Arzneimittel und Therapie

Männer sind anders als Frauen

Warum eine geschlechtsspezifische Dosierungsempfehlung Sinn macht

In den meisten Fällen wird bei der Dosierung von Arzneimitteln nicht unterschieden, ob es sich bei dem Patienten um Mann oder Frau handelt. Streng genommen ist das ein grober Behandlungsfehler, denn die Pharmakokinetik der beiden Geschlechter weicht enorm auseinander, und das Auftreten vieler Nebenwirkungen ließe sich bei Beachtung dieser Tatsache vermeiden.

Frauen geben etwa doppelt so häufig an, unter Nebenwirkungen zu leiden, als Männer. Auch die Hospitalisierungsrate infolge von Nebenwirkungen ist beim weiblichen Geschlecht signifikant höher. In den USA weisen einer Analyse zufolge 46% der Arz­neimittel, die in den 20 häufigsten Behandlungsregimen zum Einsatz kommen, deutliche Geschlechtsunterschiede in den Nebenwirkungsraten auf. Nur wenige Ursachen sind dabei bekannt. So nehmen Frauen im Vergleich zu Männern häufiger mehrere Medikamente gleichzeitig ein und melden häufiger unerwünschte Er­eignisse. Zudem weist das weibliche Geschlecht ein geringeres Körper­gewicht, kleinere Organe und einen höheren Körperfettanteil auf. Auch ist die glomeruläre Filtrationsrate niedriger, die Magenentleerung langsamer und der Magen-pH-Wert niedriger. All diese Eigenschaften haben einen nicht unerheblichen Effekt auf die Absorption und Verteilung der Arzneistoffe. Wie gravierend diese Effekte jedoch sind, bleibt unklar, weil Daten fehlen. Insbesondere seit Jahrzehnten etablierte Arzneimittel wurden kaum oder gar nicht an Frauen klinisch erprobt.

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Eine tiefe Kluft tut sich auf, wenn man die Pharmakokinetik von Frauen und Männern vergleichen möchte.

Mangel an Studien mit Frauen

Testungen an Frauen in gebärfähigem Alter wurden von Herstellerseite tunlichst gemieden, weniger nachvollziehbar ist hingegen die unkritische Übertragung der „Männerstudien“ auf das weibliche Kollektiv. Es geht sogar so weit, dass selbst in präklinischen Studien vorwiegend männliche Labortiere zum Einsatz kommen. Bis heute werden mögliche Differenzen nicht ausreichend adressiert. Ein 2018 publizierter Review über 107 durch das US National Institute of Health finanzierte randomisiert-kontrollierte Studien legte offen, dass 72% dieser Studien keinerlei geschlechterdifferenzierte Auswertung in ihre Analyse einfließen ließen. Geschlechterspezifische Auswertungen von Bioäquivalenzstudien zeigen hingegen pharmakokinetische Unterschiede in circa 28% der Datensätze auf, ohne dass sich dies auf die Dosierungsempfehlungen auswirken würde. Gerade bei Arzneistoffen mit geringer therapeutischer Breite ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass pharmakokinetische Unterschiede auch von klinischer Relevanz sind.

Abweichende Pharmakokinetik

Amerikanische Forscher haben daher untersucht, ob von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Pharmakokinetik auf Unterschiede im Auftreten von Nebenwirkungen geschlossen werden kann [1]. Hierfür wurden Publikationen aus PubMed und ISI Web of Science recherchiert, die Daten zur Fläche unter der Kurve (AUC), der maximalen Konzentration (Cmax), von Clearance und Nebenwirkungen auswiesen. Für die meisten Wirkstoffe (76 von 86) wurden erhöhte Plasmakonzentrationen und längere Eliminationszeiten bei Frauen festgestellt. Die pharmakokinetischen Unterschiede korrelierten darüber hinaus in der Tat mit unterschiedlichem Auftreten von Nebenwirkungen. So waren 88% der Nebenwirkungsfälle aufgrund der zuvor ermittelten geschlechtsspezifisch-pharmakokinetischen Unterschiede prognostizierbar. Bei Frauen ließen sich 96% der Nebenwirkungen aus den pharmakokinetischen Daten ableiten, bei den Männern waren es dagegen nur 29%. Pharma­kokinetische Daten eignen sich daher insbesondere zur Abschätzung des Nebenwirkungsrisikos von Frauen, so die Autoren. Problematisch ist hierbei, so eine weitere Feststellung der Studie, dass geschlechtsspezifisch-pharmakokinetische Daten nur für eine beschränkte Anzahl von Wirkstoffen öffentlich zugänglich sind. Auch wenn einige Faktoren ausgeblendet werden, insbesondere geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakodynamik: Gerade für neue Substanzen könnte der skizzierte Ansatz wichtige Hinweise geben, wohin die Arzneistoffreise im weiblichen Körper geht. Die Autoren fordern daher einen evidenzbasierten Ansatz einer gender­gerechten Dosisanpassung, der pharmakokinetische sowie biometrische Aspekte berücksichtigt, um vermeid­bare, weil postulierbare, Nebenwirkungen einzudämmen. |

Literatur

[1] Zucker I et al. Sex differences in pharmacokinetics predict adverse drug reactions in women. Biol Sex Differ 2020. 11(1):32

Apotheker Dr. Peter Meiser

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