Arzneimittel und Therapie

Linderung ist möglich, Heilung nicht

Ein Gastkommentar zur Leitlinien-Lage bei chronischem Tinnitus

Prof. Dr. med. Gerhard Hesse, Bad Arolsen

Leitlinien werden von wissenschaftlichen Organisationen verschiedener Länder für die Behandlung einzelner Krankheiten, besonders chronischer Krankheiten, erstellt. Für die Diagnostik und Therapie des chronischen Tinnitus gibt es auch in Deutschland Leitlinien, die 2014 von der AWMF unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde veröffentlicht wurden - zurzeit werden diese gerade aktualisiert. Eine sehr umfangreiche Leitlinie zum chronischen Tinnitus ist in Großbritannien publiziert worden; sie fasst den aktuellen wissenschaftlichen Stand sehr gut zusammen und spricht dezidierte Empfehlungen aus.

Eine Besonderheit der Tinnitusbehandlung in England besteht darin, dass praktisch nur Akutfälle von HNO-Ärzten gesehen werden, während die Betreuung chronischer Patienten mit Hörstörungen und ­daher auch mit Ohrgeräuschen von Audiologen durchgeführt wird. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen gibt es diese Berufsgruppe in freier Niederlassung praktisch nicht, bei uns stehen HNO-Ärzte in der Behandlungsverantwortung.

Für die Diagnostik und Therapie des chronischen Tinnitus gibt es auch in Deutschland Leitlinien, die 2014 von der AWMF unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde veröffentlicht wurden – zurzeit werden diese aktualisiert.

Die für England vom NICE erstellte Leitlinie Tinnitus gibt dezidierte Empfehlungen, welche Untersuchungsschritte erfolgen sollten und auch welche Fragebögen zur Erfassung des Schweregrades des Tinnitus und der möglichen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) durchgeführt werden sollen. In der Leitlinie wird auch die Betroffenheit der englischen Bevölkerung beschrieben: 10% haben bereits oder werden ein Ohrgeräusch bekommen, allerdings ist das nur bei 2,8% beeinträchtigend. Eine schwere Beeinträchtigung besteht bei 1,6% und bei 0,5% eine das normale Leben maßgeblich beeinträchtigende Störung. Ca. 3% der Bevölkerung suchen wegen Ohrgeräuschen eine ärztliche Behandlung. Auch diese Daten entsprechen den Zahlen für Deutschland.

Empfohlen wird in der für England vom NICE erstellten Leitlinie in erster Linie eine gründliche Diagnostik, besonders eine Erfassung der Hörfunktionen (Audiometrie), die auch dazu dient, einen häufig begleitenden Hörverlust zu erkennen. Durch Fragebögen sollen dann die psychologischen Beeinträchtigungen wie depressive Anteile und Angststörungen mit erfasst werden. Es soll auch erfasst werden, wie stark der Tinnitus insgesamt belastet, wie der Schlaf und die Lebensqualität durch den Tinnitus mehr oder weniger stark eingeschränkt werden. Wesent­licher Ausgangspunkt für eine sinnvolle Tinnitusbehandlung ist auf jeden Fall, das unterstreicht die englische Leitlinie auch durch Literaturrecherchen, eine gute Information der Patienten, die hauptsächlich mit einer Entängstigung einhergeht und vermittelt, dass der Tinnitus eben ein Symptom gestörter Hörwahrnehmung ist, ohne dass daraus schwerwiegende Störungen erwachsen müssten.

Für die Behandlung werden dann einzelne Therapieansätze wissenschaftlich untersucht und mit Literaturstellen untermauert und konkrete Empfehlungen ausgesprochen. Für Tinnitus-Patienten, die einen begleitenden Hörverlust haben, wird auf jeden Fall eine Hörgeräteversorgung empfohlen, während die reine Geräuschtherapie (Noiser) nach der veröffentlichten Literatur nicht empfohlen werden kann.

Sehr gut belegt ist durch wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit psychologischer Therapien, die je nach Betroffenheit des Patienten mehrschrittig vorgenommen werden sollten. Sie können einzeln oder in Gruppen stattfinden (je nach Betroffenheit), aber auch internetbasierte Therapieverfahren werden angesprochen und empfohlen. Besonders herausgestellt in der Leitlinie wird, dass diese Therapien auf jeden Fall von Psychologen durchgeführt oder zumindest koordiniert und ­supervidiert werden sollten. Dies ist besonders vor dem Hintergrund, dass viele Audiologen diese psychologischen Therapien anbieten, sehr wichtig: Es sollte eine Kontrolle der Therapien durch ausgebildete Psychologen erfolgen.

Für andere Therapien wie etwa Magnet- oder Reizstrombehandlungen oder auch die sogenannte Neurostimulation oder Neuromodulation hat die englische Leitlinie keinerlei Belege gefunden und empfiehlt sie daher ausdrücklich nicht.

Das gilt auch für medikamentöse Behandlungen. In England zugelassen zur Tinnitusbehandlung ist ­einzig das Medikament Betahistin, dies wird in der Leitlinie ganz explizit untersucht, und die vorliegenden Studien dazu werden ausgewertet. Die Leitlinie stellt klar heraus, dass es keinerlei Belege für die Wirksamkeit des Betahistins bei Tinnitus gibt, weder wird die Lautheit noch die Belästigung durch den Tinnitus durch Betahistin verbessert, es wird daher explizit empfohlen, dieses Medikament nicht einzusetzen. Für andere Arzneimittel gibt es ebenfalls keine wissenschaftlichen Be­lege, sie sind deswegen auch gar nicht weiter erwähnt worden.

Eine Therapie, die das Ohrgeräusch abschalten kann, gibt es nicht. Dies gelingt weder durch medikamentöse noch durch apparative Anwendungen.

Insgesamt bietet diese englische Leitlinie eine Fülle von Informationen und eine umfassende Auswertung der bestehenden Literatur, ­zumindest der englischsprachigen, und deckt sich im Wesentlichen auch mit dem, was in der für Deutschland jetzt gerade in der Überarbeitung befindlichen Leitlinie zu erwarten ist: Eine Therapie, die das Ohrgeräusch abschalten kann, gibt es nicht. Dies gelingt weder durch medikamentöse noch durch apparative Anwendungen. Insofern ist der Schwerpunkt der Therapie immer eine Behandlung der Begleitfaktoren wie Ängste, ­Depressionen und Belästigungs­reaktionen. Sie kann und muss dazu führen, dass der Tinnitus besser verarbeitet und dann auch besser ertragen werden kann und im ­besten Fall aus der Wahrnehmung wieder verschwinden kann, weil das Ohrgeräusch insgesamt als ­unwichtig eingeschätzt wird. Dabei helfen besonders psychologische Therapieansätze wie die kognitive Verhaltenstherapie.

Eine Besonderheit der englischen Leitlinie besteht auch darin, dass hier ganz speziell auf eine Kosten-Nutzen-Relation eingegangen wird, also immer auch hinterfragt wird, welche Kosten durch entsprechende Therapieansätze entstehen im Hinblick darauf, was sie dann tatsächlich bewirken können. Dies ist sicher sinnvoll, entsteht doch sowohl für Kostenträger als auch für den Patienten selbst durch unnütze Behandlungsmethoden eine Menge unnötiger Kosten, die anderweitig besser eingesetzt werden könnten. Insofern ist die Erstellung von ­Leitlinien gerade für chronische Krankheiten, für die es die unmittelbare Kausaltherapie nicht gibt, extrem wichtig.

Eine wichtige Botschaft der Leitlinie ist jedoch, dass auch bei diesen Krankheitsbildern wie dem chronischen Tinnitus eine Linderung und Hilfe möglich ist, diese sollte jedoch wissenschaftlich nachprüfbar sein und auf einer medizinisch und wirtschaftlich fundierten Basis stehen.

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