Die Seite 3

Alles paletti?

Foto: DAZ/Kahrmann

Dr. Christian Rotta, Geschäftsführer des Deutschen Apotheker Verlags

Ob Honorierung des Botendienstes, Austausch nicht verfügbarer Arzneimittel, Aut-idem, Packungsgrößen, Wirkstoffgleichheit oder Vorgaben im Betäubungsmittelrecht – die „Corona-Krise“ eröffnet Jens Spahn und seinem Ministerium ungeahnte Möglichkeiten: Ohne dass der Bundestag darüber entscheiden oder der Bundesrat dazu sein Placet geben müsste, können Spahn und das BMG jetzt einseitig Vorschriften des Apothekengesetzes, der Apothekenbetriebsordnung, des ­Sozialgesetzbuchs (SGB V) oder des geltenden ­Betäubungsmittelrechts streichen, ändern oder ergänzen. Einzige Voraussetzung der jüngst in Kraft gesetzten SARS-Cov-2-Arzneimittelversorgungsverordnung: Die neue Regelung muss nach Selbsteinschätzung des Bundesgesundheitsministeriums zur ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, Betäubungsmitteln, Medizinprodukten oder apothekenüblichen Waren erforderlich sein. Im apothekenrechtlichen Fokus stehen dabei u. a. Regularien zur Zusammenarbeit von Apotheken und Ärzten, zur Apothekenleitung, zum Personaleinsatz, zur Beaufsichtigung des Personals, zu den Räumlichkeiten, zur Herstellung und Prüfung, zur Qualität von Ausgangsstoffen und Behältnissen, zum Erwerb von Arzneimitteln sowie zur Dokumentation. Man reibt sich die Augen und wundert sich, was in der Apothekenpraxis plötzlich alles möglich sein darf. Von einem Tag auf den anderen werden ohne weitere Diskussion Sachverhalte neu bewertet und geregelt, über die zuvor monate-, ja jahrelang ergebnislos gerungen worden war. Kaum ein Tag, an dem das BMG und sein Minister nicht „Eil-Verordnungen“ oder Anordnungen nach dem Infektionsschutzgesetz erlassen. Die Verordnungsmaschinerie läuft wie geölt. „Corona“ bietet Spahn die Chance, sich als Macher und Krisenmanager zu profilieren – und seine Maßnahmen stoßen (nicht nur bei Friedemann Schmidt und der ABDA) ja auch weitgehend auf Zustimmung.

Also alles paletti? Nicht ganz: Mit dem neu geschaffenen notstandsähnlichen Rechtskonstrukt der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ erhält Jens Spahn im novellierten Infektionsschutzgesetz Vollmachten und Befugnisse, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellos sind: Sie führen nicht nur zu gravierenden Grundrechtseingriffen, die vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen wären, sondern übertragen auch auf verfassungsrechtlich fragile Art und Weise Entscheidungskompetenzen der Länder auf ein Bundesministerium. Vor allem aber stellen die Globalermächtigungen im Infektionsschutzgesetz den Parlamentsvorbehalt und die Gesetzesbindung der Exekutive zur Disposition. Das Infektionsschutzgesetz erlaubt es dem Gesundheitsminister nämlich, durch Rechtsverordnungen von den Regelungen zentraler gesundheitsrechtlicher Gesetze (Arzneimittelgesetz, Apothekengesetz, Betäubungsmittelgesetz) abzuweichen. Und von dieser Befugnis „gesetzesvertretenden Verordnungsrechts“ hat Spahn inzwischen intensiv Gebrauch gemacht (s. S. 9). Der parlamentarischen Kontrolle sind diese ministeriellen Notverordnungen vollständig entzogen. Dass dies nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich angreifbar ist, liegt auf der Hand, auch wenn sich zurzeit immer noch eher das irrige Credo „Not kennt kein Gebot“ in den Köpfen der öffentlichen (und veröffentlichten) Meinung festzusetzen scheint. Dabei sind die Vorgaben des Grundgesetzes und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unmissverständlich: Entscheidungen über die Grenzen grundrechtlicher Freiheiten dürfen nicht einseitig in das Ermessen von Verwaltung, Regierung und Ministerien gestellt werden. Vielmehr müssen wesentliche, d. h. grundrechtsrelevante Leitentscheidungen vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber (Bundestag/Bundesrat) getroffen werden. Seiner diesbezüglichen politischen Verantwortung darf sich ein Parlament nicht entziehen.

All diese Verfassungspfeiler bringt das „neue“ Infektionsschutzgesetz mit seinen unbestimmten Generalklauseln und Ermächtigungen mächtig ins Wanken.

Dass Krisen die „Stunde der Exekutive“ sind, mag zutreffen, und unbestritten ist, dass die Gefährlichkeit des Corona-Virus den Gesetzgeber auch zu einschneidenden Maßnahmen legitimiert. Konsens sollte aber auch darin bestehen, dass jeder Eingriff in Grundrechte einer plausiblen Begründung bedarf und verhältnismäßig sein muss. Im Windschatten der Corona-Krise darf es nicht zu einer Demontage rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien kommen. Hier müssen wir wachsam sein. Es gibt auch eine „Zeit nach Corona“.

Christian Rotta

 

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