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Cannabis: Viel Potenzial und offene Fragen

Seminar der DPhG-Landesgruppe und der Apothekerkammer Hamburg

HAMBURG (tmb) | Cannabis wird seit Jahrtausenden für viele medizinische Zwecke verwendet, sodass sich das Endocannabinoid-System als Target neuer zielgerichteter Therapien anbietet. Zur Therapie mit den derzeit verfügbaren Cannabis-Zubereitungen gibt es jedoch viele offene Fragen. Dies wurde beim gemein­samen Fortbildungsseminar der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG), Landesgruppe Hamburg, und der Apothekerkammer Hamburg am 15. Februar 2020 deutlich.

Prof. Dr. Sebastian Wicha und Stefanie Eckard, zweite Vizepräsidentin der Apothekerkammer Hamburg, betonten die gute Zusammenarbeit zwischen den beiden gastgebenden Organisationen bei der traditionsreichen gemeinsamen Fortbildung.

Foto: DAZ/tmb

Gastgeber und Referenten beim Fortbildungsseminar der DPhG-Landesgruppe und der Apothekerkammer Hamburg (v. l.): Prof. Dr. Sebastian Wicha (Moderator), ­Stefanie Eckard (zweite Vizepräsidentin der Apothekerkammer), Grit Spading, Jan P. Witte, Dr. Gundula Frank.

Zukunftspotenzial durch ­vielfältige Effekte

Prof. Dr. Thomas Efferth, Mainz, berichtete, dass die Verwendung von Cannabis für vielfältige medizinische Zwecke schon seit 5000 Jahren in mehreren Kulturkreisen belegt ist. Mitte des 19. Jahrhunderts fand es Eingang in die westliche Medizin und wurde später wegen seiner Rauschwirkung verboten. New Mexico erlaubte 1978 als erster US-Bundesstaat die medizinische Anwendung, 1990 wurde der erste Cannabinoid-Rezeptor und 1992 das erste Endocannabinoid als endogener Ligand entdeckt. Die Hauptinhaltsstoffe sind Tetrahydrocannabinol (THC) mit bis zu 26 Prozent und Cannabidiol (CBD) mit bis zu 10 Prozent der Trockenmasse. Die über 100 weiteren Cannabinoide sind jeweils in viel kleineren Mengen enthalten, können aber in ihrer Summe durchaus Wirkungen haben, die erst wenig erforscht sind. Efferth betonte, dass THC und CBD zu den seltenen Fällen gehören, bei denen die Inhaltsstoffe einer Pflanze synergistisch und nicht nur additiv wirken. Der Cannabinoid-Rezeptor 1 ist überwiegend im Gehirn und dort in nahezu allen Regionen lokalisiert. Dies erklärt die vielen psychischen Effekte und die Ausfallerscheinungen im Rausch. Der Cannabinoid-Rezeptor 2 ist in vielen Organen und sogar in Tumoren zu finden. Dies erkläre die vielfältigen traditionellen Verwendungen von Cannabis, erläuterte Efferth. Mögliche Wirkungsmechanismen gegen Tumoren seien Proliferationshemmung, Apoptose und Hemmung der Neoangiogenese. Doch dafür müssten synthetische Cannabinoide mit gezielten Effekten entwickelt werden.

Bisher wurden günstige Wirkungen von Cannabis insbesondere gegen Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapien, gegen Schlafstörungen, beim Tourette-Syndrom, zur Appetitanregung bei HIV-Infizierten, bei chronischen Schmerzen und gegen die Spastik bei multipler Sklerose beschrieben. Kontraindikationen sind Überempfindlichkeit, bereits vorhandene Persönlichkeitsstörungen oder Sucht, Schwangerschaft, die Anwendung vor oder in der Pubertät und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Probleme sieht ­Efferth besonders in Psychosen, Halluzinationen, Wahnvorstellungen und schweren Denkstörungen. Die Leistungsfähigkeit sinke vor allem in Aspekten der Sorgfalt. Besonders bei Jugendlichen nehme das Gehirnvolumen ab. Dies mindere die Aufmerksamkeit und die Intelligenz. Darum wandte sich Efferth entschieden gegen die Freigabe von Cannabis zum Freizeitgebrauch.

Therapie mit vielen ­Unbekannten

Die medizinischen Anwendungen in Deutschland sind Heilversuche bei schwerwiegenden Erkrankungen, bei denen die bisherige Therapie erfolglos geblieben ist und Cannabis eine Aussicht auf eine Verbesserung bietet. Dies sind die Voraussetzungen für die Kostenerstattung in der GKV, erklärte Dr. Gundula Frank, Hamburg. Doch es gebe keine feste Indikationsstellung. Gegen neuropathischen Schmerz ist Cannabis als Therapie der dritten Wahl in einer Leitlinie erfasst. Anders als bei anderen Arzneimitteln werde die Anwendung von Cannabis erst im praktischen Einsatz nach dem Prinzip „try and error“ erforscht, erklärte Frank. Da die Cannabinoide vielfach beim „Feintuning“ wirken, hingen die Effekte vom individuellen Ausgangszustand ab. Patienten unter Stress würden wahrscheinlich mehr als andere profitieren. Doch für die Auswahl geeigneter Patienten gebe es keine belastbaren Daten. Außerdem würden Langzeiterfahrungen fehlen.

Anhand von Fallbeispielen veranschaulichte Frank, dass Patienten sehr unterschiedlich reagieren. Auch der individuelle Erfolg verschiedener Zubereitungen sei sehr unterschiedlich. Manche Patienten profitieren von Vollextrakten, andere nicht. Gründe für den Therapieabbruch seien insbesondere Schwindelgefühl, kognitive Effekte, Wirkungen auf die Stimmung, starke Appetitanregung, Herzrasen und Blutdruckschwankungen. Einige Patienten würden die Cannabis-Therapie abbrechen, weil sie „sich komisch fühlen“. Frank warnte wegen der drohenden Tachykardie vor der Anwendung bei Herzinfarkt in der Anamnese. Die Patienten sollten ausführlich über die Abhängigkeitsgefahr und die eingeschränkten Reisemöglichkeiten informiert werden. Entgegen anderen Empfehlungen empfiehlt Frank, dass Patienten bei Cannabis-Anwendung kein Auto führen dürften.

Handling in der Apotheke

Pharmazierätin Grit Spading, Windeby, erläuterte die Vorgaben zum Umgang mit Cannabis-Produkten in der Apotheke. Sie betonte, dass verschiedene Sorten der Blüten bei der Rezeptbelieferung nicht ausgetauscht werden dürften. Die Sorten seien als unterschiedliche Arzneimittel zu betrachten. Obwohl die Blüten eine Teedroge sind, sei für das Abfüllen von Einzeldosen die Analysenwaage aus der Rezeptur nötig. Wenn Cannabis in der Rezeptur verarbeitet wird, sollte die Apotheke den Umgang mit Cannabis-Zubereitungen und die anschließende Reinigung im Hygieneplan berücksichtigen und die Hygieneanweisung im QMS darlegen. Spading empfahl, für Geräte zum Umgang mit Cannabis eine eigene Schublade einzurichten. Das Pflanzenmaterial ist staubig und sehr lipophil. Durch vorheriges Kühlen lasse sich das Anhaften an Rezepturgeräten bei der Zerkleinerung vermindern. Verordnungen ganzer Blüten sollten nicht pauschal unter Missbrauchsverdacht gestellt werden. Doch das Rauchen sei insbesondere wegen der dabei entstehenden Toxine nicht zu empfehlen, für die medizinische Anwendung sei ein Verdampfer nötig. Die Blüten müssten in geprüfte Primärpackmittel umgefüllt werden, zumal leere Originalbehälter über das Internet gehandelt würden. Im Gespräch mit den Patienten sollte deren Erwartungshaltung beachtet werden. Patienten mit Cannabis-Erfahrung ­seien möglicherweise von der Beschaffenheit der arzneilichen Ware überrascht. Dagegen gelte es, Patienten ohne Erfahrung mögliche Ängste zu nehmen.

Foto: Eric Limon – stock.adobe.com

Im „größten Tresor in Europa“ soll künftig Cannabis unter Hochsicherheitsbedingungen wachsen. Nirgendwo sonst ist der Anbau so streng geregelt wie in Deutschland, berichtete Jan P. Witte. Das Bild zeigt nicht die Anlage in Neumünster, diese befindet sich erst im Aufbau.

Anbau unter Hochsicherheits­bedingungen

Bisher deckt Deutschland seinen Bedarf für medizinisches Cannabis nur aus Importen. Drei Unternehmen gewannen Lose der Ausschreibung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte und sollen nun für das Institut hierzulande Cannabis-Pflanzen anbauen und zu Arzneidrogen verarbeiten, darunter die Aphria Deutschland GmbH. Jan P. Witte berichtete über die Arbeit des Unternehmens. In der Nähe von Neumünster werde derzeit eine Anlage aufgebaut, in der der ganze Prozess vom Anbau der Mutterpflanzen bis zum fertigen Arzneimittel unter Hochsicherheits­bedingungen stattfinden werde. Aus 15.000 Tonnen Stahlbeton sei der „größte Tresor Europas“ entstanden. Die Pflanzen würden streng von den technischen Einrichtungen getrennt, damit Techniker keinen Kontakt zu den Pflanzen haben. Für den Anbau gelten die Regeln der Good Agriculture and Collection Practice, für die ganze weitere Verarbeitung die Good Manufacturing Practice für Arzneimittel. Das größte technische Problem sei die Belüftung der verschlossenen Anlage. Die Pflanzen würden niemals dem Tageslicht ausgesetzt, sondern nur Licht von LED-Lampen erhalten. „Der Wahnsinn gibt auch Chancen“, folgerte Witte. Denn so könne unter Laborbedingungen erforscht werden, wie unterschiedliche Einflüsse auf das Wachstum der Pflanzen und den Gehalt an verschiedenen Inhaltsstoffen wirken. Das Projekt sei daher zur Forschung sehr interessant. Doch in wirtschaftlicher Hinsicht bleibt zu fragen, wie eine Produktion unter solchen Vorgaben mit dem Import aus anderen Ländern konkurrieren soll. Witte betonte, dass der Anbau nirgendwo so streng geregelt sei wie Deutschland. In Dänemark werde Cannabis künftig in Gewächshäusern mit zusätzlicher Beleuchtung angebaut. |

Zum Weiterlesen

Die News „Schleswig-Holstein: Erste Cannabis-Ernte soll Ende 2020 in Neumünster starten“ ­finden Sie auf DAZ.online vom 8. August 2019 und in der AZ 2019, Nr. 34-35 auf S. 4.

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