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Die Verordnungskaskade als Teil des Systems

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Im Jahr 2015 schrieb ich einen DAZ-Beitrag mit dem Titel „Paradigmenwechsel in der Geriatrie?“ (DAZ 2015, Nr. 10, S. 64). Das Fragezeichen war berechtigt, denn der Paradigmenwechsel ist nie beim Patienten angekommen. Der Beitrag behandelte Studien des israelischen Geriaters Doron Garfinkel, der einen Algorithmus aufgezeigt hatte, mit dem sich Polymedikationen und Verordnungskaskaden gezielt reduzieren lassen. Und er hatte den Benefit seiner Vorgehensweise bewiesen: In seiner Deprescribing-Gruppe war die Mortalität im Vergleich zur leitliniengerecht behandelten Polymedikations-Gruppe etwa halbiert, die Zahl der Klinikeinweisungen sogar um etwa zwei Drittel gesenkt. Die Vielen bekannte und von Wenigen genutzte FORTA-Liste beruht auf Garfinkels Methode.

Passiert ist seither wenig. Noch immer behandeln Ärzte multimorbide geriatrische Patienten nach mehreren, oft miteinander kollidierenden Leitlinien. Deprescribing findet kaum statt. Das Ergebnis ist eine hohe Zahl von Krankenhauseinweisungen aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Was aber passiert im Krankenhaus? In der Nothilfe schreibt ein junger Assistenzarzt einen Arztbrief für die Station, die den Patienten weiter betreut. Dabei übernimmt er Diagnosen aus früheren Arztbriefen per copy and paste, ohne sie infrage zu stellen. Gelegentlich fügt er eine neue Diagnose hinzu, denn jede Nebendia­gnose bringt im Abrechnungssystem der DRGs zusätzliches Geld. Genau wegen dieser Dynamik haben die Australier sich wieder von den DRGs verabschiedet.

Eine oder mehrere Diagnosen in der Klinik als arzneimittelbezogene Probleme innerhalb einer Verordnungskaskade zu identifizieren, würde nicht nur eine hohe klinisch-pharmakologische Qualifikation erfordern (die z. B. von einem jungen Chirurgen kaum erwartet werden darf), sie wäre auch in dreifacher Hinsicht kontraproduktiv: Erstens fallen dadurch abrechenbare Diagnosen weg, zweitens ist eine Reduzierung von Klinikeinweisungen Gift für die Belegungszahlen, drittens müsste man dem einweisenden Arzt im Entlassbrief (diplomatisch) mitteilen, dass er den Klinikaufenthalt seines Patienten selbst verschuldet hat. Da gerade in überversorgten Regionen Kliniken von ihren Einweisern abhängig sind, lässt man das doch lieber bleiben. Dabei ist es durchaus so, dass praktische Ärzte sich oft ein „Aufräumen“ des Medikationsplans erhoffen, insbesondere von einer Akutgeriatrie. Diese Hoffnung wird allzu oft enttäuscht. Da der geriatrische Patient im Abrechnungssystem keinen hohen Stellenwert hat, sind diese Abteilungen in großen Kliniken oft defizitär und damit das Mobbingopfer einer kaufmännisch orientierten (also jeder) Geschäftsführung. Die resultierende Abwanderung qualifizierter Ärzte kostet auch geriatrisch-pharmakologische Kompetenz.

Damit wird auch klar, warum die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sich so erbittert wehrte, als der niedersächsische Landtag die Verpflichtung beschloss, Stationsapo­theker in den Kliniken des Landes einzustellen. Gut ausgebildete klinische Pharmazeuten kosten nicht nur Geld, sie sind auch fähig, die Symptome einer Verordnungskaskade von denen einer neuen Erkrankung abzugrenzen. Damit können sie den DRG-getriggerten Diagnosen- und Vergütungsturbo empfindlich ausbremsen. Lediglich der Patient würde profitieren, aber der ist für die von Betriebswirten dominierte DKG wohl eher irrelevant.

Bleibt eine letzte Frage: Warum wehren sich die Krankenkassen nicht gegen diesen kostentreibenden Turbo? Offenbar, weil viele Kassen selbst von ihm profitieren. Wir wissen das seit Herbst 2016, als dem Chef der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas, der Kragen platzte und er andere Kassen (gemeint, aber nicht explizit genannt sind vermutlich die AOKs, die zu den einflussreichsten Playern im Gesundheitslobbyismus gehören), sie hätten in den vergangenen Jahren bis zu einer Milliarde Euro in „Drückerkolonnen“ investiert, um Ärzte zu mehr und schwereren Diagnosen anzustiften. Dies würde diesen Kassen ermöglichen, mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich abzugreifen. Einige Kassen, nicht jedoch alle, dementierten dies. Wie glaubwürdig diese Dementis sind, lässt sich an der Bereitschaft der Krankenkassen ablesen, Medikationsanalysen, die Verordnungskaskaden detektieren können, zu honorieren. Bisher warten wir noch darauf.

Dr. Markus Zieglmeier

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