Arzneimittel und Therapie

Vitamin B₁₂ – ein zweischneidiges Schwert

Wasserlöslich bedeutet nicht automatisch unbedenklich

Bei der Sicherheit von Vitamin-Supplementen galt lange: Während man bei fettlöslichen Vertretern A, D, E und K möglichst nicht zu hoch dosieren sollte, um toxische Wirkungen zu vermeiden, schien das bei wasserlöslichen Vitaminen anders zu sein. Was zu viel ist, wird einfach wieder ausgeschieden – so die Hypothese.

Darauf, dass das bei verschiedenen B-Vitaminen anders sein könnte, gab es schon länger Hinweise [4, 7]. 2009 zeigte sich in zwei randomisiert-kon­trollierten Studien eine Assoziation zwischen der Anwendung von Vitamin-B12- bzw. Vitamin-B9(Folat)-Supplementen und einer erhöhten Inzidenz von Lungenkrebs [2]. Und erst 2017 zeigte die Auswertung der VITAL-Kohorte (Vitamins and Lifestyle Cohort Study) bei Männern ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko nach Vitamin-B6- und -B12-Supplementation [1].

Vor diesem Hintergrund wird in Fachkreisen schon länger vermutet, dass die hoch dosierte Anwendung von B-Vitaminen nicht ganz so risikoarm/-frei ist wie gedacht – erst recht nicht bei der Einnahme durch (Ex)Raucher. In einer aktuellen Studie wurde daher untersucht, ob diese Sorge vor einer tumorpromovierenden Wirkung hoch dosierter Vitamin-B12-Supplemente tatsächlich berechtigt ist [3].

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Zweischneidig. Vitamin-B12-Mangel ist häufig und muss ausgeglichen werden, doch eine hoch dosierte Vitamin-B12-Dauersubstitution kann das Lungenkrebsrisiko erhöhen.

Kausalzusammenhang erkennbar

Im Rahmen einer nested Case-Control-Studie, bei der Fälle und Kontrollen aus der Population einer Kohorten­studie ermittelt werden, wurden die Daten aus 20 prospektiven Kohortenstudien ausgewertet. Dazu wurde zunächst in 5.183 Blutproben die Vitamin-B12-Konzentration bestimmt. Parallel wurde eine Mendelsche Analyse der genetischen Daten von über 85.000 Probanden durchgeführt. Diese Analysenmethode erlaubt es, selbst aus nicht randomisierten epidemiologischen Daten kausale Zusammen­hänge abzuleiten („Quasi-Randomisierung“). Im konkreten Fall wurden dazu acht Mononukleotid-Polymorphismen (SNP) untersucht, die bekanntermaßen mit einem reduzierten Vitamin-B12-Spiegel im Blut assoziiert sind. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Konzentration an zirkulierendem Vitamin B12 und bestimmten Tumoren, dann sollte dieser Zusammenhang auch bei den Trägern der entsprechenden genetischen Polymorphismen sichtbar werden. Die Methode der Mendelschen Randomisierung erzeugt damit eine quasi-randomisierte, kontrollierte Datenbasis, was die Ergebnisse deutlich von rein deskriptiven, epidemio­logischen Assoziationsstudien unterscheidet.

Mehr Vitamin B12 – mehr Lungenkrebs

Tatsächlich zeigte die Auswertung der Studiendaten einen konzentrationsabhängigen Zusammenhang zwischen dem Vitamin-B12-Spiegel und dem Lungenkrebsrisiko. So ging eine Verdopplung der Vitamin-B12-Konzentration im Blut mit einer odds ratio von 1,15 (95% KI = 1,06 – 1,25) für Lungenkrebs einher. Dieser Zusammenhang wurde durch die Mendelsche Analyse bestätigt, sodass auch eine umgekehrte Kausalität („Lungenkrebs führt zu erhöhten Vitamin-B12-Spiegeln“) ausgeschlossen ist. Die Risikoerhöhung für Lungenkrebs war unabhängig vom Raucherstatus oder vom Geschlecht der Probanden.

Damit liefert diese Studie aufgrund der konsistenten, sich methodisch ergänzenden Daten eine aussagekräftige Bestätigung der Hypothese, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Vitamin-B12-Status und Lungenkrebs gibt.

Was heißt das für die Praxis?

Diese Studienergebnisse dürften für einige Verunsicherung sorgen, schließlich gelten B-Vitamine noch immer als praktisch überdosierungs­sicher. Erst Mitte Januar 2019 hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die Zufuhrempfehlung für Vitamin B12 von vorher 3 µg/d auf 4 µg/d (Jugendliche und Erwachsene) erhöht. Dass es im Kontext eines möglicherweise erhöhten Krebsrisikos jedoch um ganz andere Dosisbereiche geht, zeigen die Ergebnisse der VITAL-Kohorte: Bei den Anwendern von Vitamin B12 war die dauerhafte Einnahme von Vitamin B12 nur dann mit einem im Vergleich zu Nicht-Anwendern verdoppelten Lungenkrebsrisiko assoziiert, wenn die tägliche Dosis > 55 µg lag. Bei Rauchern war das Lungenkrebsrisiko in diesem Fall sogar drei- bis viermal so hoch wie bei Nicht-Anwendern [1].

Unklare Obergrenze

Dass diese Dosierungen damit erheblich über den DGE-Zufuhrempfehlungen liegen, kann aber nicht beruhigen, da auch in Deutschland entsprechend hoch dosierte Vitamin-B12-Supplemente weit verbreitet sind. Das BfR schlägt als zulässige Höchstmenge für Vitamin B12 in Nahrungsergänzungsmitteln 25 µg vor [8]; die EFSA hat für Vitamin B12 aktuell noch keine tolerable Obergrenze für die tägliche Zufuhr (upper intake level) definiert.

Unklarer Mechanismus

Ebenso unklar wie die Frage nach einer noch unbedenklichen („sicheren“) Dosisobergrenze für Vitamin B12 ist der Mechanismus, über den die hoch dosierte Supplementation das Krebsrisiko erhöhen könnte. Aufgrund ihrer Bedeutung im C1-Stoffwechsel ist die adäquate Versorgung mit B-Vitaminen essenziell für die korrekte Nukleotid-Synthese, die DNA-Reparatur und die Methylierungsregulation. Umgekehrt ist jedoch auch bekannt, dass die hoch dosierte Zufuhr von B-Vitaminen wie Folsäure oder eben Vitamin B12 zur Karzinogenese beitragen kann [6]. Vermutlich besitzen B-Vitamine nicht nur beim Kolorektalkarzinom, sondern auch bei Lungenkrebs eine zweischneidige Wirkung, die zeit- und vor allem dosisabhängig ist [5].

Fazit: Ohne Indikation kein hoch dosiertes Vitamin B12!

Die aktuellen Studienergebnisse sind methodisch sehr gut und bestätigen in quasi-randomisierter Analyse frühere Daten aus epidemiologischen Untersuchungen. Für Vitamin B12 liegt damit ein deutliches Risikosignal vor, das auf ein relevantes Gesundheits­risiko durch die hoch dosierte Anwendung hinweist. Bei diagnostiziertem Vitamin-B12-Mangel ist die zeitlich begrenzte, hoch dosierte Gabe vermutlich unbedenklich; Gleiches gilt für die primärpräventive Anwendung ernährungsüblicher Dosierungen (DGE-Zufuhrempfehlungen) bei Menschen mit erhöhtem Risiko für einen Vit­amin-B12-Mangel (z. B. Veganerinnen, Ältere, Patienten mit gastrointestinalen Erkrankungen).

Von der unspezifischen, dauerhaften Einnahme hoch dosierter Vitamin-B12-Supplemente, wie sie in unzähligen frei verkäuflichen Nahrungsergänzungsmitteln enthalten sind, sollte spätestens nach dieser Studie dringend abgeraten werden. |

Literatur

[1] Brasky TM et al. Long-Term, Supplemental, One-Carbon Metabolism-Related Vitamin B Use in Relation to Lung Cancer Risk in the Vitamins and Lifestyle (VITAL) Cohort. J Clin Oncol 2017; 10.1200/JCO.2017.72.7735.

[2] Ebbing M et al. Cancer incidence and mortality after treatment with folic acid and vitamin B12. JAMA 2009; 302(19):2119–2126.

[3] Fanidi A et al. Is high vitamin B12 status a cause of lung cancer? Int J Cancer 2018. doi: 10.1002/ijc.32033. [Epub ahead of print]

[4] Giovannucci E. Epidemiologic studies of folate and colorectal neoplasia: a review. J Nutr 2002; 132(8): 2350S–2355S.

[5] Kim YI. Folate: A magic bullet or a double edged sword for colorectal cancer preven­tion? Gut 2006; 55:1387–1389.

[6] Kok DEG et al. The effects of long-term daily folic acid and vitamin B12 supplementation on genome-wide DNA methylation in elderly subjects. Clin Epigenetics 2015; 7:121.

[7] Sanjoaquin MA et al. Folate intake and colorectal cancer risk: a meta-analytical approach. Int J Cancer 2005; 113(5):825–828.

[8] Weißenborn A et al. Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln. J Consum Prot Food Saf 2018;13:25–39.

Autor

Prof. Dr. rer. nat. Martin Smollich, Fachapotheker für Klinische Pharmazie, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ); Leiter der Arbeitsgruppe Pharmakonutrition am Institut für Ernährungsmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck; Herausgeber des Fachblogs Ernaehrungsmedizin.blog

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