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Klinische Pharmazie

Was andere denken

Theory of Mind – die wissenschaftliche Grundlage von Kommunikation und Kooperation

Es gibt eine Reihe von Wissenschaften, die in die Klinische Pharmazie einfließen. Dazu gehören die Psychologie und die Kognitionswissenschaften, deren Konzept der Theory of Mind (ToM) den Rahmen darstellt, innerhalb dessen eine optimale Kommunikation und Kooperation zwischen Menschen stattfindet. Am Beispiel von Gesprächen einer Apothekerin mit einem Patienten werden in diesem Beitrag die kognitiven Prozesse erklärt, die im präfrontalen Cortex der Beteiligten ablaufen, um die Gedanken des Gegenübers zu erfassen und das eigene Verhalten daran anzupassen. | Von Markus Zieglmeier und Claudia Büttner

Theory of Mind (ToM) – was ist das eigentlich?

Die Psychologie und die Kognitionswissenschaften verstehen unter ToM die Fähigkeit, eine Einschätzung von Bewusstseinsvorgängen anderer Menschen vorzunehmen, und zwar in Bezug auf deren Gefühle, Denkstrukturen, Meinungen und Absichten. Dies ist die Voraussetzung für eine optimierte Kommunikation (Vermeidung eines „aneinander-vorbei-Redens“) und Kooperation – Menschen kooperieren umso besser miteinander, je ähnlicher ihre subjektive Wahrnehmung der Realität ist.

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Von Paradigmen und Realitätstunneln
In den Wissenschaften wird die Summe aller Modelle, die das gemeinsame Weltbild prägen, als Paradigma bezeichnet. Der Psychologe Timothy Leary prägte sehr bildhaft den Begriff des Realitätstunnels: Die Wände des Tunnels, in dem eine Person (oder eine Gruppe) steht, definieren die Grenzen ihrer Wahrnehmung. Menschen, die in unterschiedlichen Realitätstunneln leben, tun sich schwer, effizient arbeitende Teams zu bilden, weil sie die Denkstrukturen des jeweiligen Kooperationspartners nicht erfassen und nachvollziehen können. Autisten sind Menschen, denen die Fähigkeit zur ToM ganz oder weitgehend fehlt, und damit auch die Fähigkeit zur Kooperation mit anderen Menschen.

Zwischen Empathie und Kognition
ToM lässt sich in einen affektiven und einen kognitiven Teil unterteilen. Ein Synonym für affektive ToM ist Empathie, das Erkennen und Verstehen der Emotionen anderer. Affektive ToM lässt uns bei traurigen Filmszenen weinen, und das trotz des Wissens, dass der Schauspieler, den wir auf der Leinwand sehen, keineswegs stirbt, sondern sich nach dem Wort „Schnitt!“ unverzüglich und putzmunter aus dem Totenbett erhebt. Kognitive ToM ist das Schlussfolgern auf die Absichten des Gegenübers und lässt sich z. B. bei geübten Schachspielern beobachten, die anhand des Studiums früherer Partien ihres Gegners auf die Züge schließen, die er bei einer bestimmten Konstellation der Figuren auf dem Brett in Erwägung ziehen wird.

Evolutionspsychologische Bedeutung
ToM hat evolutions- und entwicklungspsychologische Aspekte. Anthropologen gehen davon aus, dass das Größenwachstum des Gehirns von Hominiden bis zu seiner heutigen Größe zum Großteil der Zunahme der Fähigkeit geschuldet ist, die Einschätzungen, Gefühle, Überzeugungen und Handlungsabsichten anderer Hominiden zu erkennen. Dies schuf die Voraussetzung zu einer fein abgestimmten Koordination von Handlungsabläufen innerhalb einer Gruppe von Menschen, zunächst bei einer gemeinsamen Jagd, später jedoch auch bei weitaus komplexeren Aufgaben. Die so entstehende, im Tierreich einzigartig hoch entwickelte Fähigkeit zur Kooperation überwog letztlich den evolutionären Nachteil eines großen Kopfes, der jede Geburt zu einem Risiko für Mutter und Kind machte, und legte den Grundstein dafür, dass der Mensch heute die den Planeten dominierende (und verändernde) Spezies ist.

Entwicklungpsychologische Bedeutung
Entwicklungspsychologisch lässt sich durch False-Belief-Tests zeigen, dass sich ToM im Laufe der frühen Kindheit entwickelt: Man zeigt z. B. einem Kind einen Film mit folgendem Inhalt: Ein Mädchen spielt mit einem Ball, legt diesen dann in eine rote Kiste und verlässt den Raum. Die Mutter des Mädchens betritt den Raum, entnimmt den Ball der roten Kiste und legt ihn in einen Schrank. Kurz darauf kommt das Mädchen wieder herein. An dieser Stelle wird der Film angehalten und das zuschauende Kind gefragt, wo das Mädchen den Ball wohl suchen wird. Kinder, die jünger als etwa vier Jahre sind, geben hier meist den Schrank an, denn sie wissen ja, dass dort der Ball tatsächlich liegt. Die Erkenntnis, dass das Mädchen im Film das nicht weiß, dass also verschiedene Menschen mit verschiedenen Annahmen leben, ist bei Kindern in diesem Alter noch nicht ausgeprägt. Erst mit etwa vier Jahren entwickelt sich ToM als Fähigkeit, zwischen dem eigenen Bewusstsein und dem anderer Menschen zu unterscheiden, und damit die Erkenntnis, dass das Mädchen im Film den Raum in der falschen Annahme betritt, der Ball sei noch in der roten Kiste.

Erster Schritt ohne gesichertes Wissen
Das zunächst verwirrende Wort Theory deutet an, dass wir unsere Annahme über das Denken und Fühlen anderer im ersten Schritt ohne jedes gesicherte Wissen darüber treffen. Das hat zur Folge, dass wir im Laufe des Gesprächs möglicherweise Korrekturen vornehmen müssen. Diese Tatsache entwertet die ToM keineswegs, da die Situation des Einstiegs in einen Dialog einerseits immer von mangelnder objektiver Information geprägt ist und andererseits das gilt, was Goethe mit einem Aphorismus auf den Punkt gebracht hat: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“

Bei dem folgenden Beispiel handelt es sich nicht um eine (kostenpflichtige) Medikationsanalyse, sondern lediglich um die Bearbeitung eines Rezepts und des dazugehörigen Medikationsplans auf hohem klinisch-pharmazeutischem Niveau.

Ein korpulenter, gut gekleideter, etwa 60-jähriger Patient mit leicht gerötetem Gesicht betritt die Apotheke und legt einer jungen Apothekerin Rezepte und folgenden Medikationsplan vor:

  • ASS 100 mg 1-0-0
  • Clopidogrel 75 mg 1-0-0
  • Bisoprolol 2,5 mg 0-0-1
  • Ramipril 5 mg 1-0-0
  • ISDN 40 mg ret. 1-0-1
  • Citalopram 20 mg 1-0-0

Das Gespräch

Es entwickelt sich folgender Dialog:

Apothekerin: „Guten Tag, vielen Dank (nimmt die Rezepte entgegen, kurze Pause, während sie sie überfliegt) – seit wann haben Sie den Stent?“

Patient (stutzt, was die Apothekerin aus den Augenwinkeln zur Kenntnis nimmt, kurze Pause): „Die Stents. Es sind zwei. Seit zwei Wochen, da hatte ich den Herzanfall. Aber Herzbeschwerden hatte ich vorher schon immer wieder.“

Apothekerin: „Aber jetzt sind Sie beschwerdefrei?“

Patient: „Seit dem Herzkatheter schon.“

Apothekerin: „Dann stellt sich die Frage, ob Sie das ISDN noch brauchen. Ich nehme an, das nehmen Sie seit Beginn der Herzbeschwerden?“

Patient: „Das stimmt. Wie kommen Sie darauf?“

Apothekerin: „Es gibt eine Leitlinie für die koronare Herzerkrankung. Das ist eine Auswertung aller verwertbaren Studien zu diesem Krankheitsbild und mehr oder weniger die Grundlage Ihrer ganzen Behandlung. Darin steht zum Beispiel, dass das Ramipril, das Bisoprolol, das Simvastatin und das ASS bewiesen haben, dass sie Ihr Leben verlängern. Natürlich nur, wenn Sie sie korrekt einnehmen. Nitrate wie ISDN können das nicht, lindern aber die Symptome der Durchblutungsstörung. Wenn Sie aufgrund der Stents keine Beschwerden mehr haben, brauchen Sie das ISDN vielleicht nicht mehr. Dafür sollten Sie aber ein Nitrat zum Sprühen immer bei sich haben, für den Fall von erneut auftretenden akuten Herzbeschwerden. Haben Sie das?“

Patient: „Nein, das hat mir niemand gesagt. Und wie haben Sie das mit den Stents erraten?“

Apothekerin: „Auch durch die Leitlinie, das ist kein Hexenwerk. Die Kombination von ASS und Clopidogrel wird etwa ein halbes Jahr nach dem Einsetzen eines Stents gegeben, um einem Verschluss durch verklumpende Blutplättchen vorzubeugen. Wir nennen das duale Plättchenhemmung.“

Zwischenzeitlich sind die Rezepte eingelesen. Nach einem Klick auf das blinkende Interaktions-Icon auf dem Bildschirm fährt die Apothekerin fort: „Bei Ihnen ist die Hemmung der Blutplättchen allerdings dreifach, weil auch das Citalopram hier einen Einfluss hat. Wir werden das Blutungsrisiko im Auge behalten müssen. Vielleicht ist es sinnvoll, Ihnen für die nächsten Monate einen Säureblocker als Magenschutz zu geben. Wir müssen nur daran denken, den auch zusammen mit dem Clopidogrel wieder abzusetzen. Wenn Sie wollen, kann ich das auch mit Ihrem Hausarzt besprechen.“

Patient: „Sehr gerne. Wozu raten Sie mir sonst noch?“

Apothekerin: „Im Herbst zu einer Grippeimpfung. Schwere Erkältungen sollte man als Herzpatient soweit es geht vermeiden.“

Patient: „… sagt die Leitlinie?“

Apothekerin: „Genau. Wenn ich das mal zusammenfassen darf: Ich finde heraus, ob der Doktor das ISDN durch ein Nitrospray ersetzen will, ob er Ihnen wegen des Blutungs­risikos einen Säureblocker als Magenschutz verschreiben will und wie es mit einer Grippeimpfung aussieht. Dann melden wir uns bei Ihnen.“

Die erste Begegnung – blitzschnelle Einstufung

Die erste Begegnung zweier Menschen setzt im präfrontalen Cortex (und einigen weiteren Hirnregionen) der Beteiligten kognitive Prozesse in Gang, die meist unbewusst erfolgen und dazu dienen, das Gegenüber einzuschätzen. Die Evolution unserer Spezies hat dafür gesorgt, dass diese Vorgänge blitzschnell ablaufen, nämlich zunächst innerhalb von ca. 100 Millisekunden – wer als Hominide zu lange brauchte, um einen Neuankömmling als gefährlich einzustufen, hatte geringere Chancen, die Begegnung zu überleben und seine Gene noch an die nächste Generation weiterzugeben. Die Festigung und gegebenenfalls Korrektur des ersten Eindrucks erfolgt innerhalb von zehn Sekunden, die Bestätigung und endgültige Festigung in zehn Minuten [1]. Der Beitrag der Zivilisation bestand darin, dass wir heute neben Körperbau, Haltung und Gesichtsausdruck die Kleidung und die ersten gesprochenen Sätze in die Bewertung einbeziehen. Entscheidend ist aber immer noch, dass diese Bewertung innerhalb sehr kurzer Zeit abläuft. Nicht umsonst heißt es, dass es für den ersten Eindruck keine zweite Chance gibt. Auch wenn wir „Schubladendenken“ gerne kritisieren, können wir nicht leugnen, dass wir Menschen, denen wir begegnen, in Kategorien einteilen, unser Verhalten daran anpassen, dabei jedoch vor allem innerhalb der ersten zehn Minuten des Kontakts immer wieder nachjustieren.

Manche Menschen, insbesondere erfahrene Verkäufer und Verhandler, beherrschen ToM meisterhaft, ohne sich die zugrundeliegenden Mechanismen jemals bewusst zu machen. Anfängern in der Kunst der professionellen Kommunikation hilft ein kognitions- und kommunikationswissenschaft­licher Ansatz als Basis für ToM-Übungen oft weiter.

Mit Wissen überzeugen

Jede junge Kollegin kennt das Problem, dass bestimmte (oft männliche) Kunden auf den ersten Blick dazu neigen, sie aufgrund ihres jugendlichen Aussehens zu unterschätzen. Diesen Nachteil hat sie gegenüber dem älteren männlichen Kollegen – und zwar auch dann, wenn sie besser ausgebildet ist als er. Sie muss sich in dieser Situation bewusst sein, dass die Zeit, die sich ihr Gesprächspartner zum Revidieren des ersten (optischen) Eindrucks nimmt, sehr begrenzt ist.

Die junge Apothekerin in unserem Beispiel nutzt gezielt ihre Kenntnis der KHK-Leitlinie, um zunächst vom Medikationsplan auf die Erkrankung und den Stand der Therapie (Zustand nach Stentimplantation) zu schließen [2]. Im zweiten Schritt konfrontiert sie den Patienten mit ihrem Wissen auf eine Weise, die ihn überrascht. Dies löst beim Patienten zunächst eine Verunsicherung aus, die in die Erkenntnis mündet, dass sein erster Blick (zumal wenn er dem Klischee „jung, klein, blond“ entsprach) zu einer Fehleinschätzung der fachlichen Kompetenz seines Gegenübers geführt hat. Dies wird zwei Sätze später noch dadurch bestärkt, dass sie den Sinn eines Arzneimittels, an dem die Apotheke ja verdienen würde, infrage stellt – die alte Weisheit „Abraten bindet Kunden“. Damit gewinnt sie eine Autorität und Glaubwürdigkeit, die es ihr ermöglicht, zusätzliche Empfehlungen auszusprechen, die in diesem Fall auch auf der KHK-Leitlinie basieren, nämlich das schnellwirksame Nitrat und die Grippeimpfung. Hinzu kommt der Protonenpumpenhemmer zur Prophylaxe gastrointestinaler Blutungen, zu dem sie gleich die zeitliche Befristung anmerkt.

Wichtig ist, dass sie die Ergebnisse des Gesprächs am Ende zusammenfasst. Untersuchungen zeigen, dass bei der Kommunikation mit Patienten vor allem die ersten und die letzten Sätze in der Erinnerung hängenbleiben. Dies wird als Primacy- und Recency-Effekt bezeichnet [1].

Mit Blickkontakt Wertschätzung vermitteln

Der Dialog hat auch einen körpersprachlichen Aspekt. Dieser besteht z. B. in der Frage, wohin der Blick der Apothekerin während der Kommunikation der Interaktionsmeldungen (erhöhtes Blutungsrisiko durch die Kombination von ASS, Clopidogrel und dem SSRI) gerichtet ist. Spricht die Apothekerin mit dem Bildschirm, während der Patient daneben steht, kann dies den Eindruck der Kompetenz wieder abschwächen. Entscheidend ist hier, die Information des ­Interaktionsmoduls schnell zu erfassen und in den eigenen Worten dem Kunden zugewandt zu kommunizieren. Ein ­solides Hintergrundwissen zu Interaktionen, wie es z. B. mit einem System von Lernkarten geübt werden kann, ist hier von Vorteil (s. Kasten zum „Interaktionstrainer“) [3]. Im vorliegenden Fall wird die Interaktionsmeldung auf eine kurze und griffige Weise („dreifache Plättchenhemmung“) kommuniziert.

Fit für den Interaktionscheck

Interaktionen spielen eine zentrale Rolle, wenn es um die sichere Anwendung von Arzneimitteln geht. Mit trainiertem Blick erkennen Sie kritische Kombinationen und leiten die notwendigen Maßnahmen ein. Alle Fallbeispiele folgen einer einheitlichen Struktur:

  • Ein Rezept zieht Sie in den Fall hinein.
  • Der Mechanismus der Interaktion aktiviert Ihr Wissen.
  • Die klinische Relevanz ordnet die Folgen für den Patienten ein.
  • Das mögliche Vorgehen in der Praxis liefert konkrete Handlungsvorschläge.
  • Mit Theoriekarten zum Nachschlagen und Lernen.
  • Im Handumdrehen fit für den Interaktions-Check!

Von Elisabeth Pfister/Anna Lunzner

Interaktionstrainer

150 Karteikarten. Theorie und Fälle aus der Praxis

Karteikasten 5 farb. Abb., 6 farb. Tab., 54 Einzelkarten, 100 Doppelkarten, 10,5 × 14,8 cm, ISBN 978-3-7692-5539-3, Deutscher Apotheker Verlag, 2018

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Blickkontakt vermittelt Wertschätzung. Das angesprochene Hirnareal ist der Gyrus cinguli, ein Teil des limbischen Systems. Hier werden die emotionalen Bewertungen des Gesprächs vorgenommen. Nur eine positive emotionale Bewertung ist eine geeignete Basis für den kognitiven Teil der Botschaft, also für das Akzeptieren und Umsetzen der Beratungsinhalte. Kurz gesagt: Hier wird über Adhärenz oder Non-Adhärenz entschieden.

Kommunikation mit dem Arzt

Auch beim folgenden Gespräch mit dem Arzt spielt ToM eine große Rolle. Versetzt man sich als Apotheker in die Denkstrukturen eines praktischen Arztes, erkennt man zunächst, dass jeder spontane Telefonanruf eine Störung der Praxis­abläufe darstellt. Ein Hausarzt hat, will er seine Praxis (kosten-)effizient führen, nur einige Minuten für jeden Patienten. Innerhalb dieser Zeit muss er aus dem Gespräch die relevanten Informationen herausfiltern, verarbeiten und in eine Therapie umsetzen. In manchen Fällen kommt eine körperliche Untersuchung dazu. Diese enge Taktung erfordert ein erhebliches Maß an Konzentration, die durch jede Unterbrechung empfindlich gestört wird. Der spontane Anruf, der dem Patienten nützt, der gerade in der Apotheke steht, kann dem Patienten schaden, der gerade im Behandlungszimmer sitzt. Diese Tatsache prägt den „Realitätstunnel“ des Arztes, und zwar unabhängig von seiner Qualifikation und seiner Persönlichkeitsstruktur.

Die junge Apothekerin wird also im vorliegenden Fall zunächst ein Telefonat mit der medizinischen Fachangestellten (früher: Sprechstundenhilfe) führen, in dem sie einen Rückruf vereinbart. Sie wird darauf achten, dass schon in diesem Gespräch die Worte „Interaktion“ (nicht: „Wechselwirkung“!) und „Blutungsrisiko“ fallen, im späteren Gespräch mit dem Arzt natürlich auch das Wort „Leitlinie“. Eine Grundregel solcher Gespräche ist, dass bereits im ersten Satz mehrere Worte aus der gemeinsamen medizinischen Terminologie (z. B. PPI statt Säureblocker) untergebracht werden, und zwar insbesondere dann, wenn man sich noch nicht kennt. Damit wird – auch und gerade am Telefon – von Anfang an klargestellt, dass man sich auf Augenhöhe befindet. Die Erfahrung zeigt, dass es Apothekern oft schwerfällt, von der allgemeinverständlichen Sprache, derer man sich im Kundengespräch bedient, auf die Fachsprache mit dem Arzt umzuschalten – besonders dann, wenn es im Studium nicht geübt wird, obwohl das Fach Klinische Pharmazie diese Gelegenheit bieten sollte (s. a. Kasten „Wie die Ärzte ticken“).

Wie die Ärzte ticken

Es ist für jeden Apotheker von Vorteil, ein möglichst genaues Bild von den Qualifikationen, Überzeugungen, Bedürfnissen und emotionalen Befindlichkeiten der einzelnen Ärzte in seiner Umgebung zu haben. In den meisten Fällen spielen bei der Entwicklung dieses Bildes Erfahrungen aus früheren Gesprächskontakten eine tragende Rolle. Dies bedeutet aber lediglich, dass eine Einschätzung darüber vorliegt, wie groß die Übereinstimmung (im mathematischen Sinne die „Schnittmenge“) der Realitätswahrnehmungen von Arzt und Apotheker ist – eine ausgesprochen subjektive Vorgehensweise. Objektiver ist die Einschätzung des Arztes anhand seiner Verschreibungen. Allerdings erfordert es eine hohe klinisch-pharmazeutische Qualifikation und Leitlinienkenntnis, eine solche Einschätzung vorzunehmen. Sie sei hier an zwei einfachen, aber sehr unterschiedlichen Beispielen wiedergegeben:

  • Enthalten die Verschreibungen eines Gastroenterologen einen hohen Anteil monoklonaler Antikörper wie Adalimumab oder (seltener) Infliximab? Diese teuren Substanzen, die von den Kostenträgern nicht bei jedem beliebigen Arzt übernommen werden, stehen ganz am Ende der leitliniengerechten Therapieoptionen bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED). Der Arzt ist in hohem Maße spezialisiert, die Apotheke tut gut daran, sich mit den Leitlinien der CED vertraut zu ­machen und für dieses spezielle Klientel Konzepte zu entwickeln.
  • Enthalten die Praxisbedarf-Anforderungen eines Orthopäden regelmäßig parenterales Phenylbutazon und Lokalanästhetika-Ampullen in großer Zahl? Das begründet die Annahme, dass dieser Arzt mehrere Jahrzehnte hinter dem Stand der Wissenschaft steht. Die Leitlinien distanzieren sich heute vehement von Infiltrationen des Musculus psoas mit Lokalanästhetika beim unspezifischen Kreuzschmerz, weil davon eine erhebliche Patientengefährdung ausgeht (aber leider halt auch ein erheblicher Placeboeffekt). Infiltrationen sind zwar nicht vollkommen obsolet, aber aufgrund ihrer Risiken Ausnahmefällen vorbehalten. Und es gibt kaum eine Fachinformation, die eindringlicher vor dem beschriebenen Produkt warnt, als die von parenteralem Phenylbutazon. Hier stellt sich in Abhängigkeit von den Persönlichkeitsstrukturen die Frage, ob eine an den Arzt gerichtete Arzneimittelinformation überhaupt Sinn macht. Nebenbei bemerkt: Hausärzte sind vollkommen ausreichend qualifiziert zur Behandlung eines „Hexenschusses“ und kennen meist auch die Leitlinie dazu.
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Wer einen Schritt weiter gehen will, kann sich mit der Frage befassen, inwieweit sich die Daten der Rezeptabrechnungsstellen für Einblicke in ärztliche Denk- und Verhaltensstrukturen nutzen lassen. Jede Apotheke bekommt diese Daten zur Ver­fügung gestellt, kaum eine arbeitet damit. Dabei ist kaum ein Tool geeigneter dafür, Verschreibungsgewohnheiten auszuwerten und zu durchschauen. Unabhängig davon kann man sich mit solchen Auswertungen auch schnell einen Überblick über die Verordnungshäufigkeit bestimmter Arzneistoffe verschaffen – eine Grundlage für den effizienteren Erwerb von Beratungswissen z. B. zur korrekten Einnahme. Dieses Wissen kann man dann dem Kunden vermitteln, ohne für eine Recherche in der ABDA-Datenbank den Blickkontakt abbrechen zu müssen. Eine solche Vorgehensweise folgt dem Pareto-Prinzip: Aufgrund der Häufigkeitsverteilung von Ursachen und Wirkungen lassen sich ca. 80% der Ergebnisse mit ca. 20% des Gesamtaufwands erreichen.

Es gibt Unternehmen, die den Apotheken (v. a. in Wohngebieten) Daten über die Alters-, Sozial- und Einkommensstruktur in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet zur Verfügung stellen. Mindestens ebenso interessant, für große Center-Apotheken mit großem Einzugsgebiet sogar noch viel interessanter, ist (salopp formuliert) die Frage „Wie ticken eigentlich die Ärzte, von denen meine Rezepte stammen?“. Mit einer soliden Leitlinienkenntnis und einer guten Datenauswertung lässt sich das herausfinden.

Die hohe Kunst des klinisch-pharmazeutischen ToM

Die Details der Gesprächsführung richten sich nach mehreren Kriterien, allen voran der Frage, ob man sich bereits kennt (und schätzt) oder nicht. Im Vorfeld stellt sich auch die Frage, wie man den Kenntnisstand des Arztes einschätzt. Die hohe Kunst der klinisch-pharmazeutischen ToM besteht darin, gedanklich nachzuvollziehen, was sich der, der den Medikationsplan erstellt hat, dabei gedacht hat. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Grundlage der Denkstrukturen, in diesem Fall der KHK-Leitlinie. Ohne diese gemeinsame Grundlage ist das Nachvollziehen ärztlicher Entscheidungsfindung nicht möglich, so wie jede ToM-basierte Kooperation zwischen Menschen einer gemeinsamen Grundlage der Realitätswahrnehmung („Realitätstunnel“) bedarf. Im vorliegenden Fall ist das relativ unkompliziert, da man es (abgesehen von einer Depression oder Angststörung, der Indikation für Citalopram) mit nur einer Erkrankung und einer Leitlinie als gemeinsame Basis zu tun hat. Die KHK-Leitlinie ist in weiten Teilen korrekt umgesetzt, ACE-Hemmer, Betablocker, Statin und die duale Plättchenhemmung (ASS/Clopidogrel) werden gegeben. Das führt zu den Fragen:

  • Kennt der Hausarzt die Leitlinie oder setzt er lediglich die Vorgabe der Klinik (Entlassmedikation laut Arztbrief) um?
  • Wie kommt das ISDN als retardiertes Nitrat anstelle eines schnellwirksamen Nitrats (Spray) in den Medikationsplan? Ausgedrückt in der Systematik der Fehlerkategorien nach Reason bedeutet das die Frage, ob es sich um einen wissensbasierten Fehler (knowlege-based) oder einen Flüchtigkeitsfehler bzw. Ausrutscher (slip) in der Hektik des Praxisalltags handelt [4].

Ungeachtet der Antwort, zu der sie selbst kommt, wird die junge Kollegin im Gespräch von einem Flüchtigkeitsfehler sprechen – einen wissensbasierten Fehler offen zu unter­stellen, ist schlicht undiplomatisch.

ToM bei Polymedikation und Medikationsanalyse

Die Frage, was sich der Verordner bei der Erstellung des Medikationsplans gedacht hat, ist bei multimorbiden Patienten und Polymedikationen ungleich schwieriger zu beantworten. Mit zunehmender Zahl der Erkrankungen ist immer schwerer zu erkennen, ob die Leitlinien (die gemeinsame Basis der Denkstrukturen) durch den Verordner ignoriert (wissensbasierter Fehler) oder in sinnvoller Weise modifiziert werden (vgl. „Paradigmenwechsel in der Geriatrie“, DAZ 2015, Nr. 10, S. 64).

Noch immer gibt es viele Ärzte, die Leitlinien weitgehend ignorieren und ihre Therapie so machen, wie (und weil) sie sie immer schon so gemacht haben. Dieses Problem löst sich allerdings in zunehmendem Maße durch Verrentung. Die evidenzbasierte Medizin ist heute Bestandteil der Ausbildung aller Mediziner, im Studium wie in der Facharztausbildung. In der Geriatrie kommt allerdings die Problematik der Multimorbidität hinzu, die es mit sich bringt, dass mehrere Leitlinien auf den Patienten anzuwenden sind, die miteinander kollidieren und durch die resultierende Polymedikation Nebenwirkungen erzeugen können, die ihrerseits zu Ursachen für Verschreibungskaskaden werden. Auf den ersten Blick ist kaum zu unterscheiden, ob ein Arzt Leitlinien ignoriert oder in sinnvoller Weise modifiziert. Der zweite Blick, die Auswertung mehrerer weiterer Rezepte und Medikationspläne desselben Arztes, zeigt gravierende Unterschiede zwischen den Stufen eins und drei der Entwicklung ärztlicher Entscheidungsfindung (s. Abb. 1). Sie zeigen sich insbesondere in der Verwendung (Stufe eins) oder weitest­gehender Meidung (Stufe drei) von Substanzen, die sich in der PRISCUS- oder Beers-Liste finden. Neben diesem ersten Indikator kann auch die Suche nach möglichen Verschreibungskaskaden (z. B. Calciumkanalblocker, Knöchelödeme, Schleifendiuretika, …) in den Medikationsplänen des Arztes herangezogen werden. Die FORTA-Liste, das bislang beste Werkzeug zur Optimierung der Arzneimitteltherapie multimorbider geriatrischer Patienten, beruht teilweise auf einem von dem israelischen Geriater Doron Garfinkel vorgestellten Algorithmus, der auch eine Frage nach Nebenwirkungen und möglichen Verschreibungskaskaden beinhaltet [5, 6]. Die Zahl der praktischen Ärzte, die bei geriatrischen Patienten konsequent nach FORTA arbeiten, ist derzeit allerdings noch sehr überschaubar.

Abb. 1: Entwicklungsstufen ärztlicher Entscheidungsfindung. Die Unterscheidung der Leitlinienkenntnis auf den Stufen 1 und 3 anhand von Medikationsplänen ist problematisch, da sich auf beiden Stufen zunächst nur eine Abweichung von Leitlinien feststellen lässt. In der Geriatrie lassen sich allerdings, z. B. anhand des Einsatzes oder aber der strikten Meidung potenziell inadäquater Medikationen („PIM“ der PRISCUS- oder Beers-Liste), Unterscheidungskriterien finden.

Die Einordnung eines Arztes hinsichtlich seiner Leitlinienkompetenz in die „Schubladen“ eins bis drei ist jedoch nur eine der Grundlagen für die Entscheidung, wie die Apotheke die künftige Kommunikation mit ihm gestaltet. Hinzu kommen Erfahrungen aus früheren Arzt-Apotheker-Gesprächen. Dass sich Apotheker einer Apotheke (und ggf. deren Filialen) zusammensetzen, um sich strukturiert und selbstreflektiert (Fragestellung: Welches Verhalten meinerseits hat zu welchem Verhalten des Gesprächspartners geführt?) über die Erfahrungen mit einzelnen Ärzten auszutauschen, ist bisher kaum üblich.

ToM-Übungen für Pharmaziepraktikant(inn)en

ToM kann geübt werden. Legen Sie z. B. an einer für Kunden nicht einsehbaren Stelle einen Zettel mit drei Spalten an: Allopathie – Phytopharmaka – Homöopathie. Bei jedem Kunden, der die Apotheke betritt, versuchen Sie nun innerhalb der Zeit, die vom Eintreten bis zur verbalen Kontakt­aufnahme vergeht, zu erraten, welcher der drei Spalten das gewünschte Arzneimittel zuzuordnen sein wird. Sucht der Kunde ein offenes Beratungsgespräch (d. h. nennt er die Indikation statt des gewünschten Arzneimittels), fragen Sie die präferierte Therapierichtung ab. Notieren Sie das Ergebnis (wie oft Sie richtig lagen und bei welcher Therapierichtung dies am häufigsten der Fall war) und versuchen Sie zu reflektieren, an welchen Merkmalen des Kunden Sie ihre Prognose festgemacht haben.

Sie werden feststellen, dass Ihre Trefferquote mit der Zeit zunimmt und dass Sie lernen, Menschen genauer zu beobachten und einzuschätzen.

Wenn Sie diesen Schritt bewältigt haben, wenden Sie sich einer neuen Art von Gesprächspartner zu, nämlich den älteren Kollegen, mit denen Sie im dritten Staatsexamen konfrontiert sind. Fragestellung: „In welchem Realitätstunnel befinden sich eigentlich meine Prüfer?“ Solche Überlegungen (gegebenenfalls zusammen mit personenbezogenen Informationen wie z. B. frühere Publikationen) können durchaus helfen, bei einer Examensfrage die „Frage hinter der Frage“ zu detektieren und so zu verhindern, dass Sie am Prüfer vorbeireden.

Denken Sie sich ruhig weitere Übungen dieser Art aus. ToM setzt der Phantasie keine Grenzen. |

Literatur

[1] Busch V. Reden hilft! Kommuniziere ich erfolgreich mit meinen Patienten? Keynote-Vortrag PRAXISNAH-Kongress Berlin, 07.12.2018

[2] Bundesärztekammer. Nationale Versorgungsleitlinie chronische KHK. www.awmf.org

[3] Pfister E, Lunzner A. Interaktionstrainer. Deutscher Apotheker Verlag 2018

[4] Reason J. The Contribution of Latent Human Failures to the Breakdown of Complex Systems. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences. Band 327, Nr. 1241 (s. auch: Schweizer-Käse-Modell in Wikipedia)

[5] Kuhn-Thiel AM, Weiß C, Wehling M. Die Forta-Liste „Fit for The Aged“. Expert Consensus Validation, 2012

[6] Garfinkel D et al. The war against Polypharmacy: A New Cost-Effec­tive Geriatric-Palliative Approach for Improving Drug Therapy in Disabled Elderly People. IMAJ 2007;9:430-434

Autoren

Dr. Markus Zieglmeier, Apotheker, studierte Pharmazie an der LMU in München und ist seit 1989 in der Apotheke des Klinikums München-Bogenhausen tätig; Promotion zum Dr. rer. biol. hum.; Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Zusatzbezeichnungen: Medikationsmanager BA KlinPharm, Ernährungsberatung und Geriatrische Pharmazie. Seit 2002 ist er verstärkt als Referent und Autor tätig.

München-Klinik, Apotheke Klinikum Bogenhausen, Englschalkinger Str. 77, 81925 München, mzieglmeier@gmail.com

Dr. Claudia Sophia Büttner, Apothekerin und Business Excellence Managerin, studierte Pharmazie in Regensburg und absolvierte ein klinisch-pharmazeutisches Semester in Gainesville, Florida. Promotion zum Dr. rer. biol. hum. an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München (Prof. Möller / Prof. Rujescu). Sie ist zertifizierte Qualitätsmanagement-Auditorin (QMA) sowie Total Quality Management Coach (TQM) nach E.F.Q.M. Aus- und Weiterbildung im Bereich integrierte Management Systeme (IMS) und Management Excellence bei Prof. Fredmund Malik am Malik Management Zentrum in St. Gallen, Schweiz.

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