Arzneimittel und Therapie

(Un)bedenkliche Salicylsäure

Was Salicylat im Körper so gefährlich machen kann

Salicylsäure und ihre Derivate gehören zu den am häufigsten abge­gebenen Präparaten in der Selbstmedikation. Die Anwendung ist jahrelang bekannt und erprobt. Doch was passiert eigentlich im Körper, wenn sie versehentlich oder wissentlich überdosiert wurde?

Die schmerzstillende und fiebersenkende Wirkung von Salicylaten ist seit einigen tausend Jahren bekannt. Als Bestandteil von Weidenrinde wurde sie schon früh genutzt. Auch heute sind Arzneimittel erhältlich, deren Wirkung auf Salicylaten beruht. Acetylsalicylsäure (ASS, z. B. Aspirin®) zählt zu den ältesten und am häufigsten gebrauchten Wirkstoffen. Obwohl das Medikament gemeinhin als harmlos gilt, kommt es immer wieder zu Vergiftungen. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind recht gut erforscht und wurden in einem Review in „The New England Journal of Medicine“ zusammengefasst.

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Schon der Arzt und Naturforscher Paracelsus wusste: „Alle Ding’ sind Gift und nichts ohn’ Gift – allein die Dosis macht, das ein Ding’ kein Gift ist.“

Facettenreiche Salicylsäure(-derivate)

Reine Salicylsäure lässt sich nur in topischen Arzneiformen wie Lösungen, Salben und Pflastern als Keratolytikum wiederfinden (z. B. Aknefug®liquid, Guttaplast®). Neben der bekannten Acetylsalicylsäure, die meistens in Form von Tabletten eingenommen wird, existieren etliche weitere Salicylsäureverbindungen mit unterschiedlichen Toxizitäten in verschiedenen Arzneiformen: Diethylaminsalicylat wird beispielsweise oft in Schmerzsalben (z. B. Reparil®-Gel N Madaus) angewendet, dahingegen findet man Mesalazin vorwiegend in lokal angewandten Darmtherapeutika (z. B. Pentasa®). Das Salicylsäure-Derivat mit der geringsten therapeutischen Breite ist Methylsalicylat, welches häufig auch in Form von Wintergrünöl sowohl äußerlich (z. B. Enelbin® Paste, einige Pferdesalben) als auch im Rachenraum (z. B. Neo-Angin® Halsspray, Listerine® Total Care) zur Entzündungshemmung eingesetzt wird. Die Resorption von Salicylsäure und ihren Derivaten findet sowohl ­enteral als auch über die Haut statt. Einmal im Körper angelangt, werden die Salicylsäureverbindungen enzymatisch in Darmwand, Leber und Erythrozyten rasch zu Salicylat gespalten. Bei physiologischem pH-Wert von 7,4 liegen 99% der Moleküle in ionisierter Form vor. Etwa 90% der Substanz sind nach therapeutischer Dosierung an Albumin gebunden, nach einer Überdosierung nimmt der Anteil des ungebundenen Salicylats zu. Etwa 10% des Salicylats werden unverändert über den Urin ausgeschieden, der Rest wird in der Leber zu Glucuronid- und Glycin-Konjugaten metabolisiert.

26 Todesfälle in einem Jahr

Medikamente wie ASS sind rezeptfrei erhältlich und werden daher meist als unproblematisch wahrgenommen.

Ein Blick in die Statistiken der amerikanischen Giftinformationszentren zeigt jedoch auch eine andere Seite. Allein im Jahr 2018 wurden 17.380 Fälle von ASS-Vergiftungen regis­triert, von denen immerhin 26 tödlich verliefen. Akute Vergiftungen werden oft in suizidaler Absicht herbeigeführt, indem eine große Menge ASS-Tabletten eingenommen wird. Als grober Richtwert gilt, dass die Einnahme einer 500 mg-ASS-Tablette pro Kilogramm Körpergewicht für einen Erwachsenen letal sein kann. Je nach Höhe der Plasmakonzentration kann es zu Ödemen, schweren neurologischen Symptomen bis hin zum Kreislaufkollaps kommen (siehe Tabelle).

Tab. : Salicylat-Plasmakonzentrationen und die Auswirkungen auf den Körper.
Plasmakonzentration [mg/dl]
Wirkung
15 bis 30
antiinflammatorische Wirkung
40 bis 50
Tinnitus, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Hyperpnoe (vertiefte Atmung)
50 bis 70
Fieber, Schwitzen, Antriebslosigkeit, Unkoordiniertheit
> 75
Halluzinationen, Krämpfe, Hirnödeme, nichtkardiales Lungenödem, Koma, Kreislaufzusammenbruch, Tod durch indirektes oder direktes Herz-Kreislauf-Versagen

Einfluss auf die Atmungskette

Hohe Salicylat-Konzentrationen wirken stimulierend auf das Atemzentrum. Dadurch kann es zur respiratorischen Alkalose mit einem Ansteigen des physiologischen pH-Wertes kommen. Eine Entkoppelung der oxidativen Phosphorylierung führt zu einer verminderten Mitochondrien-Funktion. Die Energiegewinnung des Körpers wird auf Glykolyse umgestellt, da einige Enzyme des Citratzyklus durch Salicylat gehemmt werden. Das hat einen erhöhten Sauerstoffverbrauch und verstärkte Wärmeproduktion zur Folge. Über verschiedene Mechanismen kann es, besonders bei Kindern, zum Auftreten einer metabolischen Azidose kommen. Sinkt der pH-Wert des Blutes, steigt der Anteil der nichtionisierten Salicylsäure. Diese Form kann Zellmembranen im Vergleich zum geladenen Salicylat leichter durchqueren. Die Substanz wird also in Organe, inklusive des Zentralnervensystems, umverteilt. Dies kann zu paradoxen Beobachtungen führen, wenn sinkende Plasmakonzentrationen von einer Verschlechterung des Zustandes des Patienten begleitet werden.

Ingwer und Minztee mit Vorsicht genießen

Chronische Vergiftungen treten meist versehentlich auf, beispielsweise wenn zwei Salicylat-haltige Formulierungen gleichzeitig über einen längeren Zeitraum angewendet werden. Auch einige Lebensmittel, wie Ingwer und Minztee, enthalten Salicylate und können zur Exposition beitragen. Wenn die Eliminierungswege gesättigt sind, kommt es zu einer Akkumulation des Wirkstoffes und die Halbwertszeit verlängert sich. Einige Faktoren können sich modifizierend auf den Verlauf einer Salicylat-Vergiftung auswirken. So verlangsamen Opioide und Ethanol die Absorption von Acetylsalicylsäure im Magen-Darm-Trakt. Bestehende Nierenerkrankungen können die Exkretion verlangsamen. Gleichzeitige Einnahme von Arzneimitteln, die die Salicylat-Proteinbindung lösen oder das Vorliegen einer Hypoalbuminämie können die Plasmakonzentration von freiem Salicylat erhöhen.

Diagnose oft schwierig

Die Diagnose einer Salicylat-Vergiftung gestaltet sich oft schwierig. Viele der Symptome können mit anderen Erkrankungen verwechselt werden und zu einer Fehldiagnose führen. Erhöhte Atemfrequenz und Lungengeräusche können als Herz-Lungen-Erkrankung anderen Ursprungs gedeutet werden. Fieber und mentale Veränderungen können als Sepsis interpretiert werden und metabolische Azidose in Verbindung mit mentalen Auffälligkeiten kann auch auf einen Alkoholentzug hindeuten. Je schneller der behandelnde Arzt eine korrekte Diagnose stellt, desto besser sind die Heilungsaus­sichten für den Patienten. Daher sollte bei einer Kombination aus Störungen des Säure-Base-Haushaltes, erhöhter Atemfrequenz und neurologischen Störungen immer auch eine Salicylat-Vergiftung in Betracht gezogen werden.

Therapie einer Intoxikation

Die Therapie einer Salicylat-Vergiftung kann nur symptomatisch erfolgen, denn ein Antidot ist derzeit nicht bekannt. Der Fokus sollte auf der Stabilisierung von Atmung und Kreislauf liegen. Oft haben Patienten ein Flüssigkeitsdefizit. Um ein normales Flüssigkeitsgleichgewicht zu erreichen, kann die Gabe von isotonischer Kochsalzlösung oder Ringer-Lactat-Lösung sinnvoll sein. Der Patient muss dabei regelmäßig auf Anzeichen von Ödemen kontrolliert werden. Wenn die orale Einnahme eines Salicylats weniger als zwei Stunden zurückliegt, kann die weitere Absorption durch Gabe von Aktivkohle verhindert werden. Die Salicylat-Clearance kann gesteigert werden, indem der pH-Wert des Urins durch intravenöse Gabe von 4,2%-iger bzw. 8,4%-iger Natriumhy­drogencarbonat- oder Trometamol-Lösung erhöht wird. Bei sehr hohen Salicylat-Plasmakonzentrationen von über 90 mg/dl ist eine Hämodialyse nötig. Damit kann gleichzeitig einer Azidose und Elektrolytstörungen, wie der häufig auftretende Hypokaliämie, entgegengewirkt werden. |

 

Literatur

Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T, Hinz B, Ruth P. Mutschler Arzneimittelwirkungen. 11. Auflage, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2019

Ingelfinger JR et al. Salicylate Toxicity. N Engl J Med 2020, 382:2544–2555. doi:10.1056/NEJMra2010852

Ludewig R, Regenthal R. Akute Vergiftungen und Arzneimittelüberdosierungen, 11. Auflage, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2015

Akute Vergiftung mit Salicylaten. Informationen der Toxinfo Suisse, https://toxinfo.ch/customer/files/721/MB_Salicylate_2015_06_30_d74.pdf, Abruf am 7. August 2020

Ulrich Schreiber, M.Sc. Toxikologe

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