Verlaufskontrollen bei den von der „Alten Apotheke“ versorgten Patienten häufiger ein noch nicht ausreichender Therapieeffekt beobachtet wurde und sie deshalb länger therapiert wurden. Bei einer Razzia wies mehr als jede zweite sichergestellte Krebstherapie eine Unterdosierung auf, teils enthielten in der Apotheke hergestellte Infusionsbeutel nur Kochsalzlösung oder einen falschen Wirkstoff.

„Wenn es der Apotheker bei der Unterdosierung nicht gezielt auf bestimmte Patientinnen oder Patienten abgesehen hatte, wovon derzeit auszugehen ist, wäre es ein gewisser Zufallsprozess gewesen, welche Person wie oft eine Zubereitung erhielt, die nicht den ärztlich verschriebenen Wirkstoff­gehalt aufwies“, heißt es in einer Zusammenfassung der Studie. Dementsprechend hätte sich bei einer Verlängerung der Therapie die Chance erhöht, dass die Person Zubereitungen mit normalem Wirkstoffgehalt erhielt. Dies könne erklären, warum die Häufigkeit des Auftretens von Rezidiven bei Brustkrebspatientinnen be­ziehungsweise des Versterbens bei Patienten mit nicht-soliden Tumoren nicht höher war als in der Kontrollgruppe.

Whistleblower Porwoll: eindeutige Ergebnisse

„Die Ergebnisse, insbesondere für die Diagnose Brustkrebs, sind eindeutig“, sagte Martin Porwoll gegenüber DAZ.online. Er war kaufmännischer Leiter der Apotheke und hatte als Whistleblower den Fall mit aufgedeckt. Die Schlussfolgerungen aus der Studie legten nahe, dass die Therapien gestreckt wurden – sofern es da überhaupt noch Zweifel gegeben hat. Allerdings sollte die Rolle der Ärzte nun neu beleuchtet werden, sagte Porwoll.

Das Landgericht Essen hatte den Bottroper Apotheker Peter Stadtmann im Juli 2018 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt und ein lebenslanges Berufsverbot verhängt, beides wurde zwischenzeitlich vom Bundesgerichtshof bestätigt. Stadtmann hat hiergegen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, das in der Sache noch nicht entschieden hat. Außerdem hat Stadtmann beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage gegen den Widerruf seiner Approbation eingelegt, auch dieses Verfahren ist noch anhängig.

Ferner versuchen Betroffene, Schadensersatz einzuklagen. Doch die Chancen stehen schlecht, es läuft ein Insolvenzverfahren gegen Stadtmann. Die nordrhein-westfälische Landesregierung will neue staatliche Entschädigungsleistungen für Opfer von Verbrechen und Gewalt einführen, die greifen sollen, wenn Entschädigungen nach dem Opferentschädigungsgesetz des Bundes nicht möglich sind – wie im Bottroper Fall, in dem sich individuelle Schädigungen praktisch nicht nachweisen lassen. Laut Teilnehmern der Videokonferenz hat Minister Laumann sich dafür aus­gesprochen, dass bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode im Mai 2022 ein entsprechender Fonds eingerichtet wird. |

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