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Drama in Estland

Wird die Apothekenreform doch noch gekippt?

hb | Was sich derzeit im estnischen Apothekenmarkt abspielt, ist ein Lehrstück dafür, was passieren kann, wenn man die Machtstrukturen und Mechanismen in einem liberalisierten Apothekensystem falsch einschätzt. Die Esten wollen das System zurückdrehen, damit unabhängige Apotheker wieder die Oberhand in den öffentlichen Apotheken des Landes gewinnen. Das klappt aber offenbar nicht.
Foto: DAZ/hb

Apotheke in der estnischen Hauptstadt Tallin

Das estnische Apothekensystem steht vor einer kritischen Zerreißprobe. Im Jahr 2015 wurde das Apothekengesetz geändert und eine umfangreiche Reform in die Wege geleitet. Die Eigentumsanteile an Apotheken sollen ­danach mehrheitlich in den Händen eines Apothekers liegen, der diese auch selbst leitet. Außerdem soll die Trennung der Apothekendienstleistungen von Pharmaherstellern und -großhändlern durchgesetzt werden (Verbot der vertikalen Integration). In Städten mit mehr als 4000 Einwohnern darf es keine Filialapotheken mehr geben. Für die Implementierung der neuen Regeln im Markt wurde eine fünfjährige Übergangsfrist eingeräumt, die am 1. April 2020 endet. Nun ist die Zeit fast abgelaufen, aber das anvisierte pro­fessionelle, unabhängige Apothekennetz in Estland ist immer noch in weiter Ferne. Wieso klappt die Umkehr nicht?

Drei Viertel des Marktes sind großhandelseigene Ketten

Ab 1996 war der estnische Apothekenmarkt vollständig liberalisiert, was zu einer raschen Konzentration führte. Großhandelseigene Ketten übernahmen das Regiment. Ihre Interessen vertritt die estnische Apothekenver­einigung (EAÜ), zu der unter anderem Terve Pere Apteek, Euroapteek und die Pharma Group mit den Marken Heart Pharmacy und Benu Apteek Eesti ­gehören. Auf diese entfallen knapp 300 der rund 500 Apotheken des ­Landes und 70 bis 80% des Marktes. Dass eine Reform kaum durchsetzbar ist, wenn solche mächtigen Player nicht mitziehen, dürfte eigentlich auf der Hand liegen.

Die Situation hat sich in den letzten Wochen immer mehr zugespitzt. Die EAÜ wirft dem zuständigen Sozial­ministerium vor, die Apotheker beim Erwerb von Apotheken nicht genügend unterstützt zu haben, auch in finanzieller Hinsicht. Das Ministerium verfüge weder über Krisenpläne noch ­Folgenabschätzungen, kritisiert Timo Danilov, Mitglied der Geschäftsführung des EAÜ. Das Sozialministerium bezeichnet das Verhalten der Vereinigung seinerseits als inakzeptabel und verantwortungslos. Die Arzneimittelversorgung sei auch nach dem 1. April 2020 gesichert, so die Zusage.

Unrealistische Preise

Sozialminister Tanel Kiik hatte in einer Fragestunde im Parlament Anfang November eingeräumt, dass die Abgabe der Apotheken „zu fairen Preisen“ sich offenbar als Hindernis für den Fortgang der Reform erwiesen habe. Wie die Autorin dieses Beitrags auf Anfrage vom Estnischen Apothekerverband, der die unabhängigen Apotheker vertritt, ­erfahren hat, beziffern die Kettenbesitzer der Wert ihrer Apotheken mit insgesamt 200 bis 250 Mio. Euro (ca. 1 Mio. Euro pro Apotheke/Filialapotheke), aus Sicht des Apothekerverbandes eine völlig überzogene Vorstellung. Es sei doch nicht verwunderlich, wenn die Apotheker lieber abwarteten, um später selbst eine neue Apotheke zu errichten. Dies sei mit erheblich geringeren finanziellen Aufwendungen möglich, schreibt der Verband.

Es gebe auch Berichte, dass Apotheker eingeschüchtert würden, wenn sie ­Interesse an einem Kauf oder einer neuen Apotheke zeigten, und gegenüber ihrem Arbeitgeber als illoyal hingestellt würden. „Das Hauptproblem ist, dass Apothekenketten heute die besten Standorte und Räumlichkeiten haben und ihren Konkurrenten, das heißt den neuen Apotheker-Eigen­tümern, nicht das Feld überlassen wollen“, heißt es in der Antwort des Apothekerverbandes.

Nach wie vor gehören derzeit von den knapp 500 Apotheken (darunter 150 Filialapotheken) nicht einmal 200 mehrheitlich oder vollständig Pharmazeuten. Sollte die Regierung nicht einlenken, so wären ab dem 1. April nächsten Jahres mehr als 300 Apotheken in ganz Estland von der Schließung bedroht, mit fatalen Konsequenzen für die Arzneimittelversorgung. Dies hat die Vereinigung der Kettenapotheken in den letzten Monaten gebetsmühlenartig in der Presse verbreiten lassen und damit versucht, der Politik Daumenschrauben anzulegen, mit einer klaren Marschrichtung: Die Reform soll gekippt werden. Auch Schadensersatzforderungen an den Staat werden ins Spiel gebracht, sollte es tatsächlich zu den Schließungen kommen.

Ohnehin zu viele Apotheken

Der Apothekerverband und die Apothekerkammer in Estland stehen voll hinter der Reform. Aus Sicht des Verbandes ist es absolut möglich, die Reform wie vorgesehen umzusetzen. Man könne sich vorstellen, dass in absehbarer Zeit neue Apotheken eröffnet werden, wenn die Ketten ihre Apotheken am 1. April wirklich schließen. Ohnehin habe Estland deutlich mehr Apotheken als das Land tatsächlich brauche. Da die Kettenapotheken sich hauptsächlich in den Städten und nicht in kleineren Orten befänden, sei damit sogar ein erwünschter Gesundschrumpfungsprozess verbunden.

Der Apothekerverband ist davon überzeugt, dass den Ketten jedes Mittel recht sein wird, um ihre Interessen doch noch durchzusetzen und glaubt, dass diese sicher noch „Plan B, C, D“ in der Hinterhand haben. Vorstellbar sei zum Beispiel, dass die Großhändler Lieferungen von Arzneimitteln an ­unabhängige Apotheken vorübergehend einstellen, um noch mehr Druck auf die Politik auszuüben, dass sie die Apotheken sogar noch vor dem 1. April 2020 schließen könnten oder diese auch danach einfach weiter­betreiben, um abzuwarten, wie der Staat reagieren wird.

Rudert die Politik zurück?

Der Verband der Kettenapotheker hat indessen Änderungsvorschläge zur Apothekenreform eingereicht, die derzeit von einer Arbeitsgruppe der führenden Parteien im Parlament diskutiert werden. Unter anderem schlägt der Verband vor, dass die derzeit existierenden Apothekenketten in den Händen der Großhändler bleiben dürfen, in Zukunft jedoch nur Apotheker neue Apotheken eröffnen könnten. Für sein Anliegen hat der Verband mehr als 10.000 Patientenunterschriften gesammelt und diese dem Parlament übergeben. Aktuellen Presseberichten zufolge soll unter dem erhöhten Druck tatsächlich ein Umdenken in der Politik eingesetzt haben. Das Pendel könnte sogar ganz in die andere Richtung ausschlagen.

So soll eine Gruppe von Parlamentariern dafür sein, das Apothekeneigentum wieder völlig freizugeben. Für weniger realistisch wird eine andere Option gehalten, die daneben auch noch den Verkauf von OTC-Arzneimitteln außerhalb der Apotheken erlauben würde. Die Chance, dass die Reform wie beabsichtigt fortgesetzt wird, beurteilt der Verband der unabhängigen Apotheker als 50 zu 50. Diskutiert wird auch die Möglichkeit, die Reform im Laufe eines Jahres geografisch Schritt für Schritt umzusetzen, eine Option, die der Sozialminister des Landes, Tanel Kiik, präferieren würde. Die Parlaments-Arbeitsgruppe zur Apothekenreform will ihre Vorschläge noch vor Weihnachten bekannt geben.

Was auch immer dabei herauskommt, der Staat wird nachlegen müssen, wenn er die Abkehr von der totalen Deregulierung doch noch mit einer absehbaren Zeitperspektive im Markt durchsetzen will. Vorübergehende Zugeständnisse an die derzeitigen „Platzhirsche“ könnten im Interesse der Patienten unausweichlich sein. |

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