Debatte

„Insgesamt ein schwieriges Kapitel“

Erika Fink im Gespräch über die Ethik in der Pharmazie

eda | Bei ethischen Fragestellungen in der Medizin oder Pharmazie geht es meistens nicht um die Extreme Leben und Tod. Als Heilberufler ethisch verantwortungsvoll zu handeln bedeutet vielmehr, Entscheidungen im Sinne der Patienten zu treffen. Diese sollten möglichst losgelöst von jeglichen ökonomischen Interessen und geltenden Moral­vorstellungen erfolgen. Erika Fink, Apothekerin, Buchautorin und ehemalige Präsidentin der Bundesapothekerkammer, hat sich mit der Ethik in der Pharmazie intensiv auseinandergesetzt.

Mit 75 Jahren ist Erika Fink immer noch regelmäßig in der Grüneburg Apotheke in Frankfurt anzutreffen – seit 2014 aber nicht mehr selbst als Inhaberin. Neben ihrer Offizintätigkeit hat sie sich ihr gesamtes Berufs­leben lang sehr vielfältig engagiert: So stand sie beispielsweise von 2005 bis Ende 2014 als Präsidentin der Landesapothekerkammer Hessen vor, und von 2009 bis 2012 war sie gleichzeitig Präsidentin der Bundesapotheker­kammer. Nach ihrer Selbstständigkeit widmete sie sich vermehrt ihrer Herzensangelegenheit, der Ethik in der Pharmazie, und veröffentlichte auch ein Buch zu dem Thema. Was bedeutet es konkret, ethisch verantwortungsvoll seinen Beruf in der Offizin aus­zuüben? Wir haben mit Frankfurts ältester, noch aktiver Apothekerin gesprochen.

Foto: Privat

Erika Fink

DAZ: Frau Fink, wenn wir uns über Ethik in der Pharmazie unterhalten, dann interessiert uns direkt Ihre Meinung: Spricht man von „Kunden“ oder „Patienten“ in der Apotheke?
Fink: Das ist eine Frage, die man mir in dem Zusammenhang tatsächlich immer reflexartig stellt. Gleichzeitig neigt man leider auch dazu, dieses sehr komplexe Thema auf nur diese Unterscheidung zu reduzieren. Ich halte das für zu oberflächlich – wie wäre es beispielsweise mit „Menschen“?

DAZ: Warum ist Ihnen die Frage zu oberflächlich?
Fink: Weil es nicht auf diese Begrifflichkeit ankommt, sondern auf die Einstellung, die dahintersteckt. Natürlich gibt es Kunden in der Apotheke, genauso wie Patienten. Beim Begriff „Patient“ muss man jedoch beachten, dass es sich dabei um Personen handelt, die im eigentlichen Wortsinn von einem Heilberufler behandelt und betreut werden. „Patient“ ist assoziiert mit krank bis sehr krank, „Kunde“ eher mit „dem fehlt doch gar nichts“. Wenn Sie das als die beiden Endpunkte einer Skala sehen, haben wir es in der Apotheke mit allen Zwischenstufen zu tun. Unser Umgang mit diesen Menschen, unsere Empfehlungen und die Produkte, die wir ihnen verkaufen, können sie auf der Skala in die eine oder andere Richtung befördern, idealerweise in die Richtung „gesund“.

DAZ: Das heißt, bei ethischen Fragestellungen in der Pharmazie muss es um sehr viel mehr gehen?
Fink: Ganz genau. Es geht um die Haltung zum eigenen Beruf und zu den Menschen, mit denen man zu tun hat. Ein guter Kunde ist – im kaufmännischen Sinne – jemand, der einem viel Geld bringt. Das darf für uns Apotheker aber nicht die übergeordnete Rolle spielen. Was wiederum nicht heißt, dass wir mit unserer Arbeit kein Geld verdienen sollen. Jeder Mensch, der uns in der Apotheke gegenübersteht, hat ein Recht auf die aktuell bestmögliche Behandlung. Was das in seinem Fall ist und wie viel er davon in Anspruch nehmen will oder kann, muss geklärt werden. Ein wichtiges Instrument dazu ist der Dialog. Der kann aus wenigen Sätzen bestehen oder auch einmal längere Zeit in Anspruch nehmen oder gar zu einer Fortsetzungsgeschichte werden. Ich denke, dass das eine Leistung ist, die die öffentlichen Apotheken auf lange Sicht unverzichtbar macht, vorausgesetzt, sie wird ordentlich erbracht.

DAZ: Also alles andere als „Small Talk”?
Fink: Dialogfähigkeit ist ein Merkmal des guten Beraters, und der Dialog ist eine kreative Gesprächsform, die wie keine zweite zur Problemlösung führen kann. So etwas kann und sollte man lernen und trainieren, wenn man ein guter Berater sein will; und das wird oft vernachlässigt. Solche Gespräche sind vertraulich und sollten in einem geschützten Raum stattfinden. Wer nicht daran teilgenommen hat, kann sie nicht beurteilen. Wie will man dann einen Betrag für die Honorierung festsetzen?

DAZ: Wo spielt Ethik denn konkret eine Rolle im Alltag in der Apotheke?
Fink: Ethische Prinzipien wie die Fürsorge, die Autonomie der Gerechtigkeit oder des Nicht-Schadens spielen permanent eine Rolle in unserem Umgang mit anderen Menschen, ohne dass uns das bewusst wird. Das ergibt sich aus unserer Erziehung und den Moralvorstellungen, mit denen wir groß geworden sind. Und Ethik ist die Wissenschaft von der Moral. Sie hinterfragt und bewertet moralische Prinzipien und Grundsätze. Ich finde es ungeheuer wichtig, sich damit aus­einanderzusetzen. Wir kommen in der Apotheke immer wieder in Situationen, in denen uns ethische Überlegungen helfen, eine Antwort auf bestimmte Fragen zu finden oder eine Entscheidungshilfe anzubieten. Der alltägliche Fall ist doch die Frage: „Was halten Sie denn von dem, was der Arzt mir da verordnet hat? Soll ich das wirklich einnehmen?“

DAZ: Und diese Auseinandersetzung ist dann entscheidend für die Ethik in der Pharmazie?
Fink: Sie ist nützlich, wenn Entscheidungen anstehen. Gerade heute hatte ich eine Patientin, die von ihrem Arzt ein Antidepressivum als Einschlafhilfe verschrieben bekommen hat. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie bei der angegebenen Dosierung aber an Gewicht zulegen. Das steht auch im Beipackzettel und wird sie womöglich verunsichern bis verängstigen. Die Vor- und Nachteile gegeneinander aufzuwiegen und vielleicht noch einen ganz anderen Weg aufzuzeigen, halte ich für die wichtigste Eigenschaft der Apotheker in der heutigen Zeit. Voraussetzungen sind Fachwissen, Dialogfähigkeit, Empathie und Handlungsfähigkeit, die man uns immer weiter einengen will.

DAZ: Erklären Sie uns doch bitte am Beispiel der Sicht- und Freiwahlprodukte in der Apotheke, wie und wann wir ethisch handeln.
Fink: Schon immer hat das sogenannte Nebensortiment in der Apotheken­ökonomie eine Rolle gespielt. Es dient einer Mischkalkulation, sodass sich der Betrieb nicht ausschließlich durch den Absatz von Arzneimitteln finanzieren muss. Dieses Prinzip sollte schon vor Jahrhunderten einen gefährlichen Mehrverbrauch verhindern und die Konsumenten schützen. Leider haben zwei Entwicklungen dazu geführt, dass dies mittlerweile nahezu ausgehebelt ist …

DAZ: Welche sind das?
Fink: Zum einen verfügen die Apotheker heutzutage über praktisch keine Monopole mehr. Selbst apotheken- und verschreibungspflichtige Arzneimittel gibt es mittlerweile im Versandhandel von ausländischen Konzernen. Außerdem konzentrieren sich viele Apotheker zunehmend auf das Nebensortiment, weil es betriebswirtschaftlich lukrativer erscheint. Aber eine Apotheke, die nur noch auf Kosmetik und Nahrungsergänzungsmittel setzt, wird von der Bevölkerung nicht mehr als solche wahrgenommen. Ich finde, damit schaden wir der Institution Apotheke. Es kommt immer auf die rich­tige Dualität an. Arzneimittel müssen nach wie vor den Schwerpunkt unserer Arbeit und unserer Sortimente einnehmen. Das hat bis jetzt aber noch nichts mit Ethik zu tun. Wenn ich mich aber so verhalte, dass ich das Prinzip der Fürsorge oder des Nicht-Schadens durch Bewerbung und ungebremsten Verkauf bestimmter Produkte verletze oder durch Nichtanfertigen von Rezepturen, dann schon.

DAZ: Nun sind Arzneimittel gerade im OTC-Bereich aber auch immer wieder in der Kritik. Für zahlreiche Präparate herrscht eine dürftige Evidenzlage. Wäre es als Apotheker nicht ethisch verantwortungsvoll, von diesen Produkten dann konsequent abzuraten?
Fink: Auch das ist ein Trugschluss. Drehen wir den Spieß einmal um: Ethisch verantwortungsvoll zu handeln, bedeutet ja auch, von einem Präparat abraten zu können, für das es vielleicht allerbeste klinische Evidenz gibt, das aber für den jeweiligen Patienten ungeeignet erscheint. Und ein Mittel mit mäßiger Evidenz kann durchaus einmal hilfreich sein. Ich darf natürlich nicht den Eindruck erwecken, dass es sich um ein Heilmittel handelt, wenn es nur Symptome bekämpft und dem Patienten hilft, den Tag zu überstehen. Meine Handlung gegenüber dem Menschen, der vor mir steht, ist bezogen auf seine spezielle Situation. Die Argumente müssen ehrlich vorgebracht werden, und die Entscheidung treffen wir dann gemeinsam. Jede Empfehlung kann gerechtfertigt sein. Wir dürfen und sollen in der Apotheke situationsbezogen und verantwortungsvoll mit diesen Produkten umgehen, das empfinde ich als Auftrag und Privileg. In dieser Situation sind wir noch nicht durch KI zu ersetzen – noch lange nicht, wenn wir es richtig anstellen. Ethik ist stets ein Hinterfragen der Moral – also der geltenden Normen, Grundsätze und Werte. Im medizinischen und pharmazeutischen Bereich stellen Handlungsanweisungen bzw. Leitlinien die Moral dar. Sie sind zwar ein Hilfsmittel, werden uns aber nicht von der ethischen Verantwortung freisprechen können.

Zum Weiterlesen

Erika Fink

Schlucken Sie nicht alles! – 
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Erika Fink und Cornelia Tromm

Pharmazie und Ethik – Vom Umgang mit Menschen in der Apotheke

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Einfach und schnell bestellen:
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DAZ: Das heißt, selbst die Abgabe eines Präparates ohne gesicherten Wirksamkeitsnachweis könnte man Ihrer Meinung nach ethisch vertreten?
Fink: Nicht grundsätzlich, aber dann, wenn das in dem Einzelfall die beste Entscheidung für den jeweiligen Menschen ist und feststeht, dass es nicht schadet. Die individuelle Situation ist entscheidend. Man denke nur mal an die ärztlich verschriebene Placebo-Therapie. Wir blenden bei dieser Auseinandersetzung leider viel zu oft aus, dass Arzneitherapie oft auch Psychotherapie ist. Bevor risikobehaftete und unnötige Therapien durchgeführt werden, sollte über mögliche Alternativen immer nachgedacht werden. Sonst könnten wir doch einfach durch Automaten ersetzt werden.

DAZ: Müsste sich unser Berufsstand zu ethischen Fragestellungen, die die Arzneimitteltherapie betreffen, nicht viel häufiger öffentlich positionieren? Es gibt ja durchaus sehr einschnei­dende Ereignisse – man denke beispielsweise an Contergan, das in der Anfangszeit damals sogar nur apo­thekenpflichtig war.
Fink: Das wäre in vielen Fällen sicher wünschenswert. Aber man muss auch realistisch bleiben. Gerade bei Contergan war es in den ersten Jahren schwierig bis unmöglich, als nieder­gelassener Heilberufler Zusammenhänge zu erkennen. Die Ärzte und Apotheker konnten es nicht besser wissen und haben daher meiner Meinung nach auch nicht unethisch gehandelt. Unser Bewusstsein und das ganze System haben sich natürlich seit diesem Arzneimittelskandal grundlegend verändert. Trotzdem wird es wahrscheinlich immer wieder negative Vorfälle im Zusammenhang mit Arzneimitteln geben, leider.

„Es ist gewissermaßen ein ethisches Dilemma, dass wir unser Honorar aus der Abgabe von Arzneimitteln ziehen.“

Erika Fink

DAZ: Es scheint, als ob es bei der Ethik in der Pharmazie hauptsächlich um die merkantilen Unterscheidungen zwischen Kunde und Patient oder Kaufmann und Heilberufler gehen würde.
Fink: Das ist korrekt. Es ist gewissermaßen ein ethisches Dilemma, dass wir unser Honorar aus der Abgabe von Arzneimitteln ziehen.

DAZ: Warum?
Fink: Weil wir uns nur über den Verkauf finanzieren können. Gleichzeitig wird aber von uns erwartet, dass wir von Therapien abraten oder Empfehlungen aussprechen, ohne etwas zu verkaufen. Bei der Auswahl eines Arzneimittels sollte ja auch nicht die Betriebswirtschaft, sondern die Gesundheit im Mittelpunkt stehen. Diese pharmazeutische Leistung wird aber nicht explizit honoriert.

DAZ: Was wäre ein Ausweg aus dem Dilemma?
Fink: Den einen Ausweg wird es wahrscheinlich nie geben, weil uns niemand dafür bezahlen wird, einfach nur da zu sein. Auch, dass wir jemals die Beratungsleistung separat abrechnen können, halte ich für unrealistisch. Sollte sich die Politik aber dafür entscheiden, die honorierbaren pharmazeutischen Dienstleistungen einzuführen, könnten wir uns hierüber immens profilieren. Doch auch bei den Dienstleistungen wird man grundlegende Fragen klären müssen: Sind diese von allen Apotheken leistbar? Wird man unterschiedliche Qualitäten unterschiedlich honorieren müssen? Gibt es dann zwei Klassen Apotheken? Insgesamt ist es ein schwieriges Kapitel.

DAZ: Wann und wie müssten Apothekerinnen und Apotheker in Ethik ausgebildet werden?
Fink: Aus meiner Sicht am besten im Rahmen der Weiterbildung, nämlich dann, wenn sie ihre universitäre Ausbildung abgeschlossen haben. Wenn sie ihren Beruf ernst nehmen, merken sie wahrscheinlich, dass der befriedigende Umgang mit Ratsuchenden sich nicht auf ein paar Informationen beschränken kann, die man auch dem Internet entlocken könnte, sondern dass da mehr zu tun ist und dass das strukturiert getan werden sollte. Aber das alles zu lernen, braucht Eignung, es braucht Zeit und Gelegenheit – und es braucht Motivation.

DAZ: Frau Fink, vielen Dank für das Gespräch. |

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