Arzneimittel und Therapie

Statine für Gesunde?

Primärpräventiver Nutzen scheint bei einem niedrigen kardiovaskulären Risiko gering zu sein

Statine wie Simvastatin, Atorva­statin oder Rosuvastatin haben im Rahmen der Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen in Deutschland einen hohen Stellenwert. Doch sie werden verstärkt auch zur Primärprävention ein­gesetzt. Ein Vorgehen, das in den USA etabliert, in Europa jedoch umstritten ist.

So verzichten die aktuellen US-Leit­linien auf LDL-Zielwerte und haben die Indikationen für Statine erweitert. Danach ist eine Hypercholesterolämie für eine Therapie mit Statinen nicht mehr zwingend notwendig. Stattdessen kann das statistische Risiko, in den nächsten zehn Jahren einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden, ausschlaggebend sein. Die Interventionsschwelle wurde deutlich he­rabgesetzt, eine Primärprävention mit Statinen wird in den USA bereits bei einem niedrigen Ausgangsrisiko (10-Jahres-Risiko von 7,5%) empfohlen. Das Risiko soll mithilfe von Online-Risiko-Rechnern ermittelt werden.

Mit dieser Strategie werden im Vergleich zur LDL-Zielwert-gesteuerten Therapie deutlich mehr Menschen einer medikamentösen Therapie zugeführt. Herzgesunde 40-Jährige können so, unabhängig vom Cholesterol-Wert, therapiebedürftig werden. Folglich nehmen derzeit mehr als ein Viertel aller US-Amerikaner, die älter als 40 Jahre sind, ein Statin zur kardiovaskulären Prävention ein.

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Herzgesund und ein Fall für Statine? Amerikanische Leitlinien empfehlen eine frühzeitige Intervention.

In Europa umstritten

Die aktuelle US-Empfehlung ist hoch umstritten, europäische Leitlinien folgen dem amerikanischen Modell nicht. Vielmehr empfehlen diese, das kardiovaskuläre Gesamtrisiko zu ermitteln und einen individuellen Zielwert für LDL-Cholesterol festzulegen, der sich nach den Komorbiditäten und dem 10-Jahres-Risiko für eine erste tödlich verlaufende kardiovaskuläre Erkrankung richtet. Viele Menschen sind mehreren Risikofaktoren aus­gesetzt, die zusammengenommen zu einem unerwartet hohen Gesamt­risiko führen können. Deshalb wird das kumulative Gesamtrisiko mithilfe eines Score-Systems geschätzt. Dabei gilt, je höher das Risiko, desto intensiver sollten die Maßnahmen zur Prävention eines kardiovaskulären Ereignisses sein. Den Ergebnissen einer aktuellen von Khunti et al. publizierten Studie zufolge kann der Behandlungserfolg durch vermehrten Einsatz hochintensiver Therapieformen verbessert werden.

Nutzen-Schaden-Abwägung

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Debatte hat eine Schweizer Forschungsgruppe um Henock Yebyo erstmalig eine quantitative Nutzen-Schaden-Abwägung für einzelne Sta­tine in der Primärprävention durchgeführt. In der Modellstudie wurden für herzgesunde Personen zwischen 40 und 75 Jahren alters- und geschlechtsabhängige 10-Jahres-Risikoschwellenwerte bestimmt. Sie geben an, wann der Nutzen einer Statin-Behandlung das potenzielle Risiko der Therapie übertrifft. Ein „Netto-Nutzen“ wurde für Risikoschwellenwerte gefunden, die deutlich höher lagen als die in den aktuellen amerikanischen Leitlinien zugrunde gelegten 7,5%. Abhängig von Alter und Geschlecht variierten die Werte zwischen 14 und 22%: Frauen und ältere Patienten profitierten erst bei höheren Risikoschwellenwerten.

Nicht alle Statine zeigten dabei das gleiche Nutzen-Risiko-Profil. Die für Atorvastatin und Rosuvastatin identifizierten Schwellenwerte waren niedriger als die für Simvastatin und Pravastatin. Dies deutet auf ein günstigeres Nutzen-Schaden-Verhältnis von Atorvastatin und Rosuvastatin hin.

Auf Grundlage dieser Ergebnisse stellt sich für die Autoren der Studie die Frage, ob mögliche Risiken einer Statin-Therapie in den entsprechenden Leitlinien ausreichend Beachtung fanden.

AHA: Statine sind sicher!

Ein ebenfalls im Dezember 2018 veröffentlichtes umfangreiches wissenschaftliches Statement der American Heart Association (AHA) gibt detaillierte Auskunft über die aktuelle Datenlage hinsichtlich der Sicherheit von Statinen und deren Nebenwirkungen. Hier ist zusammenfassend festgestellt worden, dass der Nutzen einer Statin-Therapie bei Patienten, die entsprechend der aktuellen US-amerikanischen Leitlinien (also ab einer Ereigniswahrscheinlichkeit von 7,5%) behandelt werden, die Risiken einer Therapie deutlich übertrifft.

Ungefährliche Myalgien stellen dabei die am häufigsten angegebenen klinisch relevanten Nebenwirkungen dar: Je höher die Dosis, desto höher das Risiko. Das Risiko für Statin-induzierte schwerwiegende Muskelschäden einschließlich Rhabdomyolyse liegt bei maximalen Dosierungen jedoch unter 0,1%, das Risiko für schwere Lebertoxizität beträgt ca. 0,001%. Das Risiko für einen neu-diagnostizierten Diabetes mellitus (bei Patienten mit mehreren vorbestehenden Risikofaktoren für Diabetes mellitus) wurde mit etwa 0,2% pro Behandlungsjahr bestimmt. Nach bisherigen Erkenntnissen gibt es keinen Zusammenhang zwischen einer Statin-Therapie und dem Auftreten einer Krebserkrankung, eines Katarakts, kognitiver Dysfunktion, peripherer Neuropathie, erektiler Dysfunktion oder Sehnenscheidenentzündungen. Bei Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen erhöhen Statine möglicherweise das Risiko für einen hämorrhagischen Schlaganfall. Dem steht jedoch eine deutlich grö­ßere Reduktion des Risikos für einen atherosklerotischen Schlaganfall und damit der Schlaganfälle insgesamt wie auch anderer kardiovaskulärer Ereignisse gegenüber.

Trotz der guten Verträglichkeit und geringer Nebenwirkungsraten sind bei einer Statin-Verordnung mögliche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln zu berücksichtigen. Diese können insbesondere das Risiko für die gefürchteten Myopathien deutlich erhöhen (s. Kasten).

Erhöhtes Myopathie-Risiko

Folgende Arzneimittel können den Metabolismus der Statine beeinflussen und das Risiko für eine Statin-induzierte Myopathie erhöhen:

  • Gemfibrozil
  • Calciumkanal-Blocker (Verapamil, Diltiazem, Amlodipin)
  • Antiarrhythmika (Amiodaron, Dronedaron)
  • Makrolidantibiotika (Clarithromycin, Erythromycin, Telithromycin)
  • Azolantimykotika (Itraconazol, Ketoconazol, Posaconazol, Voriconazol, Fluconazol)
  • Immunsuppressiva (Ciclosporin)
  • Nefazodon
  • Danazol
  • Ranolazin
  • Colchicin
  • HIV-Protease-Inhibitoren und antiretro­virale Substanzen
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Theorie und Praxis

Nach Berücksichtigung aktueller Leitlinien und neuester Forschungsergebnisse zu Risiken und Nutzen einer primärpräventiven Statin-Therapie bleibt die Ungewissheit, ab wann bzw. für wen eine solche Therapie sinnvoll ist. Studien zeigen, dass trotz des günstigen Nutzen-Risiko-Profils die Adhärenz nicht optimal ist. Hier kann eine Verbesserung, nicht zuletzt durch Mitwirkung der Apotheker, wesentlich zum Behandlungserfolg beitragen. Unter anderem ist abzuklären, ob der Patient Arzneimittel einnimmt, die zu einem veränderten Nutzen-Risiko-Verhältnis der Statine führen.

Für eine Verordnung durch den Arzt spielen auch Kostenfaktoren eine Rolle. Laut Arzneimittel-Richtlinie sind in Deutschland Statine zur Primärprävention lediglich bei Vorliegen eines hohen kardiovaskulären Risikos (über 20% Ereignisrate pro 10 Jahre auf der Basis der zur Verfügung stehenden Risikokalkulatoren) verordnungsfähig. Eine Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen ist folglich in Deutschland insbesondere bei niedrigem und moderatem Risiko nicht gewährleistet. Bei einem Risiko von 10 bis 20% und einer deutlichen Häufung weiterer Risikofaktoren kann der Einsatz eines Statins zumindest erwogen werden – laut Arzneimittel-Richtlinie kann dies als Ausnahme auch erstattungsfähig sein.

Fazit

Der Vorteil einer Statin-Therapie für Menschen mit sehr hohem und hohem kardiovaskulärem Risiko liegt auf der Hand, und es besteht ein allgemeiner Konsens, dass eine entsprechende Behandlung sinnvoll ist. Studien belegen, dass die vermehrte Anwendung einer hochintensiven Therapie sowie eine Verbesserung der Adhärenz auf Seiten des Patienten das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse senken können. Insbesondere aufgrund des günstigen Nebenwirkungsprofils der Statine können auch Patienten mit einem moderat oder gering erhöhten Risiko von einer Behandlung profitieren. Experten betonen jedoch, dass der absolute Nutzen einer Statin-Therapie in der Primärprävention bei einem niedrigen Erkrankungsrisiko relativ gering ist. Die Entscheidung über eine Therapie sollte daher nicht allein auf Grundlage eines Risikorechners erfolgen, sondern auf individueller Basis unter Berücksichtigung weiterer Risikofaktoren wie körperliche Aktivität, familiäre Disposition für kardiovas­kuläre Erkrankungen oder Diabetes-Disposition. |

Quelle

Yebyo HG et al. Finding the balance between benefits and harms when using statins for primary prevention of cardiovascular disease: A modeling study. Ann Intern Med 2018; doi:10.7326/M18-1279

Newman CB et al. Statin safety and associated adverse events: A scientific statement from the American Heart Association. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2019;39(2):e38-e81

Khunti K et al. Association of a combined measure of adherence and treatment intensity with cardiovascular outcomes in patients with atherosclerosis or other cardiovascular risk factors treated with statins and/or ezetimibe. JAMA Netw Open 2018;1(8):e185554

Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaborators. The effect of lowering LDL cholesterol with statin therapy in people at low risk of vascular disease: a meta-analysis of individual data from 27 randomised trials. Lancet 2012; 380:581-590

Catapano AL et al. 2016 ESC/EAS Guidelines for the Management of Dyslipidaemias. Eur Heart J 2016;37(39):2999-3058

Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, Anlage III. Stand 4. November 2017. www.g-ba.de

Piepoli MF et al. 2016 European Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice: The Sixth Joint Task Force of the European Society of Cardiology and Other Societies on Cardiovascular Disease Prevention in Clinical Practice (constituted by representatives of 10 societies and by invited experts)Developed with the special contribution of the European Association for Cardiovascular Prevention & Rehabilitation (EACPR). Eur Heart J 2016;37(29):2315-2381

Hahmann HW. Statine für alle? Der Allgemeinarzt 2015;37(2):38-42

Ranft D. Statine zur Primärprävention heiß diskutiert. Medical Tribune Online 22. Februar 2017. www.medical-tribune.ch

Apothekerin Dr. Daniela Leopoldt

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