Wirtschaft

Welche Ethik für eine Pharmazie der Zukunft?

Der Apothekerberuf wird ein Heilberuf sein – oder er wird nicht sein

Medizin und Pharmazie befinden sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess; dieser ist bedingt durch die technologische Entwicklung einerseits und durch politische Weichenstellungen andererseits. Auf der technologischen Entwicklungsseite steht vor allen Dingen die zunehmende Digitalisierung und damit der Einzug einer neuen Denkform, die den Patienten immer weniger als das sieht, was sich durch direkte Anschauung ergibt, sondern als das, was an datenvermittelter Information über ihn gewonnen werden kann. Auf der politischen Transformationsseite steht die folgenschwere Entscheidung, das gesamte Gesundheitswesen immer mehr aus dem sozialen Bereich herauszunehmen und es als Teil eines Wirtschafts­systems zu begreifen.

Diese zwei Großentwicklungen werden beide als alternativlose Naturgesetze ausgegeben, denen man sich lediglich anzupassen habe, ohne ihre Grundrichtung überhaupt verändern zu können. Auf diese Weise werden die grundlegenden Fragen der Zukunfts­gestaltung vollkommen außen vor gelassen, und die grundlegendste aller Fragen wäre eigentlich gewesen, welche Medizin oder Pharmazie dem hilfsbedürftigen Menschen gerecht wird.

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Ausrichtung der Ziele nach den Mitteln

Wenn die Digitalisierung lediglich als alternativloser Königsweg dargestellt wird, dann wird die Technik nicht nach den Zielen der Gesundheitsversorgung, sondern die Gesundheitsversorgung wird nach den Mitteln der Technik gestaltet. Daher liegt der entscheidende Denkfehler unserer Zeit in der Verwechslung der Mittel mit den Zielen. Immer mehr wird gefragt, was man mit der Technik alles noch machen kann, aber immer weniger, woran es in der modernen Medizin am meisten mangelt und worin man bestenfalls verstärkt investieren sollte. Investiert wird in die Potenzierung technischer Möglichkeiten, zum Beispiel der digitalisierten Datensammlung und -übertragung.

Aber leidet denn die moderne Medizin genau darunter, dass sie zu wenig Daten hat? Und leidet die Apotheke genau darunter, dass ihr Rezepte (noch) in Papierform vorgelegt werden? Im Grunde werden die Strukturen derzeit sukzessive umgebaut, ohne je die Frage zu stellen, woraufhin sie eigentlich umgebaut werden sollte. Das ist nichts anderes als eine Ausrichtung der Ziele nach den Mitteln, die auf dem freien Markt erschaffen werden. Diese Mittel sind ja nicht per se zu kritisieren; viele davon lassen sich als Beitrag zur Verbesserung der Patientenver­sorgung beschreiben, denn die Einbindung mobiler Bestell-Funktionen kann durchaus eine Hilfe für den Patienten sein.

Das Problem fängt erst dann an, wenn man die Ausgestaltung des Versorgungssystems allein der technischen Entwicklung überlässt, ohne darauf zu reflektieren, was tatsächlich am nötigsten ist. Gerade in unserer Zeit ist es daher umso notwendiger, dass sich die Gesundheitsversorgung vor allem auf ihre soziale Identität besinnt und diese Identität nicht dem technologischen Imperativ unterordnet, sondern sie wachhält, um auf diese Weise auch und gerade technologische Entwicklungen danach zu beurteilen, ob sie dem sozialen Gehalt gerecht werden oder ob sie eine Entmenschlichung befördern.

Gegenwärtig wird so getan, als könne man über Digitalisierung alles verbessern. Geradezu als Lösung aller Probleme wird die Digitalisierung allerorten beschrieben. Sicher kann man einiges über die Digitalisierung verbessern und erleichtern, aber die Digitalisierung kann erstens nicht alle Probleme lösen und zweitens schafft eine unreflektierte Anwendung der Digitalisierung neue Probleme. Bei der Digitalisierung kann es nicht um die Frage gehen, ob man dafür oder dagegen ist. Es geht vielmehr um eine Reflexion darauf, was Digitalisierung leisten kann und was nicht.

Der Mensch ist mehr als alle Daten

Die Digitalisierung verstellt somit den Blick auf die Komplexität der Arbeitspraxis der Heilberufe, denn durch die Glorifizierung der Digitalisierung wird die Besonderheit des Heilberufs systematisch ignoriert und dequalifiziert. Die Professionalität sowohl des Apothekerberufes als auch des Arzt­berufes besteht gerade nicht darin, einfach nur den richtigen Algorithmus zu bedienen, sondern sie besteht darin, die Komplexität eines krankheitsbedingten Problems durch die Zusammenführung verschiedener Wissensformen so zu bewältigen, dass am Ende ein numerisch abgestützter und zugleich erfahrungsgesättigter Rat stehen kann. Dieser Rat wird am Ende nur dann ein hilfreicher sein, wenn er Resultat einer heilberuflichen Professionalität sein wird, die unweigerlich mit Reflektiertheit und Ganzheitlichkeit zu tun hat und nicht ersetzt werden kann durch eine Herrschaft der Algorithmen, weil Algorithmen etwas nicht können, was allein ein Professioneller kann: den kranken Menschen in seiner spezifischen Situation verstehen.

Der Patient als Nummer

Diese Entwicklung wird noch verstärkt durch den zweiten Mega­trend der Gesundheitspolitik, und das ist der Trend zur durchgreifenden Ökonomisierung aller Bereiche.

Immer mehr wird die Medizin aus dem sozialen Bereich herausgelöst und einer reinen betriebswirtschaftlich-ökonomischen Logik unterworfen. Auf diese Weise werden Anreize geschaffen, die den Digitalisierungstrend bestätigen und befördern. Im Zuge dieser Durchökonomisierung werden Anreize gesetzt, die Patienten im Sinne einer betrieblichen Logik fließbandartig so schnell und stromlinienförmig wie möglich durchzuschleusen. Es werden Anreize gesetzt, den Patienten wie eine Nummer zu behandeln und ihn in gewisser Weise schnell abzufertigen. Es gilt, an dem einzelnen Patienten so viel wie möglich zu sparen, um die „Herstellungskosten“ gering zu halten. Die individuelle Beschäftigung mit den unverwechselbaren Momenten des Patienten gilt zunehmend als betriebsschädigend. Wenn die Medizin als industrielles Großunternehmen betrachtet wird, so verliert dieses Wirtschaftsunternehmen automatisch seine soziale Identität, denn in einem Unter­nehmen geht es primär um kluge Investition und nicht um die Antwort auf eine Situation der Hilfsbedürftigkeit. Der Erfolg des Unternehmens bemisst sich nach den Steigerungsraten, nach den Bilanzen, nach der Produktivität. Aber in der Medizin werden keine Objekte hergestellt, sondern es geht darum, Menschen zu helfen, ihnen einen guten Rat zu geben, sie zu entängstigen, ihnen Mut zuzusprechen, ihnen zuzuhören. Wenn aber nur Produktionszahlen zählen und An­reize zum schnelleren Zuhören gesetzt werden, dann ist das eine folgenschwere Fehlsteuerung der Medizin und eine Ignorierung der sozialen Grundidentität von Medizin.

Zukunftsperspektiven für die Apotheke

Es ist unbestritten, dass die Apotheken unweigerlich einem An­passungsdruck unterliegen. Und dieser ist ja nicht grundsätzlich zu kritisieren. Denn alle Entwicklungen, die es dem Patienten leichter machen, sich zu orientieren und ein Arzneimittel schneller als bisher zu bekommen, sind sehr zu begrüßen. Aber gerade bei den Apotheken ist es umso wichtiger, dass sie sich diesen beiden beschriebenen Trends nicht blindlings unterwerfen, denn unheilvoll ist gerade die Kombination der Digitalisierung mit der Ökonomisierung, an deren Ende nämlich eine „Amazonisierung“ der Apotheke stehen würde.

Genau dies kann aber nicht im Interesse des Patienten liegen. Der Arzneimittelmarkt ist kein gewöhnlicher Markt. Hier geht es nicht um eine Maximierung des Konsums, sondern um die Anleitung zu einem vernünftigen und maßvollen Gebrauch der Mittel, die es in der Apotheke gibt. Und ferner lässt sich die Identität der Apotheke nicht auf ein Kunden-Anbieter-Verhältnis reduzieren, denn was das Spezifische der Apotheke ausmacht ist gerade nicht allein die schnelle Zurverfügungstellung bestimmter Mittel, sondern vor allem die Bereitstellung der Mittel im Bewusstsein eines heilkundlichen Auftrags. Die Apotheke ist kein Einkaufsladen, sondern sie ist ein Ort, an dem man sich Hilfe holen kann, in Form von notwen­digen Arzneimitteln und vor allem in Form einer fachmännischen Beratung, die nur dann eine gute Beratung sein kann, wenn sie vor dem Hintergrund einer heilberuf­lichen Identität erfolgt.

Zum Heilberuf der Apotheke gehört es zentral dazu, dem hilfe- und ratsuchenden Menschen auf keinen Fall schaden zu wollen, sondern ihm nachhaltig helfen zu wollen. Das ist der Markenkern der Apotheke, und die Megatrends der heutigen Zeit werden nur so lange segensreich sein, wie sie an diesen Markenkern nicht rühren. Sobald der hilfesuchende Patient nur noch als Datenträger gesehen wird und die Apotheke nur noch als Dienstleistungsgewerbe, findet eine Entfremdung vom hilfesuchenden Menschen statt, und eine solche Entfremdung sollte die Apothekerschaft nicht zulassen, weil man als Apotheker nicht für eine rein absatzorientierte Durchschleusung angetreten ist. Insofern lässt sich für die Zukunft der Apotheke sagen, dass der Apothekerberuf entweder ein Heilberuf sein wird – oder er wird nicht sein. |

Prof. Dr. med. Giovanni Maio ist Medizinethiker am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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