DAZ aktuell

Das falsch verstandene Kombimodell

AvP-Insolvenz und pharmazeutische Dienstleistungen erfordern eine Anpassung des Honorars

eda | In rund einem Jahr ist wieder Bundestagswahl. Bis dahin wird sich die Bundespolitik noch mit der Corona-Krise auseinandersetzen müssen, aber auch das Tagesgeschäft gilt es zu erledigen. Mit dem Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) soll in dieser Legislatur noch eine „Apothekenreform“ beschlossen werden – unter anderem als Reaktion auf das vor vier Jahren gesprochene Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur deutschen Arzneimittelpreisbindung. Doch mit welchen Veränderungen ist zu rechnen, sollte sich das VOASG genau so entfalten, wie vorgesehen? Was fehlt im Reformpaket?

Volkswirtschaftler Dr. Frank Diener sieht Verbesserungsbedarf im aktuellen VOASG-Entwurf. Diener war zwischen 1989 und 2007 bei der ABDA ­tätig, von 1999 an verantwortete er als Geschäftsführer die Bereiche Wirtschaft und Soziales. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist er nun General­bevollmächtigter der Steuerberatungsgesellschaft Treuhand Hannover. Als 2004 das Kombimodell entwickelt und umgesetzt wurde, war er maßgeblich für die Apothekerschaft in den Verhandlungen mit dem Ministerium und den Kassen involviert.

Foto: Screenshot/DAZ

Das Kombimodell ist nach wie vor sachgerecht und zeitlos. Allerdings müssen Fixum und Prozent-Aufschlag angepasst werden - Apothekenwirtschaftsexperte Dr. Frank Diener hält dies für betriebswirtschaftlich gut begründbar.

Honorar weg von der Packung?

Heute – mehr als 15 Jahre später – steht der Berufsstand wieder vor einer grundlegenden Honorarreform, nur irgendwie will es kein Politiker so richtig zugeben: Die Vergütung soll noch unabhängiger vom Arzneimittelumsatz und -absatz werden und mehr die pharmazeutisch-kognitiven Leistungen der Apotheker abbilden. Daher sieht das VOASG auch keine Anpassung des Packungshonorars vor, die seit Jahren überfällig wäre. Doch „ganz weg von der Packung“ wird das Honorarmodell der Zukunft nicht sein, prophezeite Diener im DAZ Interview bereits vor mehr als einem Jahr. „Ich glaube nicht, dass es möglich sein wird, durch ein reines Dienstleistungshonorar das abzubilden, was heute und seit vielen Jahrzehnten in den Apotheken geleistet wird. Das Extrem wäre ja, der Staat würde Apotheker verbeamten, gleichzeitig das Team, die Räumlichkeiten und die Ware stellen. Eine Apotheke, die wie eine Behörde organisiert ist, kann keine Gesundheitsversorgung auf diesem Niveau leisten. Wenn es also um neue honorierte Dienstleistungen geht, dann muss es tatsächlich auch um neue gehen und nicht um Tätig­keiten, die jetzt schon eingepreist sind“, betonte Diener im Frühjahr 2019 (DAZ 2019, Nr. 16, S. 17).

Inzwischen ist der ursprüngliche ­Referentenentwurf des VOASG, der von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geplant war, deutlich ausgedünnt. Nicht wenige Regelungen wurden in andere Gesetzesvorhaben eingebracht und sind zum Teil auch schon in Kraft getreten. Was sich Dr. Frank Diener nach wie vor an neuen Regelungen in Spahns Apothekenpaket wünscht – auch ganz aktuell im Hinblick auf die Insolvenz des Apothekenrechenzentrums AvP – verriet er uns im Rahmen eines Interviews.

DAZ: Herr Dr. Diener, sollte das VOASG so durch das Parlament kommen, wie es eingebracht wurde: Mit welchen Veränderungen oder auch keinen Veränderungen müssen wir dann in den nächsten Jahren im Hinblick auf die Apothekenlandschaft rechnen?

Diener: Das VOASG ist ja nur ein Puzzleteil von vielen und seine Wirkung muss im Zusammenwirken aller Teile von Spahns Apotheken­paket gesehen werden. Bei der Wirkungsanalyse macht es Sinn, systemstabilisierende und systemverändernde Bausteine zu unterscheiden.

DAZ: Welche Regelungen sind für Sie systemstabilisierend?

Diener: Die meisten systemstabilisierenden Bausteine sind bereits in diversen Gesetzen und Verordnungen in der Ära Spahn in Kraft getreten: Wiederholungsrezepte, Modellversuche zur Grippeschutzimpfung, die Erhöhung der Notdienstpauschale und der BtM-Gebühr, das Aut-idem bei Privatrezepten, die zunächst temporäre Vergütung der Botendienste, das Rezeptmakelverbot, die Rückführung der Hämophilieprodukte in die Apothekenpflicht. Im VOASG selbst „hängen“ an systemstabilisierenden Bausteinen derzeit die dauerhafte Verankerung der Botendienstvergütung, der Einstieg in honorierte pharmazeutische Dienstleistungen und vor allem die Gleichpreisigkeit im Rahmen der GKV-Arzneimittelversorgung – diese ist, auch wenn man sich das für alle Rx-Arzneimittel wünscht – eine Verbesserung gegenüber dem Status quo und insofern systemstabilisierend.

DAZ: Und was wird in Ihren Augen systemverändernd sein?

Diener: Wichtige systemverändernde Bausteine sind ebenfalls schon in Kraft: Botendienst als weitere Regelleistung der Offizinapotheken, die Einführung des E-Rezeptes ab Mitte 2021, die telepharmazeutische Beratung. Zusammengenommen heißt das für die zukünftige Apothekenlandschaft, dass sich zum einen die fun­damentalen Markttrends der letzten Jahre fortsetzen werden, dass wir also weniger, aber größere Betriebe, mehr Betriebe in Filialverbünden haben und mit knappem Personal umgehen müssen. Zum anderen wird das E-Rezept einen neuen Kundentypus hervorbringen, den ich „Fern-Rezepteinlöser“ nenne, einen Typus, den es so heute noch nicht gibt.

DAZ: Woher kommt dieser neue Kundentypus?

Diener: Natürlich gibt es auch heute schon Kunden, die „aus der Ferne“ ihre Rezepte in die Apotheke faxen oder über Messanger schicken und das Original dann in der Apotheke oder dem Boten übergeben. Doch das E-Rezept wird das Thema auf eine andere technische Stufe und in eine andere quantitative Bedeutsamkeit heben. Es wird nicht so sein, dass Kunden entweder Offizin-Rezeptein­löser oder Fern-Rezepteinlöser sein werden, sondern es wird Kunden geben, die sowohl in der Offizin als auch aus der Ferne Rezepte einlösen werden. 0-1-Klassifizierungen werden noch weniger tauglich sein als heute. Wer wirtschaftlich erfolgreich sein will, muss sich auch um die vielleicht 5, 10 oder 15 Prozent seiner bisherigen Kunden kümmern, die ihr Verhalten im neuen Setting ändern. Per Stand heute sind die wenigsten Betriebe wirklich auf diesen neuen Kundentypus und seine Bedürfnisse eingestellt. Die Betriebsabläufe sind auf die Präsenzkunden hin durchgestylt und optimiert – der neue Kundentypus kommt noch nicht wirklich dabei vor. Im Hinblick auf diesen neuen Kundentypus bekommt die betriebswirtschaftliche Kombination von E-Rezept, telepharmazeutischer Beratung und Botendienst oder Abholfächern eine besondere Relevanz.

DAZ: Und was ist mit dem Versand­handel?

Diener: Dass der Versandhandel in der neuen Rezeptwelt sich sukzessiv Marktanteile erobern wird, ist sehr wahrscheinlich – doch es wird kein disruptiver, sondern ein träger Prozess sein. Ebenso wahrscheinlich ist jedoch, dass der Wettbewerb unter den Vor-Ort-Apotheken eine neue Dimen­sion erreichen wird. Habe ich als Vor-Ort-Apotheke einen virtuellen Arbeitsplatz, der gegenüber den HV-Arbeitsplätzen keine niedrigere Priorität im Betriebsablauf hat? Wie steht es um meine „digitale Sichtbarkeit“, um meine digitale „Erreichbarkeit“? Wer als Inhaber Papierrezept und Präsenzkunden liebt, aber das E-Rezept und den Fern-Rezepteinlöser eigentlich nicht mag, wird Probleme haben, im neuen Setting zu reüssieren. Wer meint, dass der bloße Anschluss an die Telematik­infrastruktur-Plattform mit Konnektoren, Lesegeräten, Softwareupdate, dem Besorgen von SMC-B- und HBA-Karten genügt und ansonsten auf das E-Rezept wartet, wird an seine Vor-Ort-Konkurrenten merkliche Marktanteile verlieren. Es braucht hier eine unternehmerische Herangehensweise.

„Auch wenn die Politik sich damit schwer tut, sollte die Dynamisierung nicht aufgegeben werden. Sie wird ja den anderen systemrelevanten Sektoren im Gesundheitswesen auch zugestanden“

Dr. Frank Diener

DAZ: Obwohl ja immer von „Spahns Apothekenreform“ die Rede ist, muss man feststellen, dass der ursprüng­liche Referentenentwurf ja immer weiter ausgedünnt wurde. Einzig die Perspektive auf honorierte, pharmazeutische Dienstleistungen stellt ein Novum dar. Fehlt Ihnen etwas in diesem geschnürten Paket, damit man das VOASG als eine „echte“ Reform bezeichnen kann?

Diener: Ja, dreierlei. Erstens fehlt die Gleichpreisigkeit auch bei Privatrezepten. Die Corona-Krise hat doch überdeutlich gezeigt, welch wichtige gesellschaftliche Funktion, eben Systemrelevanz, eine stabile Preisordnung und die Vor-Ort-Versorgung haben. Wenn bis auf wenige Ausnahmen die meisten EU-Staaten ihr Wahlrecht so ausüben, dass sie den Rx-Versand komplett verbieten, muss es doch wenigstens möglich sein, dass Deutschland als minderschweren Eingriff dazu die Gleichpreisigkeit für alle Rezepte vorsieht. Zweitens fehlt eine technische Absicherung des juristisch verankerten Rezeptmakelverbotes. Wenn es bei personalisierten Tickets für „Öffis“ und Fußballstadien mit der heutigen Technik möglich ist, die Weitergabe an Dritte zu vermeiden, sollte das auch bei den höchst sensiblen Rezeptdaten umgesetzt werden. Wenn das juristische Verbot wirklich ehrlich gemeint ist, muss man es auch technisch verankern. Drittens sollte der Schritt bei den pharmazeutischen Dienstleistungen finanziell und organisatorisch mutiger sein – bei den Gesundheitsapps hat man sich das ja auch getraut. Die können vom Arzt rezeptiert oder vom Selbstzahler direkt erworben werden, wenn sie qualitätsgesichert sind.

Von Robinson Crusoe lernen

Foto: IrkIngwer – stock.adobe.com

Um es möglichst allen Apotheken zu ermöglichen, den Patienten pharmazeu­tische Dienstleistungen anzubieten, plädiert Dr. Frank Diener dafür, die Mittel des neuen Dienstleistungsfonds auf einen „investiven Umweg“ zu schicken. Was genau dieser „Umweg“ bedeutet, skizziert Diener am Beispiel des schiffbrüchigen Robinson Crusoe: Mit bloßen Händen könnte dieser jeden Tag einen Fisch fangen, essen, satt werden und überleben. Perspektivisch besser wäre es für Robinson jedoch, jeden Tag nur einen halben Fisch zu essen und einen halben Fisch zu räuchern und zur Seite zu legen, um sich dann mehrere Tage von den Vorräten zu ernähren und Zeit zu haben, eine Fischreuse zu bauen. Dann wäre es ihm möglich, mehrere Fische an einem Tag zu fangen und auf ein anderes Level zu kommen. „Genau so müssten die Apotheker mit dem Dienstleistungshonorar vorgehen“, sagt Diener. 100 Millionen Euro sollten nicht mit der Gießkanne auf einmal verteilt und verbraucht werden, sondern investiert werden. So könnten neue Dienstleistungen zukünftig mit den vorhandenen Personalressourcen erbracht und zu Preisen angeboten werden, die für die Kostenträger akzeptabel seien. Der Idealfall für Diener wäre, den Dienstleistungsfonds in den nächsten zwei Jahren zum Aufbau von solchen IT-Hilfsmitteln zu verwenden. Damit hätte der Berufsstand dann eine Basis, mit der alle Apotheken arbeiten könnten. Konkret denkt er dabei an die Implementierung von Künstlicher Intelligenz bei Medikationsanalysen: „KI könnte den Apotheker am HV-Tisch in die Lage versetzen, komplexe Patientenfälle nicht in mehreren Stunden, sondern wenigen Minuten zu klären.“ Um solche Systeme zu entwickeln und zu etablieren, müsse das Geld des Dienstleistungsfonds ein­gesammelt werden und der Deutsche Apothekerverband müsste die Summe, als beliehener Unternehmer, verwalten. „Sparen und das Gesparte auf einen investiven Umweg schicken, ist eine sinnvolle ökonomische Gestaltungsoption“, resümiert Diener.

DAZ: Eine Dynamisierung des Fixzuschlags, wie sie seit mehr als 15 Jahren den Apotheken in Aussicht gestellt wird, bleibt auch bei dieser Gesetzesinitiative außen vor. Ist das Thema politisch für alle Zeiten tot?

Diener: Das Kombimodell ist als Vergütungsprinzip nach wie vor sachgerecht und zeitlos. Jedoch ist eine Anpassung der konkreten Zahlenwerte von Fixum und Prozent-Aufschlag betriebswirtschaftlich gut begründbar. Denn die Justierung des Fixums und des prozentualen Aufschlages basiert auf Daten des Jahres 2002 und stammt aus 2003. Seither hat sich die Quotierung der fixen und variablen Kosten massiv verändert, Stichwort „Hochpreiser“. Zudem hat sich das Niveau sowohl bei den fixen als auch den variablen Kosten stark erhöht. Beides könnte mit einer systemkonformen Anhebung von Fixum und Prozentaufschlag sach­gerecht gelöst werden. Auch wenn die Politik sich damit schwer tut, sollte die Dynamisierung nicht aufgegeben werden. Sie wird ja den anderen system­relevanten Sektoren im Gesundheitswesen auch zugestanden: Man schaue nur auf die ärztliche Versorgung oder den Krankenhaussektor.

DAZ: Pharmazeutische Kompetenz aufwerten, logistische Komponente vernachlässigen – das versteht der Gesetzgeber anscheinend unter „Apothekenstärkung“. Liegt er damit richtig?

Diener: Leider nein. Oft wird das heu­tige Kombimodell der Apothekerver­gütung so verstanden, dass das Fixum „die Pharmazie“ und der Prozentaufschlag „die Logistik“ der Apotheke abdeckt. Das ist jedoch eine grundfalsche Sicht und verkennt das zugrunde liegende ökonomische Konstruktionsprinzip aus 2003: Das Kombimodell soll nämlich über das Fixum die fixen, umsatzunabhängigen Betriebskosten und über den Prozentaufschlag die variablen, umsatzabhängigen Kosten abdecken. Was sind fixe, was sind variable Kosten? Die fixen Kosten eines Betriebes sind die Kosten, die man unabhängig von der Umsatzhöhe oder Kundenzahl hat, um der Apotheken­betriebsordnung zu genügen und den Betrieb offen zu halten: Mindestpersonal, Mindestfläche, Mindestausstattung, Mindestöffnungszeiten usw. Die variablen Kosten sind die Warenhandlings-, Personal-, Raum- und sonstige Kosten, die in Abhängigkeit von der ­Kundenzahl und Umsatzhöhe hinzu­kommen. Die Vorstellung, dass man wie an einem Schieberegler „die Logistik“ runter- und „die Pharmazie“ hochfahren könne, verkennt völlig die Betriebsabläufe und Versorgungsprozesse der Apotheke. Sachgerecht ist eine andere Sicht: Wenn ich als Gesellschaft zusätzliche pharmazeutische Dienstleistungen will, muss ich diese zusätzlich zu den bisherigen auch adäquat bezahlen und zugleich die Fehljustierung des heutigen Kombi­modells mit einer Anhebung anpassen.

„Wenn ich als Gesellschaft zusätzliche pharmazeutische Dienstleistungen will, muss ich diese zusätzlich zu den bisherigen auch adäquat ­bezahlen.“

Dr. Frank Diener

DAZ: Die AvP-Pleite und die damit verbundenen Existenzsorgen in Tausenden Apotheken beweist doch aktuell, dass ein Handling mit Arzneimitteln – vor allem bei immer teurer werdenden Präparaten – auch einer gewissen Marge bedarf. Die betroffenen Betriebe können das Ausfallrisiko doch gar nicht mehr aus eigener Kraft stemmen. Was sagen Sie dazu?

Diener: Bei den betroffenen Apotheken steht allein mit dem ausbleibenden Augustabschlag oft gleich ein ganzer Jahresgewinn im Feuer. Der Vorfall verdeutlicht drastisch, wie groß das Ausmaß umsatzvariabler Kosten geworden ist und dass da – wie eben erwähnt – beim Kombimodell Anpassungsbedarf ist, denn die Umsatzausfallrisiken sind nicht in ausreichendem Maße als Kosten beim Prozentaufschlag eingepreist.

DAZ: Wie müsste Ihrer Meinung nach den betroffenen Apotheken jetzt ge­holfen werden?

Diener: Da offenbar Jahre vergehen werden, bis Ausschüttungen aus der Insolvenzmasse erfolgen und auch die Ausschüttungsquote ungewiss ist, benötigen die betroffenen Apotheken eine dauerhafte zusätzliche Liquidität. Wo das durch Privatvermögen nicht möglich ist, bleiben nur erhöhte Kreditlinien, die aber in vielen Fällen von den Banken ohne Bürgschaften nicht gewährt werden. Die Zeit eilt, es wäre wichtig, KfW-Bürgschaften oder ähn­liches zu bekommen.

DAZ: Mal abgesehen davon, was konkret bei AvP schiefgelaufen ist: Glauben Sie, dieser Vorgang ist ein­malig, oder muss man das System der Apothekenrechenzentren grundlegend überdenken?

Diener: Die Abrechnung im Arzneimittelbereich ist so komplex geworden und wird noch komplexer werden, dass Apothekenrechenzentren de facto unverzichtbar sind und es auch bleiben – der einzelne Inhaber wäre gar nicht in der Lage, das effizient und ­effektiv zu bewerkstelligen. Ich sehe keinen Anlass, das System als solches infrage zu stellen.

DAZ: Was ist Ihrer Meinung nach der Knackpunkt im aktuellen Fall?

Diener: Das fundamentale Problem bei AvP scheint – so hat es der Insolvenzverwalter dargelegt – zu sein, dass offenbar keine absolut eindeutigen und individuell dem jeweiligen Apothekeninhaber zugeordneten Konten geführt worden sind, sondern mit Sammelkonten gearbeitet wurde, so dass die dort befindlichen Guthaben demnächst womöglich der Masse zugeschlagen und nicht von ihr abgesondert werden und nicht zeitnah zur Auskehrung gebracht werden können – sondern vielleicht auf Jahre eingefroren bleiben. Es sollte geprüft werden, ob durch geeignete Klarstellungen – z. B. im Insolvenzrecht, dem SGB V und/oder der Arzneimittelabrechnungsvereinbarung – die vom Apothekenrechenzentrum eingesammelten GKV-Abrechnungsbeträge im Insolvenzfall einen besonderen Status als Absonderungsguthaben erhalten und deshalb auf individuell zugeordneten Treuhandkonten zu führen sind.

DAZ: Ihr Vorschlag war es einmal, das Dienstleistungshonorar zunächst als eine Investition in das System zu verstehen, mit der die Voraussetzungen geschaffen werden, dass möglichst alle Apotheken partizipieren können (DAZ 2019, Nr. 16, S. 17). Halten Sie das nach wie vor für notwendig?

Diener: Die im VOASG vorgesehenen 20 Cent je Rx-Packung ergeben für die einzelne Apotheke keinen Betrag, mit dem man „groß“ in die pharmazeutischen Dienstleistungen einsteigen kann – je Patient und Jahr stehen 1,50 Euro zur Verfügung und wenn die Dienst­leistung nur bei jedem zehnten Kunden ausgeführt wird, sind es 15 Euro im Jahr. Hinzu kommt, dass anspruchs­volle pharmazeutische Dienstleistungen personalintensiv und damit teuer für die Kostenträger sind – eine Approbiertenstunde muss mit Vollkosten von 40 Euro angesetzt werden und eine Medikationsanalyse kann insbesondere wegen des Rechercheaufwandes meh­rere Stunden Zeitaufwand bedeuten. Für die Apotheken ist das wegen der ohnehin bestehenden Personalknappheit eine sehr hohe Zusatzbelastung.

DAZ: Wie könnte das Problem gelöst werden?

Diener: Es gibt bei der Gestaltung des Dienstleistungsfonds einen „genossenschaftlichen“ Weg, die einzelne Vor-Ort-Apotheke zu unterstützen, um den Personalaufwand schultern zu können: Anstatt den Dienstleistungsfonds sofort auf viele einzelne Apotheker auszukehren und insgesamt dennoch nur wenig dieser neuen Dienstleistungen zu erbringen, könnte das Fondsvolumen für ein oder zwei Jahre kollektiv auf einen „investiven Umweg“ geschickt werden, um ein unterstützendes KI-Expertensystem „in Apothekerhand“ zu entwickeln, das dann allen Vor-Ort-Apotheken kostenfrei zur Verfügung gestellt werden könnte. Pharmazeutische Dienstleistungen könnten dann von den Vor-Ort-Apotheken weniger per­sonalintensiv und kostengünstig angeboten und erbracht werden. Sparen und das Gesparte auf einen investiven Umweg schicken, ist dabei eine sinnvolle ökonomische Gestaltungsoption. Es lohnt sich, beim Dienstleistungsfonds darüber nachzudenken.

DAZ: Herr Dr. Diener, vielen Dank für das Gespräch. |

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