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Pandemie Spezial

Schnell, schnell, schnell

Leidet die Qualität der Arzneimittel- und Impfstoffentwicklung?

Seit dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie läuft die Forschung zu Behandlungs- und Impfstrategien gegen das neuartige Coronavirus auf Hochtouren. Es ist und bleibt ein zäher Kampf. Halten die Regularien für die Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln dem immensen Erfolgsdruck, der auf den Pharmaunternehmen und den Behörden lastet, stand? Wo können Zeit und Ressourcen gespart werden, ohne dass die Sicherheit der Patienten darunter leidet? | Von Helga Blasius

Ehe ein Arzneimittel auf den Markt kommt, muss gewährleistet sein, dass seine Wirksamkeit und Verträglichkeit in klinischen Studien nachgewiesen wurden. Das gilt auch in Zeiten einer Pandemie. Aktuell kursieren rund um die Arzneimittelentwicklung und Zulassung zahlreiche, meist englischsprachige Begriffe, wie repurposing, compassionate use, rolling review, accelarated assessment, conditional marketing authorisation oder emergency use authorisation. Dieser Beitrag beleuchtet, was sich dahinter verbirgt und welche Wege derzeit beschritten werden, um schneller zu wirksamen Ansätzen gegen das neuartige Coronavirus zu kommen.

Die Phasen der klinischen Erprobung

Klinische Prüfungen unterliegen einem engen Geflecht von Vorschriften. Diese dienen zum einen dem Schutz der Versuchspersonen, und auf der anderen Seite sollen sie dafür sorgen, dass die Untersuchungen wissenschaftlich aussagekräftig angelegt sind. Die klinische Prüfung umfasst vier Phasen:

Phase I:

  • first in human
  • nichttherapeutische Wirksamkeits- und Verträglichkeitsprüfungen (Humanpharmakologie)
  • Phase Ia: Einfachdosierung
  • Phase Ib: Mehrfachdosierung

Phase II

  • first in patient
  • Pilotstudien an Patienten (therapeutisch explorativ)
  • Phase IIa: Kurzzeitgabe der Prüfsubstanz an einer begrenzten Anzahl von Patienten (bis zu 100) (proof of concept, POC)
  • Phase IIb: vergleichende Prüfungen zur Dosisfindung und zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen bzw. zur Verträglichkeit

Phase III

  • pivotal studies
  • kontrollierte, randomisierte, vorzugsweise doppelblinde Studien (therapeutisch konfirmatorisch)

Phase IV

  • post-marketing studies
  • breitere Erprobung eines zugelassenen Arzneimittels im Rahmen der erteilten Zulassung

Ein Prozess, der normalerweise mehrere Jahre dauert. Gibt es hier „Luft im System“, wenn die klinische Erprobung bis zur Zulassung schneller gehen soll als mehrere Jahre, die dafür normalerweise anberaumt werden müssen?

Verbundprojekte und Forschungsallianzen

Um die klinische Forschung zu rationalisieren, sollen die Unternehmen und Forschungseinrichtungen möglichst gemeinsame multinationale, mehrarmige Studien organisieren. Große Verbundprojekte für die Erprobung möglicher COVID-19-Therapeutika sind die Solidarity-Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sowie die Studien Discovery und Recovery, in denen vielversprechende Wirkstoffe in zahlreichen Ländern jeweils in mehreren Behandlungsarmen geprüft werden. Die große Stärke der Projekte ist der adaptive Ansatz. Das heißt, Studienarme können bei Erfolglosigkeit beendet und neue Arme hinzugenommen werden, die sich aus den aktuellen Forschungsaktivitäten herauskristallisieren. Darüber hinaus hat die Pandemie bisher beispiellose öffentlich-private Partnerschaften geschaffen, wie zum Beispiel die Operation Warp Speed (OWS), eine Zusammenarbeit mehrerer US-Bundesministerien und des Privat­sektors.

Repurposing bereits zugelassener Arzneimittel

Eine wichtige Beschleunigung auf dem Weg hin zu effektiven COVID-19-Therapeutika soll der Repurposing-Ansatz bringen. Zahlreiche Studien befassen sich aktuell mit Arzneimitteln, die schon gegen andere Krankheiten zugelassen oder zumindest in Entwicklung sind [1]. Bei dieser „Umwidmung“ gibt es in der Regel immerhin schon einige Evidenz zur Sicherheit. Für manche der umfunktionierten Behandlungen haben sich die Hoffnungen allerdings schon zerschlagen. So ist die HIV-Kombination Lopinavir/Ritonavir nach vorläufigen Ergebnissen in der weltweit größten COVID-19-Therapiestudie Recovery durchgefallen. Auch für Hydroxychloroquin hat sich in der Recovery-Studie in dieser Population kein Nutzen gezeigt [2].

Zu den vielversprechenden Therapieoptionen gegen COVID-19 gehören auch diverse Virostatika, die gegen Influenza wirken sollen, wie etwa Oseltamivir oder das japanische „Reserve-Grippemittel“ Favipiravir (Avigan®) [3].

Zahlreiche Projekte testen Wirkstoffe, die die überschießende Immunabwehr des neuartigen Coronaviruses, den sogenannten Zytokinsturm, dämpfen sollen [4, 5]. Eine ganze Reihe von bereits für andere Einsatzgebiete zugelassenen Pharmaka wird für den Angriff an Zytokinen erprobt, darunter Interleukin-6-Antagonisten, Interleukin-1-Blocker, TNF-α-Inhibitoren, der Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Agonist Fingolimod sowie Vertreter der Januskinase-Inhibitoren. Ein neuer Hoffnungsträger ist der Osteoporose-Wirkstoff ­Raloxifen. Das europaweite Konsortium Exscalate4CoV hat den selektiven Estrogen-Rezeptor-Modulator (SERM) mithilfe einer Supercomputing-Plattform aus 400.000 virtuell getesteten Molekülen als möglichen Ansatz zur Hemmung der Replikation von SARS-CoV-2 herausgefiltert [6].

Impfstoffplattformen sollen schnell Vakzine liefern

Im Durchschnitt dauert eine Impftoff-Entwicklung zehn Jahre. Um für Ausbrüche wie die SARS oder die Ebola-Epidemie in kürzerer Zeit Vakzine bereitstellen zu können, wurden in den vergangenen Jahren sogenannte Impfstoff-Plattformen entwickelt. Sie beruhen auf etablierten und „entschärften“ Viren, die bereits als Impfstoffbasis im Einsatz sind und die dann mit einem entsprechenden Antigen von SARS-CoV-2 rekombiniert und auf diese Weise schnell in eine Notfall-Vakzine umgewandelt werden können. Für COVID-19-Impfstoffprodukte, die auf den Plattformtechnologien der DNA-, RNA- oder Vektorimpfstoffen aufbauen und für die bereits einschlägige tierexperimentelle Sicherheitsdaten für ähnliche Plattformimpfstoffe verfügbar sind (z. B. mit anderen Antigenen und damit gegen andere Infektionskrankheiten), können nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts wesentliche Teile der präklinischen Testung parallel zur klinischen Phase-I-/IIa-Prüfung stattfinden [7]. Auch hiermit wird Zeit gespart.

Studien überlappend durchführen

Gibt es bei der klinischen Erprobung noch andere Möglichkeiten, schneller zum Ziel zu kommen? Das PEI betont, dass die klinische Entwicklung der verschiedenen COVID-19-Impfstoffe auf jeden Fall alle Phasen der üblichen Impfstoffentwicklung durchlaufen muss [7]. Zur Beschleunigung werden jedoch verschiedene Phasen, etwa die Untersuchungen zur Verträglichkeit und zur optimalen Dosierung bei Erwachsenen und Älteren, nicht wie üblicherweise nacheinander durchgeführt, sondern miteinander kombiniert. Weiterhin werden nachfolgende Studien unmittelbar nach Vorliegen von Studienergebnissen aus vorhergehenden Studien begonnen. Die aufwendigste Etappe in der klinischen Erprobung von Impfstoffen und die Nagelprobe für die Erteilung der Zulassung ist die Phase III. In dieser Phase muss ein Impfstoff zeigen, ob er im normalen Alltag zuverlässig vor einer Infektion schützt. Für belastbare Ergebnisse werden riesige Probandenzahlen benötigt. Aktuell sollen in sieben Phase-III-Studien mit COVID-19-Impfstoffkandidaten insgesamt rund 260.000 Freiwillige einbezogen werden [8].

Human challenge trials

Mehr Tempo könnten nach Meinung einiger Wissenschaftler sogenannte human challenge trials (HCT) bringen. In solchen Studien wird eine kleine Gruppe junger freiwilliger Probanden mit einem Impfstoffkandidaten geimpft und anschließend mit dem Zielvirus infiziert. Auf diese Weise lässt sich die Schutzwirkung viel schneller und mit weniger Studienteilnehmern untersuchen, weil man nicht auf zufällige Infektionen im Alltag warten muss. In Betracht kommen sie vor allem dann, wenn die Krankheit, die ein Organismus verursacht, akut auftritt, leicht und objektiv erkannt werden kann und wenn es wirksame Behandlungen dafür gibt. Sie können z. B. dazu dienen, die Pathogenese einer Infektion besser zu ergründen, potenzielle Immunkorrelate des Schutzes zu identifizieren oder ein optimales Studiendesign für traditionelle zentrale Wirksamkeitsstudien zu ermitteln [9]. Als Grundlage für die Zulassung kommen sie eher nicht infrage. Ob sie bei der Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen eine Rolle spielen könnten, ist fraglich. Die Weltgesundheitsorganisation hat in einer Leitlinie vorsorglich ethische Voraussetzungen für solche Versuche mit SARS-CoV-2 formuliert [10].

Human challenge trial in UK geplant

In Großbritannien will ein Konsortium unter der Leitung des Imperial College London die erste Human-challenge-Studie mit SARS-CoV-2 weltweit auf den Weg bringen [11]. In der ersten Studienphase, die im Januar 2020 beginnen könnte, soll die geringste Virusmenge ermittelt werden, die benötigt wird, um bei bis zu 90 gesunden jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren eine Infektion zu verursachen. In der zweiten Phase könnte dann ein Impfstoffkandidat, der sich in klinischen Studien als sicher erwiesen hat, einer Gruppe gesunder Erwachsener in dieser Altersgruppe verabreicht werden, die in einer kontrollierten Umgebung dem Virus ausgesetzt sind. Kritiker geben zu bedenken, dass mehrere COVID-19-Impfstoffkandidaten sich bereits in der Endphase der Tests befinden und somit endgültige Ergebnisse liefern und genehmigt werden könnten, bevor die Human Challenge-Studie überhaupt richtig losgegangen ist. Außerdem könnten die Erkenntnisse aus einer solchen Studie nur eine begrenzte Relevanz haben, weil sie an jungen gesunden Freiwilligen durchgeführt wird [12]. Auch in den USA werden human challenge trials für die Entwicklung von SARS-CoV-2-Impfstoffen angedacht. Trotz der ethischen Bedenken ­haben sich bereits rund 38.000 freiwillige Teilnehmer aus rund 150 Ländern auf der US-Website 1Day Sooner (https://1daysooner.org/) angemeldet und damit ihre Bereitschaft bekundet, an solchen Versuchen teilzunehmen [13].

Heilversuch, compassionate use, Off-Label-Use

Unter bestimmten Umständen ist es zulässig, dass Patienten mit einem noch nicht zugelassenen oder einem für andere Zwecke zugelassenen Arzneimittel behandelt werden. Hierfür gibt es die Möglichkeit des individuellen Heilversuchs, Härtefall-Programme (Compassionate-Use-Programme) und den Off-Label-Use.

Heilversuch beschreibt die Anwendung eines nicht zugelassenen Medikaments im Einzelfall. Hierüber entscheidet der Arzt im Rahmen der Therapiefreiheit mit Zustimmung des Patienten und trägt dann die Verantwortung für die Anwendung. Im Rahmen eines Härtefall-Programms (compassionate use) kann ein bestimmtes Arzneimittel, das schon ein Stück weit erprobt, aber noch nicht zugelassen ist, unter genau aufgelisteten Umständen von einem Arzt angefordert werden, der hierfür geeigneten Patienten im Notfall damit helfen möchte. Beispiele für Compassionate-Use-Regelungen zu COVID-19 in der EU betreffen Remdesivir oder auch den Einsatz von Opaganib (Yeliva®) bei COVID-19-Patienten mit lebensbedrohlichen klinischen Manifestationen, den die italienischen Behörden im April 2020 genehmigt haben [14].

Bei der Off-Label-Anwendung werden im Gegensatz zum compassionate use und zum individuellen Heilversuch Arzneimittel eingesetzt, die schon zugelassen sind. Off label bedeutet, dass das Arzneimittel nicht zulassungskonform verwendet wird, das heißt zum Beispiel für eine andere Krankheit oder andere Altersgruppen.

Wissenschaftliche Beratung durch die ­Zulassungsbehörden

Damit die Genehmigung für das Inverkehrbringen von COVID-19-Therapeutika und Impfstoffen keine weiteren Verzögerungen mit sich bringt, bieten die Zulassungsbehörden, allem voran die Europäische Arzneimittelagentur ihre tatkräftige Unterstützung an [15]. Entwickler, die an entsprechenden Projekten arbeiten, können besondere Angebote und Verfahren nutzen. Dazu gehören die wissenschaftliche Beratung (scientific advice) und das PRIME-Programm für den frühen Austausch mit den Antragstellern vor Einreichen eines Antrags [16]. Der scientific advice wurde für die Entwicklung von COVID-19-Therapeutika und Impfstoffe ­bereits mehr als 60 Mal in Anspruch genommen.

Rolling review, beschleunigte Bewertung und bedingte Zulassung

Um den Zulassungsprozess zu beschleunigen, können Studienergebnisse auch schon vor der Einreichung eines formellen Zulassungsantrags in einem gleitenden Verfahren (rolling review) begutachtet werden, womit die Bewertungszeiträume verkürzt werden. Anfang Oktober hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) zwei Rolling-Review-Verfahren zur Überprüfung von COVID-19-Impfstoffen gestartet und zwar von AZD1222 (AstraZeneca/Universitat Oxford) und von BNT162b2 (BioNTech/Pfizer) [8]. Darüber hinaus kann die Zeit für die behördeninterne Bewertung eines Zulassungsantrags von regulär 210 auf 150 Tage verkürzt werden (accelerated assessment) [17]. Arzneimittel von besonderem medizinischem Bedarf können eventuell auch schon zugelassen werden, wenn zum Zeitpunkt der Einreichung eines Zulassungsantrags noch nicht alle erforderlichen Daten vorliegen. Diese werden dann bei Erteilung einer bedingten Zulassung (conditional marketing authorisation) über eine Auflage (obligation) nachgefordert.

Paradebeispiel Remdesivir

Ein Paradebeispiel dafür, wie alle diese regulatorischen Sonderregelungen effizient genutzt werden können, ist die Verkehrsgenehmigung für das erste COVID-19-Therapeutikum Remdesivir in der EU [18] (s. Kasten „Chronologie der Zulassung von Remdesivir“). Der gesamte Prozess von der Einreichung des Antrags bis zu Erteilung der bedingten Zulassung dauerte nicht einmal vier Wochen. Normalerweise hat die Behörde für die Beurteilung 210 Tage Zeit und die Kommission nach der Empfehlung der EMA üblicherweise weitere 67 Tage. Die Zulassungsentscheidung muss international übrigens durchaus nicht einheitlich ausfallen. So haben die USA im Oktober bereits eine vollgültige Zulassung für Remdesivir erteilt [19] (s. Kasten „Chronologie der Zulassung von Remdesivir“), während Indien diese bisher verweigert [20].

Chronologie der Zulassung von Remdesivir

Einsatz und Zulassung von Remdesivir in der EU

  • 3. April 2020: Empfehlung der EMA zum compassionate use für die Behandlung von Covid-19-Patienten ab einem Alter von zwölf Jahren mit einem Gewicht von mindestens 40 kg, die invasiv beatmet werden müssen oder von Patienten, die Kontakt mit einem bestätigten COVID-19-Fall hatten, mit ausstehender PCR
  • 30. April 2020: Start einer gleitenden Überprüfung (Rolling Review) durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) bei der Europäischen Arzneimittelagentur
  • 11. Mai 2020: Ausweitung des compassionate use auf hospitalisierte Patienten mit nicht-invasiver Beatmung und unter High-Flow-Sauerstofftherapie oder mit ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung) sowie auf eine kürzere Therapiedauer von fünf Tagen für Patienten, die keine maschinelle Beatmung oder ECMO benötigen
  • 25. Juni 2020: CHMP empfiehlt die Zulassung in der EU
  • 3. Juli 2020: bedingte Marktzulassung von Veklury® in der EU für die Behandlung von COVID-19 bei Erwachsenen und Jugendlichen ab zwölf Jahren mit Lungenentzündung und zusätzlichem Sauerstoffbedarf
  • 2. Oktober 2020: PRAC startet Sicherheits-Review zu Remdesivir wegen Signal zu Nierentoxizität

Einsatz und Zulassung von Remdesivir in den USA

  • 1. Mai 2020: Notfallgenehmigung für die Behandlung von hospitalisierten pädiatrischen Patienten mit vermutetem oder bestätigtem COVID-19, die 3,5 bis 40 kg wiegen, oder hospitalisierten pädiatrischen Patienten unter zwölf Jahren, die mindestens 3,5 kg wiegen
  • 22. Oktober 2020: offizielle Zulassung in den USA für die Behandlung von hospitalisierten COVID-19-­Erkrankten, die mindestens zwölf Jahre alt sind und mindestens 40 kg wiegen
  • parallel dazu Weiterführung der Notfallgenehmigung für hospitalisierte Kinder unter zwölf Jahren erlassen, die zwischen 3 und 40 kg wiegen

Überstürzte Zulassungen in Russland

Am 11. August 2020 hat Russland mit der weltweit ersten Zulassung eines COVID-19-Impfstoffs mit Namen Sputnik V für Furore gesorgt. Verschiedenen Berichten zufolge müsste der Impfstoff den gesamten klinischen Forschungsprozess in nur zwei Monaten durchlaufen haben. Die Phase III, die in der Regel die Erprobung an Tausenden Freiwilligen beinhaltet, war offensichtlich übersprungen worden. Der Einsatz des Impfstoffs in großem Umfang soll laut Eintrag in dem Registrierungszertifikat zwar erst ab dem 1. Januar 2021 möglich sein, aber er sollte schon im Oktober in die Massenproduktion gehen [8]. Am 14. Oktober 2020 hat Russland dann noch einen weiteren Impfstoff gegen das neuartige Corona­virus mit Namen EpiVacCorona für die Anwendung freigegeben [21]. Auch dieses Mal wurde die Registrierung offenbar erteilt, ohne vorher das regulär geforderte klinische Prüfprogramm absolviert zu haben. Mittlerweile wurden groß angelegte Phase-III-Studien sowohl mit Sputnik V als auch mit EpiVacCorona auf den Weg gebracht.

USA: Mediziner pochen auf Einhaltung der Regularien

Das Vorpreschen Russlands nährte Befürchtungen, dass auch andere Länder wie die USA, China und Indien Russlands Beispiel folgen könnten [22]. Ende August hatte die chinesische Arzneimittelbehörde berichtet, dass vier chinesische COVID-19-Impfstoffkandidaten internationale klinische Phase-III-Studien begonnen hätten [23]. Bereits im November sollen die ersten Vakzine für die Öffentlichkeit verfügbar sein. Schwer lastete der Druck auch auf dem US-Präsidenten Donald Trump, für den der Corona-Impfstoff ein großes Wahlkampf-Thema war. Weite Kreise der Öffentlichkeit befürchteten, dass die Food and Drug Administration (FDA) sich dadurch veranlasst sehen könnte, einen Impfstoff zu genehmigen, bevor er als sicher und wirksam eingestuft wird [24]. In dem Konflikt geht es nicht nur um den Corona-Impfstoff, sondern auch um eine etwaige verfrühte Notfallgenehmigung für die Zubereitung aus Rekonvaleszentenplasma REGN-COV2 des Biotech-Unternehmens Regeneron, mit dem Trump laut eigener Aussage selbst behandelt worden war [25]. In einem Schreiben an das zuständige Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee der US Food and Drug Administration vom 15. Oktober 2020 haben Vertreter der Infectious Diseases Society of America und anderer Fachgesellschaften den Ausschuss dazu aufgefordert, dafür zu sorgen, dass bestehende Regulierungsstandards bei der Zulassung eines COVID-19-Impfstoffs nicht umgangen werden [26].

Zusammenfassung

Im Moment beschränkt sich die Behandlung von COVID-19-Patienten außerhalb von klinischen Studien notgedrungen weitgehend auf individuelle Heilversuche oder den Einsatz vielversprechender Therapieoptionen im Rahmen von Härtefallprogrammen oder im Wege des Off-Label-Use. Weltweit bemühen sich die pharmazeutische Industrie, Forschungsinstitutionen und die Arzneimittelbehörden darum, Entwicklungen und Zulassungen zu beschleunigen, ohne dabei Kompromisse bei der Sicherheit einzugehen. Verfrühte Veröffentlichungen von Studienergebnissen, die noch nicht ausreichend auf Stichhaltigkeit geprüft sind, sowie Interessensgeleitete Interpretationen von Politikern, sorgen aktuell immer wieder für Verwirrung. Nie war es so wichtig, dass die wissenschaftliche Welt und die Regulierungsbehörden in den Genehmigungsverfahren auf die Einhaltung wissenschaftlicher und regulatorischer Standards pochen. Platz für eine gewisse Flexibilität und Priorisierung ist hier allemal, ohne dass die Sicherheit der Bevölkerung darunter leiden muss. |

 

Literatur

 [1] Rosa SGV, Santos WC. Clinical trials on drug repositioning for COVID-19 treatment. Rev Panam Salud Publica. 2020;44:e40, doi: 10.26633/RPSP.2020.40. eCollection 2020

 [2] Blasius H. Drittes Ergebnis aus Recovery. Lopinavir/Ritonavir ebenfalls durchgefallen. DAZ.online vom 6. Juli 2020, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/07/06/lopinavir-ritonavir-ebenfalls-durchgefallen

 [3] Blasius H. Behandlung von COVID-19. Was gibt es Neues zu Favipiravir? DAZ.online vom 28. September 2020, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/09/28/was-gibt-es-neues-zu-favipiravir

 [4] Ye Q, Wang B, Mao J. The pathogenesis and treatment of the `Cytokine Storm‘ in COVID-19. J Infect 2020;80(6):607-613, doi: 10.1016/j.jinf.2020.03.037

 [5] Blasius H. Gefürchteter Zytokinsturm. DAZ 2020;25:34

 [6] EU-Hochleistungsrechner ermittelt mögliches COVID-19-Medikament. Pressemitteilung der EU-Kommission vom 19. Juni 2020. https://ec.europa.eu/germany/news/20200619-eu-hochleistungsrechner-ermittelt-covid-19-medikament_de

 [7] Wagner R et al. COVID-19-Impfstoffentwicklung: Schneller, aber sicher. Dtsch Ärztebl 2020;117(39):A-1810 / B-1546

 [8] Blasius H. Das Impfstoffrennen. DAZ 2020;160(41):44-47

 [9] Nguyen LC, Bakerlee CW. Evaluating Use Cases for Human Challenge Trials in Accelerating SARS-CoV-2 Vaccine Development. Clinical Infectious Diseases ciaa935, https://doi.org/10.1093/cid/ciaa935

[10] Key criteria for the ethical acceptability of COVID-19 human challenge studies. Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 6. Mai 2020, www.who.int/ethics/publications/key-criteria-ethical-acceptability-of-covid-19-human-challenge/en/

[11] UK researchers to explore human challenge studies for COVID-19. 20. Oktober 2020, www.imperial.ac.uk/news/206893/uk-researchers-explore-human-challenge-studies/

[12] Kirby T. COVID-19 human challenge studies in the UK. Published 30. Oktober 2020, https://doi.org/10.1016/S2213-2600(20)30518-X

[13] 1Day Sooner. COVID-19 Human Challenge Trials. https://1daysooner.org/, abgerufen am 6. November 2020

[14] Blasius H. Gegen COVID-19. Opaganib in Italien im Härtefalleinsatz. DAZ.online vom 14. April 2020, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/04/14/opaganib-in-italien-im-haertefalleinsatz

[15] EMA to support development of vaccines and treatments for novel coronavirus disease (COVID-19). Press release 4. Februar 2020, www.ema.europa.eu/en/news/ema-support-development-vaccines-treatments-novel-coronavirus

[16] PRIME: priority medicines. www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/research-development/prime-priority-medicines

[17] Accelerated assessment. www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/marketing-authorisation/accelerated-assessment

[18] Kommission erteilt Marktzulassung für Remdesivir zur COVID-19-Behandlung. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 3. Juli 2020, https://ec.europa.eu/germany/news/20200703-remdesivir_de

[19] Emergency Use Authorization (EUA) information, and list of all current EUAs. US Food and Drug Administration, www.fda.gov/emergency-preparedness-and-response/mcm-legal-regulatory-and-policy-framework/emergency-use-authorization#coviddrugs

[20] CDSCO committee rejects Dr Reddy’s proposal seeking full marketing authorization of remdesivir. www.pharmabiz.com/NewsDetails.aspx?aid=133220&sid=1

[21] Blasius H. Wieder ohne klinische Phase III. Russland registriert den zweiten Corona-Impfstoff. DAZ.online vom 16. Oktober 2020, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/10/16/russland-registriert-den-zweiten-corona-impfstoff

[22] Blasius H. Wer zu spät kommt… Corona-Impfstoff als Spielball der Supermächte. DAZ.online vom 5. August 2020, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/08/05/corona-impfstoff-als-spielball-der-supermaechte

[23] Blasius H. Immunisierung gegen Corona. Impfstoffe aus China sollen im November kommen. DAZ.online vom 23. September 2020, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/09/23/impfstoffe-aus-china-sollen-im-november-kommen

[24] Uhl D. Die politisierte FDA - Offener Brief an Leiter der FDA sorgt für Aufsehen. DAZ 2020;37:26-27

[25] Stahl V. Die Wundermittel aus dem Himmel - Ein Gastkommentar. DAZ 2020;43:30

[26] Infectious Diseases Society of America (IDSA) HIV Medicine Association (hivma), Pediatric Infectious Diseases Society (PIDS). Societies Urge FDA Advisory Committee to Maintain Standard, Existing and Transparent Process for COVID-19 Vaccine Review. 15. Oktober 2020,www.idsociety.org/news--publications-new/articles/2020/societies-urge-fda-advisory-committee-to-maintain-standard-existing-and-transparent-process-for-covid-19-vaccine-review

Autorin

Dr. Helga Blasius ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation, Dipl.-Übersetzerin (Japanisch, Koreanisch) und regelmäßige Autorin der DAZ.

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