Feuilleton

„Varia-Heiltrank“ darf es weiter geben

Vor 60 Jahren: Die Freiheiten der pharmazeutischen Hersteller

50 DM Geldstrafe oder zehn Tage Gefängnis – Wilhelm Pfaff will 1951 beides nicht akzeptieren. Der Kaufmann hätte die Herstellung und den Vertrieb seiner Heilkräutertinktur „Varia“ nach Ansicht des Amts­gerichts Esslingen längst einstellen müssen. Doch er hält das Urteil für unverhältnismäßig und vor allem verfassungswidrig. Also landet sein Fall in Karlsruhe. Die Verfassungsrichter folgen Pfaffs Argumentation und werten die Stoppverordnung von 1943 als nichtig. Damit ist die Herstellung von Fertigarzneimitteln schlagartig ungeregelt und die Länder, und später der Bund, beginnen mit einer eigenen Gesetzgebung.

Bevor das erste deutsche Arzneimittelgesetz von 1961 in Kraft trat, wurde das Arzneimittelwesen durch verschiedenste Rechtsvorschriften auf Bundes- und Landesebene geregelt, die insgesamt kaum noch zu überblicken, vor allem aber höchst umstritten waren. Juristische Auseinandersetzungen waren also vorprogrammiert, wenn es darum ging, die Apothekenpflicht zu konkretisieren oder zu definieren, inwiefern Arzneispezialitäten hergestellt und auf den Markt gebracht werden durften.

Im sogenannten Spalt-Tabletten-Fall bestätigte das Bundesverfassungsgericht am 7. Januar 1959 die Apothekenpflicht auf Grundlage der Kaiserlichen Verordnung vom 22. Oktober 1901 (s. DAZ 2019, Nr. 3, S. 64). Dagegen sorgte die Stoppverordnung von 1943 fast zeitgleich dafür, dass sich deutsche Gerichte mit der Frage beschäftigen mussten, welche Rechte und Pflichten (industrielle) Arzneimittelhersteller haben.

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Die industrielle Herstellung von Arzneifertigwaren trug zum Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland bei. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1959 war die Branche schlagartig unreguliert.

Bereits einen Tag nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit der Kaiserlichen Verordnung – also am 8. Januar 1959 – war es Zeit für den nächsten historischen Richterspruch im Arzneimittelwesen. Seit 1952 befasste sich das Karlsruher Gericht mit der sog. Stoppverordnung von 1943. Ausgangspunkt war erneut die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gerichtsurteil. Der württembergische Kaufmann Wilhelm Pfaff hatte ohne Genehmigung einen „Varia-Heiltrank“ vertrieben, der auf einer Heilkräutertinktur basierte und den er nach dem Rezept eines bereits auf dem Markt befindlichen Mittels hergestellt hatte. Hierfür war Pfaff vom Amtsgericht Esslingen 1951 erstinstanzlich zu einer Geldstrafe von 50 DM, ersatz­weise zehn Tage Gefängnis, verurteilt worden. Nachdem das Oberlandes­gericht Stuttgart die Revision am 25. April 1952 abgelehnt und die Gültigkeit der Stoppverordnung bejaht hatte, landete der Fall in Karlsruhe [1].

„Stoppverordnung“ von 1943

Pfaffs Beschwerde richtete sich gegen die Stoppverordnung, die am 11. Fe­bruar 1943 vom Ministerrat für die Reichsverteidigung erlassen worden war. Durch sie wurde die Herstellung neuer Arzneifertigwaren „mit sofortiger Wirkung verboten“. Das Verbot galt mithin weder für bereits eingeführte Arzneifertigwaren noch für Rezeptur und Defektur. Zudem sah die Stoppverordnung die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für die Herstellung neuer Arzneifertig­waren vor [2]. Auch wenn ein Runderlass des Reichsministers des Innern die Genehmigungsvoraussetzungen im Mai 1943 konkretisierte, blieb der Ermessensspielraum des Ministers prinzipiell unbegrenzt, zumal ein rechtlicher Anspruch auf Genehmigung nicht bestand [3].

Nach 1949 betrachteten die Behörden die Stoppverordnung als weiterhin gültig. Doch neben einem Kompetenzkonflikt zwischen Bund und Ländern schuf die uneinheitliche Durchführung bald neue administrative und rechtliche Probleme [4]. Gravierender waren aber verfassungsrechtliche Zweifel. Die FDP-Bundestagsfraktion erkannte in ihr Anfang 1951 eine „autoritäre Beschränkung“ des Grundrechtes auf freie Berufsausübung. Die gegenteilige Auffassung der Bundesregierung überzeugte die Kritiker nicht [5]. Im Gegenteil: Schon bald rollte eine Lawine an Gerichtsurteilen an, die die Stoppverordnung zum Teil verwarfen, zum Teil aber auch bestätigten [6]. Es kam daher wiederholt vor, dass sich Hersteller mit einer Gerichtsentscheidung im Rücken weigerten, Genehmigungen zu beantragen. Während daher manche Behörden von Maßnahmen absahen, griffen andere durch – so auch im Falle „Varia-Heiltrank“.

Stopp der Stoppverordnung

In seiner Beschwerde argumentierte der Kaufmann Pfaff, dass es sich bei der Stoppverordnung aufgrund des Erlasses durch den Ministerrat für die Reichsverteidigung um eine Kriegsverordnung handele, die auch nur für die Kriegsdauer Geltung beanspruchen könne. Im Übrigen verstoße sie aber auch gegen das in Artikel 12 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht auf freie Berufsausübung.

Wegen der anfänglichen Arbeitsüberlastung entschied das Bundesverfassungsgericht erst am 8. Januar 1959 über die Beschwerde. Die Richter folgten im Wesentlichen Pfaffs Argumentation. Sie werteten die Stoppverordnung als nichtig, weil sie gegen Artikel 12 des Grundgesetzes verstoße. Wie die Richter ausführten, beinhaltete die Verordnung ein grundsätzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Zwar seien solche Verbote im Rechtsstaat „ein zulässiges gesetzestechnisches Mittel“. Allerdings seien sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nur dann zu vereinen, wenn den Behörden in ihrer Entschlussfreiheit „hinreichende rechtliche Schranken“ gesetzt sind. Zudem müssen die Tatbestände, unter denen eine Genehmigung zu erteilen oder zu versagen ist, rechtlich normiert sein. Da die Verordnung die Entscheidung aber dem „völlig freien Ermessen“ der zuständigen Behörde überlasse und „das Mindestmaß an solchen normierten Tatbeständen“ fehle, verstoße sie „gegen die Grundsätze des Rechtsstaates“ [7].

Da mit dem Beschluss aus Karlsruhe die Herstellung von Arzneifertigwaren schlagartig ungeregelt war, führten die Länder (mit Ausnahme Nordrhein-Westfalens) auf dem Verordnungs­wege verpflichtende, aber teils sehr verschiedenartige Anmeldeverfahren für neue Arzneispezialitäten ein [8].

Das Arzneimittelgesetz von 1961

Als das Bundesverfassungsgericht Anfang 1959 seine Entscheidung traf, befand sich der Bundestag bereits mitten in den Arbeiten zu einem Arzneimittelgesetz. Nachdem das Gesetz nach intensiven Beratungen im Frühjahr 1961 verabschiedet und am 16. Mai 1961 ausgefertigt worden war, trat es ab dem 1. August 1961 schrittweise in Kraft [9].

Das Gesetz bedeutete insgesamt einen großen Fortschritt. Eine wichtige Neuerung war die zentrale Registrierung aller Arzneispezialitäten, die nunmehr das alleinige Erfordernis für die Markteinführung bildete. Doch für die Arzneimittelsicherheit bedeutete dies einen Rückschritt. Erfolgte unter der Stoppverordnung noch eine (wenn auch oberflächliche) Prüfung, die die Möglichkeit einer Nichtzulassung eröffnete, hatte die Registrierung nunmehr auch dann zu erfolgen, wenn das Präparat gesundheitlich bedenklich war. Eine Prüfung auf Verkehrsfähigkeit erfolgte somit nicht. Das entsprach dem wirtschaftsliberalen Zeitgeist, der auf die industrielle Eigenverantwortung setzte und den Pharmastandort Deutschland nach 1945 wieder zur „Apotheke der Welt“ machen sollte (DAZ 2018, Nr. 44, S. 57). Erst das zweite Arzneimittelgesetz von 1976 fokussierte wieder mehr den Sicherheitsaspekt, zog Lehren aus dem Contergan-Skandal (DAZ 2017, Nr. 49, S. 53) und führte erstmals ein Zulassungsverfahren ein. Die Beweislast liegt seitdem beim pharmazeutischen Hersteller: Er muss nachweisen, dass seine Mittel wirksam und unbedenklich sind. |

Literatur

[1] OLG Stuttgart, 25.4.1952, DAZ 1953, S. 928; Bundesarchiv, B 142/1432, Bl. 113-128.

[2] RGBl. 1943, Teil I, S. 99.

[3] RMBliV 1943, Sp. 865 (867-868).

[4] Bundesarchiv, B 142/1432.

[5] Deutscher Bundestag, Drucksachen I/1738, I/1866.

[6] Siehe etwa: DVBl. 1952, S. 697; PharmZ 1954, S. 1120; PharmZ 1955, S. 40; DVBl. 1956, S. 796.

[7] BVerfGE 9, S. 83. Die Verfahrensakten des BVerfG: Bundesarchiv, B 237/89737, 89738.

[8] Die Verordnungen sind aufgeführt in: § 65 AMG 1961.

[9] BGBl. 1961, Teil I, S. 533.

Autor

Dr. Niklas Lenhard-Schramm ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Arzneimittel­regulierung und der Medikamentenkonsum.

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