Arzneimittel und Therapie

„Keine generelle abendliche Einnahme von Antihypertensiva!“

Experten warnen vor gefährlichen Empfehlungen spanischer Hypertonie-Studien

Seit einiger Zeit werden sogenannte chronotherapeutische Studien aus Spanien zur Behandlung der Hypertonie in Laien- und Fachkreisen diskutiert [1 – 3]. Aus den Ergebnissen dieser Studien wird die Behandlungsempfehlung abgeleitet, dass alle Antihyperten­siva einschließlich Kombinationstherapien verschiedener Substanzen generell abends eingenommen werden sollten – unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit und ohne Berücksichtigung des nächt­lichen Blut­druckes. Das wollen die Autoren dieses Gastbeitrags nicht unkommentiert lassen.

Schon ein Blick auf die Studiendesigns der diskutierten Studien offenbart ­deren Fragwürdigkeit. In der Hygia Chronotherapy Trial (s. DAZ 2019, Nr. 44, S. 30) wurden unbehandelte (43%) und behandelte Hypertoniker (57% von insgesamt 19.084 Patienten) mit einem initialen Tagesmittelwert von 136/81 mmHg und einem Nachtmittelwert von 123/70 mmHg betrachtet. Die Blutdruckwerte der Studienteilnehmer wurden mithilfe einer Langzeitmessung über 48 Stunden ermittelt – anstatt der international üblichen Bestimmung über 24 Stunden (s. Kasten „Kritikpunkte an der Hygia-Studie“).

Kritikpunkte an der Hygia-Studie

Die Ergebnisse der Hygia-Studie und deren potenzielle Relevanz für die klini­sche Praxis müssen vor dem Hintergrund folgender schwerwiegender Defizite der Studie sehr kritisch betrachtet werden:

  • Der Schweregrad der Hypertonie ist nicht bekannt.
  • Es erfolgte keine Differenzierung und getrennte Auswertung der unbe­handelten und behandelten Patienten.
  • Der ungewöhnlich hohe Anteil von „Non-Dippern“ erklärt sich zum Teil aus der fragwürdigen Kalkulation anhand einer 48-Stunden-Messung.
  • Die Anwendbarkeit und Umsetzung einer 48-Stunden-Messung im allgemeinärztlichen Kontext der Primärversorgung in der Hygia-Studie ist ebenfalls fragwürdig. International üblich ist die 24-Stunden-Blutdruckmessung nach festgelegten Kriterien (Anzahl der Messungen tags/nachts, Messzeitraum). Für die wesentlich belastendere 48-Stunden-Messung gibt es keine allgemein anerkannten Kriterien, sogenannte Normwerte liegen nicht vor.
  • Es erfolgte keine differenzierte Behandlung nach „Dipping“-Status.
  • Die Kriterien für die 1 : 1-Randomisierung sind nicht nachvollziehbar: Im Prüfplan wird nicht näher definiert, wie die Patienten dem jeweiligen Studienarm zugeordnet wurden [2].
  • Es fehlt die Beschreibung der Endpunkt­evaluation im offenen Studiendesign.

Im Studienverlauf sollte jeweils die Hälfte der Patienten alle Antihypertensiva entweder nur abends oder nur morgens einnehmen.

Wenn man berücksichtigt, dass die Normgrenze für den Tagesmittelwert und das Einschlusskriterium für die Teilnahme an der Hygia-Studie bei 135/85 mmHg liegt, kann es sich bei den unbehandelten Patienten nur um Menschen mit einem hochnormalen Blutdruck oder einer nur milden (Grad 1) Hypertonie handeln. Bei den behandelten Hypertonikern muss der Blutdruck wiederum sehr scharf eingestellt gewesen sein. Eine Differenzierung der beiden Kollektive (unbehandelt vs. behandelt) wird in der Hygia-Studie nicht präsentiert.

Foto: Kevin Carden – stock.adobe.com

Morgens oder abends? Wann die Einnahme von Antihypertensiva am sinnvollsten ist, muss patientenindividuell entschieden werden.

Sehr viele „Non-Dipper“

Bei diesen (niedrigen) Tagesmittel­werten zu Beginn der Studie verwundert der berichtete hohe Anteil (49%) von Patienten mit unzureichender Nachtabsenkung („Non-Dipping“) nicht, wenn das übliche Kriterium einer Nachtabsenkung von > 10% zugrunde gelegt wird. Je niedriger der Tagesblutdruck, umso geringer ist auch die Nachtabsenkung. Streng genommen gilt diese Kalkulation des „Dipping-Status“ zur Charakterisierung der Hypertonieform und des Risi­kos auch nur für nicht behandelte Hypertoniker: Denn eine deutliche Senkung bzw. Normalisierung eines erhöhten Blutdruckes am Tage mit einer üblicherweise morgendlichen Dosierung wird automatisch die Tag-Nacht-Differenz vermindern.

„Over-Dipping“ nicht untersucht

Auf der anderen Seite ist eine überschießende Nachtabsenkung des Blutdruckes („Over-Dipping“ oder „Extreme-Dipping“) in epidemiologischen Untersuchungen gut beschrieben und ist mit einem erhöhten Ischämierisiko bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit [4] und insbesondere im höheren Alter [5, 6] verbunden. Stumme zerebrale Ischämien und retinale Perfusionsstörungen können als Folge eines „Extreme-Dippings“ (> 20%) bzw. einer zu starken Blutdrucksenkung in der Nacht auftreten [7, 8]. In der Hygia-Studie wird diese Dipping-Form gar nicht beschrieben.

Unter morgendlicher oder abendlicher Therapie im Parallelgruppenvergleich lag der Anteil der „Non-Dipper“ in der Hygia-Studie bei morgendlicher Gabe bei 50% und bei abendlicher Gabe bei 37%. Somit stellt sich die Frage, inwieweit bei diesen Kollektiven überhaupt eine Aussage über ein „Non-Dipping“-Verhalten für die Prognose von Be­deutung ist.

Die Mapec-Studie und die Hygia-Studie im Überblick

In die Mapec-Studie wurden insgesamt 2156 spanische Patienten mit erhöhten Blutdruckwerten (≥ 135/85 mmHg tagsüber oder ≥ 120/70 mmHg während der Nachtruhe) eingeschlossen [1]. 1380 Studienteilnehmer hatten zuvor keine antihypertensive Therapie erhalten, 776 Probanden waren bereits zuvor mit Blutdrucksenkern behandelt worden. Nicht vorbehandelte Patienten wurden zufällig einem von zwei Monotherapie-Regimen zugeteilt: Die Einnahme der nach Ermessen des behandelnden Arztes verordneten antihypertensiven Therapie erfolgte entweder morgens nach dem Aufstehen oder abends vor dem Zubettgehen. Die Randomisierung der vorbehandelten Patienten folgte einem anderen Schema: Bei einem Teil der Probanden wurde die Therapie unter Beibehaltung der morgendlichen Einnahme angepasst. Dabei wurde ein antihypertensiver Wirkstoff durch einen anderen ersetzt. Bei den anderen vorbehandelten Patienten wurde die Therapie nicht verändert. Sie sollten lediglich einen der verordneten Blutdrucksenker abends einnehmen. Nach der Randomisierung durften die behandelnden Ärzte die Therapie weiter anpassen und / oder die Einnahme nach und nach auf einen abendlichen Zeitpunkt legen. Am Ende der Studie nahmen 1084 Patienten ihre gesamte Medikation morgens ein, 1072 Patienten ­nahmen mindestens einen der Blutdrucksenker zur Nacht. Die mediane Beobachtungsdauer betrug 5,6 Jahre. In der Gruppe der Patienten, die die Medikation (zum Teil) abends einnahm, war der Anteil der „Non-Dipper“ am Ende der Studie niedriger als in der Gruppe mit morgendlicher Einnahme (34% vs. 62%), der Anteil an Patienten mit kontrolliertem ambulantem Blutdruck war höher (62% vs. 53%). Die Studienautoren ermittelten ein geringeres relatives Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei abendlicher Einnahme von mindestens einem Antihypertensivum im Vergleich zur morgendlichen Einnahme der gesamten Medikation (0,39; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,29 bis 0,51).

In der Hygia-Studie wurden insgesamt 19.084 spanische Patienten mit Bluthochdruck im Verhältnis 1 : 1 randomisiert [3]. 9552 Probanden nahmen ihre gesamte antihypertensive Medikation zur Nacht ein, 9532 nach dem Aufwachen. Die Wahl der blutdrucksenkenden Therapie lag beim behandelnden Arzt. Die medi­ane Beobachtungsdauer betrug 6,3 Jahre. Die ambulante Blutdruckmessung über 48 Stunden ergab, dass der Anteil an „Non-Dippern“ bei den Patienten, die ihre Medikation zur Nacht einnahmen, geringer war als bei Patienten, die ihre Therapie nach dem Aufwachen applizierten (37% vs. 50%). Kardiovaskuläre Ereignisse traten bei abendlicher Einnahme seltener auf als bei morgendlicher Einnahme: Die adjustierte Hazard Ratio betrug 0,55 (95%-KI 0,50 bis 0,61).

Studien zur Kombinations­therapie fehlen

Zahlreiche chronopharmakologische Studien mit verschiedenen Antihypertensiva sind bereits in den 1990er-­Jahren im Cross-over-Vergleich (morgens vs. abends) durchgeführt worden – und dies sowohl bei „Dippern“ als auch bei „Non-Dippern“ [9]. Hieraus konnten wichtige Erkenntnisse zur unterschiedlichen Wirkung verschiedener Substanzgruppen in Abhängigkeit der tageszeitlichen Dosierung ­gewonnen werden. So führte insbesondere die abendliche Gabe von Calciumantagonisten bei „Non-Dippern“ zu einer Normalisierung der Nacht­absenkung. In dieser Hinsicht waren Calciumantagonisten anderen Substanzen überlegen. Auf der anderen Seite können Angio­tensin-Converting-Enzym(ACE)-Hemmer bei „Dippern“ abends gegeben einen verstärkten nächtlichen Blutdruckabfall bewirken und so das Risiko eines Schlaganfalls erhöhen.

Es konnte gezeigt werden, dass verschiedene Gruppen von Antihypertensiva, wenn sie separat (als Monotherapie) untersucht wurden, unterschiedlich bei „Dippern“ bzw. „Non-Dippern“ am Tag oder in der Nacht wirken können. Leider liegen solche vergleichenden Cross-over-Studien zu Kombi­nationstherapien mit verschiedenen Antihypertensiva nicht vor.

Riskante Schlussfolgerungen

Nichtsdestotrotz empfehlen die spanischen Autoren aufgrund ihrer Studienergebnisse, dass alle Antihypertensiva auch in Kombination nur abends verordnet werden sollten. Sie begründen dies mit den Hygia-Ergebnissen, die im Mittel weniger Nebenwirkungen bei abendlicher Gabe gegenüber der morgendlichen Einnahme und ein redu­ziertes kardiovaskuläres Risiko zeigten. Diese Empfehlung negiert jedoch völlig die eindeutigen Risiken einer verstärkten nächtlichen Druck­absenkung, die bei einzelnen Hochdruckpatienten insbesondere unter Kombinationstherapien auftreten können. Dies gilt insbesondere für Hypertoniker mit einer überschießenden Nachtabsenkung („Over-Dipper“).

Die unkritische Propagierung der abendlichen Einnahme von Blutdrucksenkern in den Laienmedien und sogar in einigen medizinischen Zeitschriften hat viele Patienten und Ärzte verunsichert und führt in der Praxis zu erheblichen Problemen.

Die Hygia-Studie und die 2010 publizierte Mapec-Studie werden inzwischen von internationalen Experten sehr kritisch bewertet. Fragwürdig ist auch das Publikationsverhalten der spanischen Autoren und der entsprechenden Zeitschriften. So wurden die Daten aus den Studien mehr oder weniger in verschiedenen Variationen nach ähnlichem Muster mehrfach publiziert, was wissenschaftlich nicht akzep­tabel ist.

Während in der Veröffentlichung zur Mapec-Studie empfohlen wurde, bei antihypertensiver Kombinationstherapie mindestens eine Substanz abends zu dosieren, wird in der Publikation zur Hygia-Studie nun empfohlen, alle Antihypertensiva einschließlich der Kombinationstherapie abends einzunehmen. Die Studien entbehren der wissenschaftlichen Begründung dieses Vorgehens und können nicht als Empfehlung für eine generelle abendliche Einnahme aller Antihypertensiva für alle Patienten akzeptiert werden. Dieses Vorgehen ist offensichtlich unsinnig und gefährdet viele Patienten – unter anderem durch (stumme) nächtliche Ischämien.

Abendliche Gabe nur nach Langzeitmessung

Wenn man die Ergebnisse der Studien tatsächlich ernst nehmen würde, bräuchten wir auch keine ambulante Langzeitmessung mehr über 24 Stunden (bzw. 48 Stunden) zur individuellen Beurteilung der zirkadianen Rhythmik und der individuellen Nachtabsenkung. Die Absurdität ist offen­sichtlich: Ein entscheidender Vorteil der Langzeitblutdruckmessung ist die Möglichkeit einer Anpassung an das individuelle Blutdruckprofil des jeweiligen Patienten. Eine generelle Empfehlung einer Gabe der Antihypertensiva zu einer vorbestimmten Uhrzeit beraubt die Langzeitmessung einer ihrer größten Stärken, nämlich der personalisierten Dosierung. Einer abendlichen Gabe von Antihypertensiva muss immer eine Langzeitmessung vorausgehen, um eine zu starke nächtliche Blutdrucksenkung und therapiebedingte nächtliche Ischämien zu verhindern. Auf der anderen Seite kann der Nachweis einer prognostisch ungünstigen nächtlichen Hypertonie eine zusätz­liche abendliche Einnahme von Antihypertensiva indi­zieren [10]. |

Literatur

 [1] Hermida RC et al. Influence of circadian time of hypertension treatment on cardiovasccular risk: Results of the MAPEC study. Chronobiol Int 2010;27(8):1629-1651

 [2] Hermida RC et al. Sleep-time ambulatory blood pressure as a prognostic marker of vascular and other risks and therapeutic target for prevention by hypertension chronotherapy: Rationale and design of the Hygia Project. Chronobiol Int 2016;33(7):906-936

 [3] Hermida RC et al. Bedtime hypertension treatment improves cardiovascular risk reduction: the Hygia Chronotherapy Trial. Eur Heart J 2019; doi:10.1093/eurheartj/ehz754

 [4] Pierdomenico D et al. Circadian blood pressure changes and myocardial ischemia in hypertensive patients with coronary artery disease. J Am Coll Cardiol 1998;31(7):1627-1634

 [5] Suzuki Y et al. Prognostic value of nighttime blood pressure in the elderly: a prospective study of 24-hour blood pressure. Hypertens Res 2000;23(4): 323-330

 [6] Pierdomenico SD et al. Circadian blood pressure changes and cardiovascular risk in elderly-treated hypertensive patients. Hypertens Res 2016;39(11): 805-811

 [7] Kario K et al. Nocturnal fall of blood pressure and silent cerebrovascular damage in elderly hypertensive patients. Hypertension 1996;27(1):130–135

 [8] Pillunat KR et al. Nocturnal blood pressure in primary open-angle glaucoma. Acta Ophthamol 2015;93(8):e621-6

 [9] Lemmer B. Chronobiology and chronopharmacology of hypertension: importance of timing of dosing. In: White WB, ed. Blood Pressure Monitoring in Cardiovascular Medicine and Therapeutics. 2nd ed. Totowa, New York: Humana Press 2007;410-435

[10] Middeke M. Supplement: Perspektiven der Kardiologie. Antihypertensive Chronotherapie: Beachtung der „inneren Uhr“Dtsch Arztebl 2017;114(45):26-28

Prof. Dr. med. Martin Middeke, Hypertoniezentrum München (HZM)

Prof. em. Dr. med. Dr. h.c. Björn Lemmer, Ehemaliger Direktor des Instituts für Pharmakologie & Toxikologie, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg

Prof. Dr. med. Reinhold Kreutz, President of the European Society of Hypertension, 
Charité – Universitätsmedizin Berlin

Prof. Dr. med. Joachim Schrader, Medizinische Klinik St.-Josefs-Hospital ­Cloppenburg

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