Feuilleton

Penicillin aus Urin

Engpassmanagement in Zeiten höchster Not

Von Susanne Krejsa MacManus | „Thanks to Penicillin … He Will Come Home!” Dieser Stoßseufzer aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt deutlich den Stellenwert eines der ältesten Antibiotika – des Penicillins – als „Wunderwaffe des Krieges, eine Waffe, die nicht zerstört sondern Leben rettet“ [1]. Was Alexander Fleming im Jahr 1928 zufällig entdeckt hatte und nach mehr als zehn Jahren britischer und amerikanischer Forschung endlich chemisch dargestellt und weitere Jahre später in größeren Mengen produziert werden konnte, war tatsächlich kriegsentscheidend. Und um die deutsche Bevölkerung in der unmittelbaren Nachkriegszeit adäquat versorgen zu können, ließen sich die führenden Hersteller im Land eine besondere Methode einfallen: Nämlich das Recycling des Wirkstoffes aus dem Urin von Penicillin-behandelten Patienten.
Foto: Science Museum, London. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)

Nach dem ersten Heilungserfolg mit US-produziertem Penicillin am 14. März 1942, der die Hälfte des im ganzen Land vorhandenen Wirkstoffes aufgebraucht hatte, arbeiteten 21 zusammengeschlossene Firmen rund um die Uhr, um möglichst große Vorräte anzulegen. Bis zum D-Day (6. Juni 1944) hatten sie nicht weniger als 2,3 Mio. Dosen produziert. Kaum war der Krieg zu Ende, ging es nicht mehr um Kriegsverletzungen der britischen und amerikanischen Soldaten, sondern um ihre Gesunderhaltung im Alltag in den besetzten Ländern: „Im Laufe des Herbstes und Winters 1945 begannen die westlichen Alliierten, grössere Mengen englischen und amerikanischen Penicillins nach Berlin zu liefern, allerdings ausschließlich zum Gebrauch in venerologischen Stationen deutscher Krankenhäuser zur Verwendung im Auftrag und unter Aufsicht der Militärbehörden“ [2].

Versuche mit Penicillin nur im Labormaßstab

Die Alliierten trugen nun die Verantwortung für die deutsche Bevölkerung, die hungernd, traumatisiert und ausgebombt in beengten Wohnverhältnissen und unter katastrophalen sanitären Bedingungen leben musste. Bakterieninfektionen grassierten, die Gefahr von Epidemien war groß. Schleichhandel und Fälschungen bzw. Streckungen von Penicillin, beispielsweise mit gefärbtem Wasser oder Sand, waren Alltagsrealität in den vom Zweiten Weltkrieg zertrümmerten Ländern. So suchten die Militär­regie­run­gen der Besatzungszonen nach Wegen für eine lokale Produktion von Penicillin.

Allerdings war die Ausgangslage dafür schlecht. Während der NS-Zeit hatten sich deutsche Mikrobiologen und Pharmafirmen bemüht, Penicillin zu produzieren, doch hatte man keine wirklich produktive Kombination aus Pilzstämmen und Kulturmethoden entwickeln können. Versuche waren über den Labormaßstab nicht hinausgekommen. 1944 wurde Penicillin sogar zu einem Hauptschwerpunkt der nationalen Medizinforschung gemacht, was unter anderem bedeutete, dass die daran Beteiligten nicht eingezogen wurden. Im Dezember 1944 war Merck knapp davor gewesen, eine kleine Penicillin-Produktion zu beginnen, doch hatte eine Bombe die Laboratorien zerstört [3].

Die Überführung aus dem Labormaßstab in die reguläre Produktion hatte allerdings auch die britischen und amerikanischen Wissenschafter vor große Herausforderungen gestellt. John L. Smith, Vizepräsident der Firma Pfizer, wird mit folgendem Aufschrei zitiert: „Der Schimmel ist temperamentvoll wie eine Operndiva, die Ausbeute ist niedrig, die Isolierung schwierig, die Extraktion mörderisch, die ­Rei­nigung katastrophenanfällig und die Untersuchung unbefriedigend“ [4].

Foto: Kabardins photo – stock.adobe.com

Kaum waren die Kämpfe vorbei, inspizierten die Militär­regierungen alle infrage kommenden deutschen Pharmafirmen, um sich ein Bild über die Möglichkeiten zu verschaffen, etwa die I.G. Farben, Hoechst und Chemie-Grünenthal. Gleich unmittelbar nach dem Ende des Kampfes um Berlin wies die sowjetische Militär-Administration Schering an, mit der Produktion von Penicillin zu beginnen [5]. Ein Gutteil der erwarteten Produktion sollte als Reparation zurück in die Sowjetunion fließen. Denn sowohl die Sowjetunion als auch Frankreich „[verfügten] selbst gar nicht über jenes Wundermittel […], mit dem sogar eine bakterielle Meningitis geheilt werden konnte“ [6]. Am 8. Januar 1946 meldete auch der britische Rundfunk, „die pharmazeutischen Werke Schering A.G. in Berlin [werden] Penicillin für Deutschland herstellen. Die britische Militärregierung hat der Firma bei der Einrichtung der notwendigen Laboratorien [im Werk Charlottenburg] und der Beschaffung des erforderlichen Materials, soweit es in Deutschland verfügbar ist, ihre Unterstützung zugesagt“ [7].

Foto: Technisches Museum Wien, Inv.-Nr. 581432
Bis zum D-Day am 6. Juni 1944 hatte die pharmazeutische Industrie der Alliierten mehr als 2,3 Millionen Dosen an Penicillin G produziert.

Mit diesen Erwartungen der Besatzer war Schering allerdings überfordert, hatte keine Erfahrung mit der Penicillinherstellung im großen Maßstab, verfügte nicht über ertragsreiche Penicillinstämme, Rohstoffe fehlten, und Fremdinfektionen traten auf [8]. Zwar unterstützten britische Wissenschaftler das Unternehmen, doch behinderte das wechselhafte politische Klima zwischen den Alliierten den Transfer von Wissen [9]. Es fehlte aber nicht nur an technologischen Kenntnissen, sondern auch an den Basics, beispielsweise an Kohle. Dazu kamen Zerstörungen an allen drei Produktionsstandorten von Schering (Müllerstrasse, Adlershof, Charlottenburg), deren Reparatur oder Ersatz wiederum diplomatische Verhandlungen erforderte, da sie in unterschiedlich besetzten Zonen lagen [10]. Erst Ende 1946 / Anfang 1947 war es dann so weit, dass sogenanntes Kulturpenicillin zumindest schon in kleinen Mengen hergestellt werden konnte. Es durfte nur gegen Quittung abgegeben werden und wurde im Panzerschrank aufbewahrt [11]. 1947 lag Scherings Anteil am gesamten Berliner Verbrauch schließlich schon bei 30 Prozent [12].

Schering ist am schnellsten

Schon zuvor hatten sowohl Schering als auch die 1946 gegründete Penicillin-Gesellschaft in Göttingen einen Weg gefunden, die lokale Bevölkerung zumindest teilweise mit Penicillin zu versorgen: Nämlich durch Recycling aus dem Urin von Penicillin-behandelten Patienten. Seit 1941 war durch die Forschungen von Howard Florey und seinen Mitarbeitern in Oxford bekannt, dass injiziertes Penicillin schnell zu zwei Drittel durch die Nieren ausgeschieden wird und die Hälfte davon zurückgewonnen werden kann [13]. Diese Möglichkeit hatten sich beispielsweise britische Einheiten auf Lazarettschiffen während des Krieges zunutze gemacht. Auch amerikanische Forscher hatten von Beginn an auf Penicillin-Recycling gesetzt [14], denn die Rückgewinnung funktionierte wesentlich schneller als die Neuproduktion von Kulturpenicillin, was vor allem in Zeiten knapper Ausbeute die Fortführung von Behandlungen überhaupt erst ermöglichte.

Der recycelte, durch den menschlichen Organismus gefil­terte, Wirkstoff war sogar sehr populär, weil die Verabreichung schmerzlos war, im Gegensatz zum ursprünglichen Kulturpenicillin, einem braunen Pulver, das in gelöster Form wie verdünnter Senf aussah und sich bei der Injektion ebenso scharf anfühlte [15].

Foto: Schering-Archiv, Berlin

Im März 1946 begann Schering mit der Harnsammlung in britischen und amerikanischen Krankenhäusern. Nicht jeder Harn war brauchbar: Rund ein Viertel hatte einen pH-Wert von mehr als 8 und musste daher verworfen werden [16]. Der penicillinhaltige Harn wurde mit Aktivkohle versetzt und in Milchkannen gefüllt, gekühlt und filtriert. Die Aktivkohle wurde dann im schwach Sauren mit Chloroform extrahiert und wie ‚normales‘ Penicillin weiter aufbereitet [17]. Ab Frühsommer 1946 stand es für PatientInnen mit schwersten Erkrankungen zur Verfügung. Allerdings mit Hindernissen: „Gewürzt wurde die hiermit verbundene Arbeit durch zahlreiche bürokratische Kontrollmassnahmen, z. B. hatten die westlichen Besatzungsbehörden unsere Harnsammlung nur mit der Massgabe gestattet, dass die Rücklieferung in die betreffenden Stadtsektoren im Verhältnis der eingegangenen Harnmengen erfolge“, erinnerte sich der damalige Schering-Abteilungsleiter Dr. Heinz Gibian. „In den französischen oder gar russischen Sektor durfte also kein aus ‚englischem‘ oder ‚amerikanischem‘ Harn stammendes Penicillin abgegeben werden“ [18].

Fünf Jahre lang ist Harn Mittel der Wahl

Ab dem Frühjahr 1947 wurde Harn auch in den amerikanischen und britischen Teilen Westdeutschlands gesammelt, parallel dazu eine weitere Produktionsanlage im Werk Charlottenburg aufgebaut, um bezüglich Kulturpenicillin von den Russen unabhängig zu sein. Im April 1949 konnten insgesamt 4855 Liter Harn von 3153 Patienten aus allen Sektoren gesammelt werden, fast doppelt so viel wie im Vergleichsmonat des Vorjahres [19]. Erst 1950, als die ‚konventionelle‘ Produktion von Penicillin die nötigen Mengen garantieren konnte, wurde die Urin-Sammelaktion aus Kostengründen eingestellt.

In der Preisliste von 1947 wird Penicillin Schering mit zehn Ampullen zu je 20.000 I.E. plus zehn Ampullen Lösungsmittel um 155,85 Reichsmark angeboten (Verbraucherpreis inkl. Umsatzsteuer) [20]. Nach der Währungsreform [21] verkauft Schering im Mai 1949 „im sowjetisch besetzten Gebiet Deutschlands […] Penicillin zur lokalen Anwendung, besonders bei Furunkeln, Abszessen, Panaritien und infizierten Wunden“ in Ampullen zu je 1.000 I.E. plus Ampullen Lösungsmittel um 2,44 DM (Apothekeneinkaufspreis für drei Stück) bzw. 3,50 DM (Verbraucherpreis inkl. 3 Prozent Umsatzsteuer) [22].

Foto: Sir William Dunn School of Pathology, Oxford

Recyceltes Penicillinin Pulverform von 1943

Wie erwähnt hatte die Sowjetunion lange Zeit keine eigene Penicillinproduktion, hielt aber nach Schätzungen den Rekord für die meisten Behandlungen. Anfangs kratzte man das Penicillin von den Wänden feuchter Luftschutzbunker und rieb es direkt in die Wunden [23]. Doch immer wieder berichteten Medien hoffnungsvoll über sowjetische Penicillinerfindungen, etwa durch die sowjetische Mikrobiologin Sinalda Jermoljewa, deren Wirkstoff „über ungeahnte Eigenschaften [verfüge]: hoffnungsvolle Fälle von allgemeiner Blutvergiftung, Gangräne, Lungenentzündung, Scharlach, Diphtherie, Syphilis und anderen Krankheiten werden vielfach geheilt“ [24]. Und überhaupt, die Sowjetunion habe Penicillin schon lange vor Alexander Fleming erfunden: So „[hätten] die russischen Gelehrten Manassein und Polotebnow bereits in den Jahren 1871 bis 1877 in russischen medizinischen Zeitschriften die Ergebnisse ihrer Versuche bezüglich der Wirkung von Schimmel auf Bakterien veröffentlicht […]. Diese hätten auch von der Heilwirkung eines Schimmelextrakts bei der Behandlung von eitrigen Geschwüren und Wunden Mittheilung gemacht“ [25].

Erst fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnte die deutsche Bevölkerung ausreichend mit Penicillin versorgt werden. Ausschlaggebend für die Bedarfsdeckung waren die Produktionen in Hoechst und Jena [26]. 1953 stellte Schering die Penicillin-Produktion ein.

Bereits 1951 gelang Ernst Brandl und Hans Margreiter im österreichischen Kundl ein pharmazeutischer Durchbruch: Sie entwickelten das erste säurefeste Penicillin; damit konnte man den Wirkstoff erstmals in Tablettenform oral verabreichen. Doch schon seit Mitte der 1940er-Jahre hatte sich bereits eine Ernüchterung angekündigt: Denn mit seinem großflächigen Einsatz wurden auch die ersten Penicillin-resistenten Krankheitsfälle bekannt [27]. |
 

Literatur

 [1] Shenley Laboratories, Life Magazine, o.J.

 [2] Gibian H, Ergänzende Bemerkungen v. 18.5.1954, B3-125, SchA, Berlin.

 [3] Gaudillière JP, Gausemeier B, Molding National Research Systems, OSIRIS 2005, 20:180-202, hier: S.192f.

 [4] https://www.acs.org/content/acs/en/education/whatischemistry/landmarks/flemingpenicillin.html#wwii-penicillin-commercial-production abg. 13.12.2019

 [5] Gaudillière, Gausemeier 199.

* Heute Standort des Schering-Archivs (SchA, Berlin)

 [6] Forth W et al., Von Menschen und Pilzen, München: Zuckschwerdt, 1997, 68.

 [7] Salzburger Nachrichten v. 9.1.1946

 [8] Pieroth I, Penicillinherstellung – Von den Anfängen bis zur Großproduktion, Heidelberger Schriften, 1992, 123.

 [9] Gaudillière, Gausemeier 199.

[10] Gaudillière, Gausemeier 200.

[11] Forth et al., 69.

[12] Pieroth 123.

[13] Humphrey JH, Excretion of Penicillin in Man, Nature 3920, 1944, 765.

[14] Erinnerungen von Dr. Charles M. Grossman in: Kreston R, The Magic Arrow – Penicilline & the Recurrin’ Urine, www.discovermagazin.com v. 1.1.2015

[15] Fraser I, Penicillin: Early trials in war casualties, Brit Med J 289, Dec 1984, 1723-1725.

[16] Int. Notiz v. 2.5.1949 betreffend P-Harnsammlung im Monat April 1949, B2/1407, SchA, Berlin.

[17] Pieroth 119ff.

[18] Gibian.

[19] Int. Notiz v. 2.5.1949 betreffend P-Harnsammlung im Monat April 1949, B2/1407, SchA., Berlin.

[20] Int. Notiz v. Juli 1981, XC 1.35, Blatt 2, SchA, Berlin.

[21] 20. Juni 1948

[22] An unsere Grossokunden v. Mai 1949, 019-126, SchA, Berlin.

[23] Luiggi C, The Discovery of Penicillin, https://www.the-scientist.com/foundations/the-discovery-of-penicillin-circa-1928-43116, abg. 12.12.2019.

[24] Aus der Sowjetunion, Österreichische Zeitung v. 15.4.1945, 2.

[25] Wer ist der Entdecker des Penizillin?, Oberösterr. Nachrichten v. 24.3.1948, 2.

[26] Pieroth 131.

[27] Luiggi C, The Discovery of Penicillin, https://www.the-scientist.com/foundations/the-discovery-of-penicillin-circa-1928-43116, abg. 12.12.2019.

Autorin

Dr. phil. Susanne Krejsa MacManus ist Mitglied der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin/Medical Humanities, Kommission für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften, Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sowie Beiratsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschafts­geschichte (ÖGW). Sie arbeitet als Autorin und freie Journalistin vorwiegend im Bereich Medizingeschichte.

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