Arzneimittel und Therapie

Was geht, was bleibt

Elektronisches Entscheidungstool hilft, inadäquate Polypharmazie zu reduzieren

Gut Ding will Weile haben. Evidenzbasierte Medizin ist aufwendig und braucht dementsprechend Zeit. Abhilfe können elektronische Tools schaffen, die Ärzten und Apothekern bei der Bewertung der Medikation helfen sollen. So kann die elektronische Entscheidungshilfe PRIMA-eDS-Tool dabei unterstützen, unnötige und nicht evidenzbasierte Arzneimittel zu reduzieren.

Chronische Multimorbidität nimmt in unserer alternden Bevölkerung zu und damit auch die Polypharmazie. Diese birgt ein hohes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Wechselwirkungen und Medikationsfehler, die zu unnötigen Krankenhausaufenthalten oder sogar zum Tod führen können [1]. Bisherige Versuche, ärztliche Verschreibungen zu optimieren, stützen sich vor allem auf eine regelmäßige Überprüfung der Medikation durch einen entsprechend ausgebildeten Arzt oder Pharmazeuten. Eine ausführliche Analyse ist jedoch oft zeitaufwendig [2, 3]. In dem EU-Projekt „PRIMA-eDS“ wurde eine elektronische Entscheidungshilfe (PRIMA-eDS-Tool) entwickelt, die innerhalb von Sekunden einen umfassenden Medikamentencheck durchführt. Das Tool kann Hausärzte dabei unterstützen, unangemessene und nicht evidenzbasierte Arzneimittel zu reduzieren.

In der PRIMA-eDS-Studie um Prof. Dr. Andreas Sönnichsen und Dr. Anja Rieckert sollte getestet werden, ob durch die Verwendung der elektronischen Entscheidungshilfe inadäquate Polypharmazie reduziert werden kann und hierdurch auch patientenrelevante Endpunkte wie Tod und Hospitalisierung positiv beeinflusst werden können.

Knapp 360 Ärzte und 4000 Patienten nehmen teil

359 Hausärzte aus Österreich, Deutschland, Italien und Großbritannien rekrutierten insgesamt 3904 Patienten über 75 Jahren mit regelmäßiger Einnahme von acht oder mehr Wirkstoffen. Patienten wurden ausgeschlossen, wenn sie eine Lebenserwartung von weniger als zwölf Monaten hatten, wenn sie keine Einverständniserklärung abgeben konnten oder wenn sie eine fortlaufende Chemotherapie erhielten. Über eine elektronische Eingabemaske wurden die aktuelle Medikation, Diagnosen, relevante Laborwerte, Symptome und weitere relevante Patientendaten zu Studienbeginn, nach 8, 16 und 24 Monaten erfasst. Nach der Dateneingabe zu Studienbeginn wurden die Ärzte mit ihren teilnehmenden Patienten entweder in die PRIMA-eDS-Tool-Gruppe (n = 1953) oder die Kontrollgruppe (n = 1951), die ihre Patienten wie gewohnt behandelte, randomisiert und anschließend für zwei Jahre beobachtet.

Foto: ipopba – stock.adobe.com

Künstliche Intelligenz soll Ärzte zukünftig bei Therapieentscheidungen unterstützen.

Die Ärzte der Interventionsgruppe erhielten über das PRIMA-eDS-Tool individuell für ihre inkludierten Patienten evidenzbasierte Empfehlungen zur Vermeidung inadäquater Medikation. Dieser umfassende Medikamentencheck, der aus den in die elektronische Eingabemaske eingegebenen Patientendaten und einem Abgleich mit mehreren hinterlegten Datenbanken zu Medikationssicherheit, evidenzbasierter Behandlung, korrekter Indikation und Dosierung sowie Arzneimittelinteraktionen generiert wurde, stellt einen neuartigen und umfassenden Ansatz zur Reduzierung potenziell unangemessener und nicht evidenzbasierter Polypharmazie dar. Das PRIMA-eDS-Tool ist dabei nicht auf ­bestimmte Arzneimittel(klassen) beschränkt. Das Tool soll beim Absetzen von potenziell unangemessenen Medikamenten unterstützen, jedoch lag die endgültige Therapieentscheidung im Ermessen des Hausarztes und des Patienten in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess. Das primäre Zielkriterium der Studie war ein kombinierter Endpunkt bestehend aus nicht-elektiven Hospitalisierungen oder Tod während des Beobachtungszeitraums von zwei Jahren. Sekundäre Endpunkte umfassten unter anderem die Anzahl der eingenommenen Medikamente, Lebensqualität und Stürze. Eine detaillierte Beschreibung zum Studienablauf wurde vorab publiziert [4}.

Weniger Tabletten für den Patienten ...

Im Durchschnitt nahmen die Patienten 10,5 Medikamente ein und wiesen 9,5 Diagnosen auf. In einer Intention-to-Treat-Analyse betrug die Odds Ratio (OR) des primären Endpunktes (Tod und nicht-elektive Hospitalisierungen) 0,88 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,73 bis 1,07; p = 0,19). Nachdem die Patienten und Ärzte von der Analyse ausgeschlossen wurden, welche die Studie vorzeitig beendet hatten oder das Studienprotokoll verletzt hatten, wurde ein signifikanter Vorteil durch die Intervention sichtbar (OR = 0,82, 95%-KI: 0,68 bis 0,98, p = 0,03).

Es gab insgesamt keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich der folgenden sekundären Endpunkte: Zeit bis zum Tod oder der ersten nicht-elektiven Hospitalisierung (jeweils als Einzelergebnis), Anzahl oder Dauer der Hospitalisierung, Anzahl der Stürze, Frakturen oder Index-Werte für physische und mentale Lebensqualität. Nach 24 Monaten war die Anzahl der verschriebenen Medikamente in der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe gesunken (bereinigte mittlere Differenz 0,45, 95%-KI: -0,63 bis -0,26; p < 0,001).

Die Gesamtzahl der Empfehlungen des PRIMA-eDS-Tools (diese wurden den Hausärzten der Kontrollgruppe nicht gezeigt) unterschied sich zu Studienbeginn nicht zwischen beiden Gruppen. Aufgrund von Änderungen bei den Medikamenten während der Studie nahm die Anzahl der durch das Tool gegebenen Empfehlungen in beiden Gruppen ab, aber die Verringerung beim letzten Besuch im Vergleich zum Ausgangswert war in der PRIMA-eDS-Tool-Gruppe größer (Kontrollgruppe -2,43; 95%-KI: -2,61 bis -2,25; PRIMA-eDS-Tool-Gruppe -3,38; 95% KI -3,56 bis -3,20). Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift „British Medical Journal“ publiziert [5].

... bedeuten auch geringere Behandlungskosten

Insgesamt deuteten die Ergebnisse darauf hin, dass die Anzahl der Medikamente reduziert wurde, ohne den Patienten zu schaden [6]. Der zweijährige Beobachtungszeitraum könnte zu kurz gewesen sein, um einen eindeutig positiven Effekt in der Intention-to-treat-Analyse zu beobachten. Obwohl das Absetzen von Medikamenten von durchschnittlich 0,45 Arzneimittel bei einem Ausgangswert von 10,5 eher bescheiden klingt, würde dies auf Bevölkerungsebene eine erhebliche Verringerung der Gesamtbehandlungsbelastung und der Verschreibungskosten bedeuten. Dass das Absetzen in direktem Zusammenhang mit der Verwendung des PRIMA-eDS-Tools stand, wird durch die entsprechende Reduktion der Anzahl der Empfehlungen in den nachfolgenden Medikamentenchecks des PRIMA-eDS-Tools bei den Inter­ventionspatienten im Vergleich zu den Kontrollpatienten gestützt. Dies impliziert eine Verbesserung bezüglich der Angemessenheit der Medikamente.

Stärken und Limitationen

PRIMA-eDS ist die bisher größte randomisiert-kontrollierte Studie mit älteren Polypharmaziepatienten. Die parallel zur Studie durchgeführte Prozess­evaluierung zeigte, dass das Tool nicht von allen Ärzten so eingesetzt wurde, wie es in der Studienanleitung vorgesehen war [7, 8]. Dies spiegelt allerdings die normale tägliche klinische Praxis wider und stärkt daher die externe Validität der Studienergebnisse, verringert jedoch die potenzielle Wirksamkeit des Tools, was auch an den unterschiedlichen Ergebnissen in der Intention-to-Treat- und der Per-Protokoll-Analyse zu sehen ist.

Zudem waren sich die Hausärzte der Kontrollgruppe der Thematik der Studie bewusst. Dies könnte zu einem ­bewussteren Umgang mit der Medikation geführt und so den Studieneffekt des Tools abgeschwächt haben.

Implikationen für die Zukunft

Die Studienautoren schlussfolgern, dass die abgeleiteten Erkenntnisse stark genug sind, um die elektronische Entscheidungshilfe in größerem Umfang zu implementieren. Zukünftig sollte allerdings das PRIMA-eDS-Tool mit der Praxissoftware von Hausärzten verknüpft werden, um die Eingabe der Patientendaten zu verkürzen [7]. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Tool durch Empfehlungen zur Neuverordnung von indizierten Arzneimitteln zu ergänzen, um nicht nur Über- und Fehlversorgung zu eliminieren, sondern auch eine Unterversorgung zu vermeiden.

Diese große randomisiert-kontrollierte Studie erweitert das Wissen über Interventionen zur Reduzierung inadäquater Polypharmazie erheblich. Obwohl innerhalb der Nachbeobachtungszeit von zwei Jahren keine schlüssigen ­Beweise für die Verringerung einer Kombination aus Mortalität oder nicht-elektiven Hospitalisierungen gefunden wurden, konnte eine Verringerung der Verschreibung erreicht werden, ohne dass hierdurch Schaden für die Patienten entstanden ist. Die Autoren schlussfolgern daher, dass diese Beweise stark genug sind, um das PRIMA-eDS-Tool in größerem Umfang zu implementieren, vorzugsweise integriert in die Praxissoftware. |

Literatur

[1] Guthrie B, Makubate B, Hernandez-Santiago V, Dreischulte T. The rising tide of polypharmacy and drug-drug interactions: population database analysis 1995-2010. BMC Med 2015;13:74

[2] Rankin A, Cadogan CA, Patterson SM et al. Interventions to improve the appropriate use of polypharmacy for older people. Cochrane Database of Systematic Reviews 2018; (9). doi: 10.1002/14651858.CD008165.pub4.

[3] Johansson T, Abuzahra ME, Keller S et al. Impact of strategies to reduce polypharmacy on clinically relevant endpoints: a systematic review and meta-analysis. Br J Clin Pharmacol 2016;82(2):532–48

[4] Sonnichsen A, Trampisch US, Rieckert A et al. Polypharmacy in chronic diseases-Reduction of Inappropriate Medication and Adverse drug events in older populations by electronic Decision Support (PRIMA-eDS): study protocol for a randomized controlled trial. Trials 2016;17:57

[5] Rieckert A, Reeves D, Altiner A et al. Use of an electronic decision support tool to reduce polypharmacy in elderly people with chronic diseases: cluster randomised controlled trial. BMJ 2020;369:m1822

[6] Reeve E, Thompson W, Farrell B. Deprescribing: A narrative review of the evidence and practical recommendations for recognizing opportunities and taking action. Eur J Intern Med 2017;38:3–11.

[7] Rieckert A, Sommerauer C, Krumeich A, Sönnichsen A. Reduction of inappropriate medication in older populations by electronic decision support (the PRIMA-eDS study): a qualitative study of practical implementation in primary care. BMC Fam Pract 2018;19(1):110

[8] Rieckert A, Teichmann A-L, Drewelow E et al. Reduction of inappropriate medication in older populations by electronic decision support (the PRIMA-eDS project): a survey of general practitioners’ experiences. J Am Med Inform Assoc. https://academic.oup.com/jamia/advance-article-pdf/doi/10.1093/jamia/ocz104/29521023/ocz104.pdf.

[9] Sommerauer C, Schlender L, Krause M et al. Correction to: Effectiveness and safety of vitamin K antagonists and new anticoagulants in the prevention of thromboembolism in atrial fibrillation in older adults - a systematic review of reviews and the development of recommendations to reduce inappropriate prescribing. BMC Geriatr 2018; 18(1):12

Dr. med. Anja Rieckert, Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen

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