DAZ-Spezial COVID-19

„Notfallvorsorge ist immer unpopulär, außer im Notfall selbst“

Krisenmanagement liegt in der Verantwortung eines jeden Apothekenleiters

eda | Seit Anfang dieser Woche sind fast alle deutschen Bundesländer von der Coronaviren-Epidemie betroffen. Die infizierten und erkrankten Personen stehen unter häuslicher Quarantäne bzw. werden medizinisch betreut. Der weitaus größere Teil der Bevölkerung muss sich damit auseinandersetzen, welche Gefahren tatsächlich drohen und wie man am besten vorsorgt.

In ähnlicher Situation befinden sich die rund 19.000 Apotheken in Deutschland. Sven Seißelberg und Dr. Frederik Vongehr, beide Apotheker, beschäftigen sich innerhalb der DPhG mit dem Thema Notfall- und Katastrophenpharmazie und gehören zum Vorstand der gleichnamigen Arbeitsgemeinschaft. Im Gespräch mit der DAZ beurteilen sie das aktuelle Krisenmanagement und stellen klar, was in Zukunft unbedingt besser laufen muss.

DAZ: Wieso sprechen wir im Zusammenhang mit den südostasiatischen Sars-CoV-19-Viren immer noch nicht von einer Pandemie?

Seißelberg: Eine klare Abgrenzung zwischen Epidemie und Pandemie ist kaum mehr möglich. Aktuell haben wir weltweit mehrere epidemische Ausbrüche, allerdings zeigt die Entwicklung in Norditalien, dass eine Ausbreitung schneller gehen kann als wir es persönlich erwartet haben. Die Lage wird sich also auch in den nächsten Tagen je nach Erkenntnissen noch mehrmals verändern.

DAZ: Und was würde sich dann durch den Pandemiestatus um uns herum verändern?

Vongehr: Nach Ausrufung der Pandemie ist das Bundesgesundheitsministerium berechtigt, spezielle Verordnungen beispielsweise im Hinblick auf Kostenübernahmen oder Meldepflichten zu erlassen. Im Rahmen der pandemischen Influenza im Jahr 2009 wurde der WHO vorgeworfen, zu früh die Pandemie ausgerufen zu haben. Vielleicht spielt dies bei der aktuellen Betrachtung eine Rolle.

„Definitiv sollten die Standesvertretungen deutlich offensiver und viel aktiver in das Thema einsteigen.“

Sven Seißelberg

DAZ: Was empfehlen Sie angesichts der Sars-CoV-19-Krise den Apotheken in Deutschland?

Seißelberg: Zunächst: Keine Panik und kein unüberlegtes Handeln! Wie wir bereits in der DAZ 2019, Nr. 22, S. 50, erläutert haben, gilt es einen Überblick über die Lage zu gewinnen, verlässliche Informationsquellen zu identifizieren und für sich selbst in die Risikoanalyse einzusteigen. Schließlich muss jeder Apothekenleiter – zugeschnitten auf seinen Betrieb – überlegen, welche Probleme auftreten können und wie sehr diese den eigenen Geschäftsbetrieb tangieren. Diese Überlegungen sind aus unserer Sicht vollkommen unabhängig davon, ob wir noch von einer Epidemie oder doch bereits von einer Pandemie sprechen.

DAZ: Sie regen ja immer wieder an, das Thema Notfall- und Katastrophenvorsorge in die QM-Systeme der Apotheken aufzunehmen. Warum stellen Sie den Apotheken hierfür keine Vorlagen zur Verfügung?

Seißelberg: Seien wir mal ehrlich, wir wissen doch alle um den Umgang mit Vorlagen im Rahmen des QMS. Gerne werden die Vorlagen ohne Adaption auf die spezifischen Gegebenheiten auf die eigene Apotheke ins Handbuch aufgenommen und stehen dann im Schrank. Dies wird dem Thema allerdings nicht gerecht, denn hier ist neben der Grundertüchtigung der Apotheken auch immer sehr kurzfristig auf die aktuelle Lage zu reagieren. Lassen Sie uns das Beispiel des Ausbruchs in Norditalien nehmen. Welche Apotheke meinen Sie, hatte vor zwei Wochen eher konkreten Handlungs­bedarf: Eine Apotheke in Bayern oder eine in Schleswig-Holstein?

DAZ: Wahrscheinlich die Apotheke in Bayern?

Seißelberg: Falsch! Beide sind betroffen. Handlungsbedarf hatten im Hinblick auf die Vorgänge in Norditalien sowohl die Apotheken in Schleswig-Holstein, als auch die Apotheken in Bayern – aber in unterschiedlicher Ausgestaltung. Während in Bayern eine konkrete Gefährdungslage durch infizierte Patienten höher einzuschätzen war und man konkrete Schutzmaßnahmen der eigenen Mitarbeiter vorsehen musste, konnte sich die Apotheke in Schleswig-Holstein darauf beschränken, das Apothekenteam im Hinblick auf Information und Beratung der Kunden respektive Erkennung von Erkrankten zu schulen. Der lokale Sars-CoV-19-Ausbruch im Kreis Heinsberg in NRW nach den Karnevalstagen zeigt, dass dann plötzlich die Apotheken und Gesundheitseinrichtungen in einer ganz anderen ­Region betroffen sein können.

„Die Apotheken können mit einer guten Vorbereitung aus solchen Lagen als Leuchttürme des gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes hervorgehen.“

Dr. Frederik Vongehr

DAZ: Sie sprachen von der Grundertüchtigung der Apotheke, heißt das konkret, Vorräte anzulegen, um dem drohenden Lieferausfall wegen der Produktion in China vorzubeugen?

Vongehr: Das Thema Arzneimittellieferengpässe ist durch die Produktionsausfälle in Südostasien sehr präsent. Im Falle einer Pandemie würde sich die Situation sogar verschärfen, selbst dann, wenn die Produktion innerhalb der EU oder sogar in Deutschland stattfindet, da einerseits die Produzenten auch Personalausfälle haben werden und andererseits davon auszugehen ist, dass die Logistik massiv beeinträchtigt sein wird. Aus unserer Sicht obliegt es somit insbesondere der Politik, sich Gedanken über die Bevorratung von essentiellen Arzneimitteln zu machen. Dies kann jedoch nicht ohne finanziellen Ausgleich auf die Apotheken abgewälzt werden. Hier mangelt es allerdings seit Jahren an konkreten Projekten, um dies sicherzustellen. Das Thema der Notfallvorsorge ist immer höchst unpopulär, außer im Notfall selbst. Doch dann ist es schon zu spät und man kann nur noch symptomatisch reagieren.

DAZ: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn spricht schon davon, auch deutsche Orte unter Umständen ab­zuriegeln. Was passiert dann mit den Apotheken?

Vongehr: Neben der Herausforderung, die Regelversorgung sicherzustellen, werden sich die Menschen im direkten Umkreis der Apotheken mit Notfallvorräten ausstatten wollen, so wie es vereinzelt ja jetzt schon läuft. Die Abriegelung einzelner Regionen ist nur eines der denkbaren Szenarien. Aktuell ist aber noch völlig unklar, inwieweit die Versorgung dann beispielsweise durch Hilfsorganisationen unterstützt werden könnte.

Foto: imago images/photothek

DAZ: Welche Aufgaben und Herausforderungen sind zu bewältigen?

Seißelberg: Betrachten wir als erstes die Apotheke selbst. Was benötigt man, um den Betrieb aufrechtzuhalten? An erster Stelle natürlich das Personal, dann Arzneimittel und Medizinprodukte, aber auch Strom, Wasser, Heizung und Kommunikationsmittel. Diese Liste ist beliebig fortzusetzen und entsprechend sind die Aufgaben zu priorisieren. Wenn einzelne Mitarbeiter außerhalb der Sperrzone wohnen, ist zu klären, wie und wo sie untergebracht und verpflegt werden können. Weitere Mitarbeiter kommen unter Umständen nicht mehr in die Sperrzone und erreichen somit die Apotheke nicht mehr. Wie stellt man dann den Betrieb sicher? Oder denken Sie einmal an den pharmazeutischen Großhandel: Wird dieser im Sperrgebiet ausliefern dürfen?

DAZ: Muss sich die Apotheke denn immer alleine mit diesen Herausforderungen auseinandersetzen?

Vongehr: Man sollte in solchen Lagen immer bereichsübergreifend denken. Zwischen den Offizin- und den Krankenhausapotheken könnten beispielsweise Therapiemöglichkeiten anhand der noch verfügbaren Arzneimittelbestände abgestimmt werden. Daher möchten wir appellieren, dass sich die Standesorganisationen aktiv in die bevorstehenden Planungen einbringen und den Stellenwert der Apotheken in dieser Situation verdeutlichen. In einigen Landeskatastrophenschutz­gesetzen sind unsere Kammern ausdrücklich erwähnt und zur Mitwirkung verpflichtet. Die Umsetzung dessen ist jedoch ausbaufähig. Die Vor-Ort-Apotheken können mit einer guten Vorbereitung aus solchen Lagen als Leuchttürme des gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes hervorgehen.

DAZ: Sie sagen, dass es keine Konzepte gibt. Es gibt aber doch den Nationalen Pandemieplan. Wäre damit nicht alles geregelt?

Vongehr: Der Nationale Pandemieplan (NPP) ist mit dem Stand von 2017 verfügbar. Ausgelöst durch Vorbereitungen auf eine bevorstehende Influenza-Pandemie wurde dieser Plan 2005 erstmalig erstellt. Es wird ein sehr starker Fokus auf die konkreten Maßnahmen der Influenza-Pandemie gelegt, so sind als Arzneimittel nur Tamiflu® und Relenza® genannt. Weiterhin widmet man sich sehr stark verschiedenen Impfkonzepten, was für unser aktuelles Geschehen leider noch irrelevant ist.

DAZ: Welche konkrete Bedeutung hat der NPP für die Apotheken in der aktuellen Lage?

Seißelberg: Suchen Sie im NPP mal das Wort „Apotheke“. Im Pandemieplan finden sich keine konkreten Regelungen bezogen auf Apotheken, sondern es wird vielmehr auf allgemeine Regelungen verwiesen. Das heißt jedoch nicht, dass man den Plan links liegen lassen kann, denn vielmehr kann er dazu dienen, Wissen zu einzelnen Themen aufzuarbeiten. Beispielsweise wird das Thema Risiko- und Krisenkommunikation sehr gut dargestellt. Ferner ist relevant, dass der NPP auch ergänzt wird durch die Pandemiepläne der Bundesländer. Hier ist spezifisch für die eigene Apotheke zu prüfen, welche Rolle einem selbst im Pandemieplan des jeweiligen Bundeslandes eingeräumt wird, vielleicht sogar welche Pflichten man hat.

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In den öffentlichen Medien hört man im Zusammenhang mit den Apotheken immer wieder Begriffe wie „Überversorgung“, „zu hohe Apothekendichte“ oder „Gesundschrumpfung“. Dabei wird stets übersehen, dass sich die Aufgaben der öffentlichen Apotheken nicht nur auf den Regelfall beschränken. Denn § 1 des Apothekengesetzes regelt, dass die Apotheken die ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu übernehmen haben. Diese Vorgabe kann heute schon im Normalbetrieb eine Herausforderung darstellen. Wie aber kann die Versorgung gelingen, wenn der Strom ausfällt, die Lieferwege abgeschnitten sind oder ein großer Personalausfall durch eine Pandemie eingetreten ist? In der DAZ 2019, Nr. 22, S. 50, haben wir dem Thema ­einen Schwerpunkt gewidmet.

DAZ: Wie bewerten Sie die Rolle der Standesvertretungen in diesem Zusammenhang: Sollten die Länderkammern und -verbände viel offensiver und aktiver mit der Situation in Deutschland umgehen? Oder wäre eine zentrale, bundesweite Strategie für alle Apotheken, initiiert von der ABDA, viel eher wünschenswert?

Seißelberg: Definitiv sollten die Standesvertretungen deutlich offensiver und viel aktiver in das Thema einsteigen. Wenn man bedenkt, dass der Weltapothekerverband FIP bereits Anfang Februar umfangreiche Dokumente für die Apotheker bereitgestellt hat und erst in der vergangenen Woche Informationen der ABDA und einzelner Kammern bekannt wurden, zeigt dies, dass Optimierungspotenzial vorhanden ist. Wünschenswert wäre natürlich eine zentrale Steuerung, allerdings befinden wir uns im Bereich des Katastrophenschutzes auf der Ebene der Bundesländer. Es bleibt daher dabei, dass hier intensive Arbeit auf Landesebene durchgeführt werden muss. Die Landesapothekerkammern sind in der Pflicht. An dieser Stelle sei auch der Hinweis gestattet, dass derzeit wieder einmal nur situativ agiert wird. Von einem strategischen Handeln sind wir noch weit entfernt. Wir sollten endlich für die Zukunft lernen, denn nach der Pandemie ist bekanntlich vor der Pandemie.

 

DAZ: Seit Wochen werden in den Apotheken vermehrt Atemmasken, Schutzkleidung sowie Desinfektionsmittel nachgefragt. Gibt es eine Möglichkeit diesen Engpässen vorzubeugen? Also beispielsweise frühzeitig die Abgabe und den Verkauf einzustellen?

Vongehr: Eine Kontingentierung von diesen Produkten kann nie die Aufgabe der Apotheken sein. Hier ist vielmehr der Gesetzgeber gefordert, entsprechende Notfallvorräte aufzubauen und diese dann unter reglementierten Bedingungen an die betroffenen Personengruppen abzugeben. Man muss aktuell ganz klar feststellen, dass die Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten von Bund und ­Ländern für solche Fälle absolut un­zureichend ist.

 

DAZ: Beim Thema Flächen- und Händedesinfektionsmittel wäre es ja prinzipiell denkbar, dass die Apotheken beginnen, solche Produkte selbst herzustellen. Doch seit drei Jahren müssen Betriebe, die Isopropanol zur Flächendesinfektion herstellen möchten, eine Zulassung beantragen, die gemäß Chemikalien-Kostenverordnung rund 14.300 Euro kosten würde. Müsste es Ihrer Meinung nach nicht Ausnahmen für den Katastrophenfall geben?

Seißelberg: Definitiv müssen hierfür Regelungen gefunden werden. Es ist doch wirklich eine skurrile Situation, dass die WHO Empfehlungen für die Herstellung von Desinfektionsmitteln herausgegeben hat, die u. a. in Entwicklungsländern kurzfristig herstellbar sind, wir in Deutschland jedoch das pharmazeutische Know-how nicht nutzen können, da uns durch die Biozid-Verordnung die Hände gebunden sind. Diese Regelung zeigt deutlich, dass man genau solche Fragen frühzeitig in einer umfassenden Planung beantworten muss. Aktuell können wir den Apotheken nur raten, sich zeitnah an die zuständige Aufsichtsbehörde zu wenden und sich dort über die aktuellen Regelungen zu informieren.

DAZ: Vielen Dank für das Gespräch. |

 

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