Arzneimittel und Therapie

Suizidrisiko unter Sartanen in der Diskussion

cst | „Treiben diese Bluthochdruck-Medikamente Patienten in den Selbstmord?“ – Schlagzeilen wie diese waren in den letzten Tagen auf etlichen mehr oder weniger seriösen Nachrichtenportalen zu lesen. Gemeint sind die Sartane. Doch ist an dieser vermeintlichen Hiobsbotschaft überhaupt etwas dran?

Die negativen Schlagzeilen zu Angiotensin-Rezeptor-Blockern (AT1-Antagonisten) reißen einfach nicht ab. Um die Verunreinigungen von Valsartan und Co. mit dem wahrscheinlich krebserregenden Stoff N-Nitrosodimethylamin (NDMA) ist es gerade wieder etwas ruhi­ger geworden. Schon droht neues Unheil. Der Verdacht: Das Suizidrisiko könnte unter den häufig verordneten Antihypertensiva womöglich erhöht sein. Zu diesem Schluss kommen die Autoren einer Fall-Kontroll-Studie. Analysiert wurden Einträge in verschiedenen Datenbanken zu Einwohnern der Region Ontario in Kanada. Betrachtet wurden Personen, die zwischen Januar 1995 und Dezember 2015 mindestens 66 Jahre alt waren und inner­halb von 100 Tagen nach Verordnung eines ACE(Angiotensin Converting Enzyme)-Hemmers oder eines Sartans Suizid begangen hatten. Insgesamt identifizierten die Wissenschaftler 964 solcher Fälle. Diese wurden 3856 Kontrollen, die den Suizid-Patienten hinsichtlich Alter und Geschlecht sowie Hypertonie- und Diabetes-­Erkrankung entsprachen, gegenüber­gestellt. Die Kontrollpatienten hatten ebenfalls einen ACE-Hemmer oder einen Angiotensin-Rezeptor-Blocker erhal­ten, aber keinen Suizid begangen.

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Angiotensin-Rezeptor-Blocker überwinden die Blut-Hirn-Schranke. Die klinische Relevanz zentraler Effekte ist jedoch unklar.

Signifikant erhöhtes Risiko

Von den Suizid-Patienten hatten 260 ein Sartan bekommen, 704 Patienten waren mit ACE-Hemmern behandelt worden. Von den Kontrollpatienten war 741 Personen ein Sartan verordnet worden, 3115 Personen ein ACE-Hemmer. Die Auswertung ergab ein signifikant erhöhtes Suizidrisiko unter Angiotensin-Rezeptor-Blockern im Vergleich zu ACE-Hemmern (adjustierte Odds Ratio [OR] 1,63; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,33 bis 2,00). Dabei wurden zahlreiche Faktoren berücksichtigt, die das Ergebnis hätten beeinflussen können (z. B. Diagnosen von psychischen Störungen, Alkoholmissbrauch, Begleitmedikation). Auch nach Ausschluss von Personen mit Selbstverletzungen in der Vorgeschichte hatte die Assoziation Bestand (OR 1,60; 95%-KI 1,29 bis 1,98).

Mögliche Mechanismen

Auch wenn die zugrunde liegenden Mechanismen unklar sind, gibt es nach Aussage der Studienautoren plausible Erklärungsansätze dafür, wie Sartane das Suizidrisiko möglicherweise erhöhen könnten. So überwinden ACE-Hemmer und Angiotensin­Rezeptor-Blocker die Blut-Hirn-Schranke in unterschiedlichem Ausmaß. Eine kompensatorische Hochregulation von Angiotensin II infolge der AT1-Rezeptor-Blockade könnte die Aktivität von Substanz P und der Hypothalamus­Hypophysen-Nebennierenrinden­Achse, der sogenannten Stressachse, erhöhen. Zudem könnte eine übermäßige Aktivierung des AT2-Rezeptors den NF-κB (nuclear factor kappa-light-chain-enhancer of activated B-cells)-Stoffwechselweg aktivieren. Auch scheinen genetische Polymorphismen, die mit erhöhten Angiotensin-II-Spiegeln einhergehen, vermehrt mit psychischen Störungen verbunden zu sein. Bis weitere Studienergebnisse vorliegen, kann man zu möglichen ­Ursachen allerdings nur spekulieren.

Wie die Studienautoren selbst kritisch anmerken, sind die Ergebnisse ihrer Datenanalyse lediglich als mögliche Hinweise zu werten. So ist die aktuelle Untersuchung mit etlichen Limitationen verbunden. Beispielsweise konnten relevante Komorbiditäten wie Suchterkrankungen nicht berücksichtigt werden. Des Weiteren ist die Übertragbarkeit auf ein jüngeres Patientenkollektiv fraglich. Ob das Suizidrisiko unter Sartanen tatsächlich erhöht ist, muss in weiteren Studien eruiert werden.

Was sagt die Odds Ratio aus?

Die Odds Ratio (OR), auch Chancen- oder Quotenverhältnis, wird als Assoziationsmaß in retrospektiven Studien (Fall-Kontroll-Studien, Querschnittsstudien) verwendet, wenn die Inzidenz eines Merkmals unbekannt ist und das relative Risiko nicht berechnet werden kann. Sie gibt an, wie stark ein Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen ist - z. B. zwischen einem potenziellen Risiko­faktor und einer Erkrankung. Um die OR zu berechnen, werden zwei Quoten miteinander verglichen. So errechnet sich die erste Quote in der Studie von Mamdani et al. aus der Anzahl an Suizid-Patienten („erkrankt“), die mit Sartanen behandelt wurden („mit Risiko­faktor“), durch die Anzahl an Suizid-Patienten („erkrankt“) ohne Sartan-Therapie („ohne Risikofaktor“). Die zweite Quote errechnet sich aus der Anzahl der Kontrollpatienten („nicht erkrankt“), die mit Sartanen behandelt wurden („mit Risikofaktor“), durch die Anzahl der Kontrollpatienten („nicht erkrankt“) ohne eine solche Therapie („ohne Risikofaktor“). Eine Odds Ratio von 1 würde bedeuten, dass es keinen Zusammenhang zwischen den beiden Merkmalen gibt. Bei einem Wert > 1 ist die Chance für ein bestimmtes Merkmal (Suizid) in der Gruppe mit dem Risikofaktor (Sartan) größer, im konkreten Fall um das 1,6-Fache. Bei einer Odds Ratio < 1 wäre hingegen die Chance in der Gruppe ohne den Risikofaktor größer.

Wertlose Ergebnisse

Professor Michael Böhm, Pressesprecher der deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. (DGK), weist darauf hin, dass eine Fall-Kontroll-Studie wie diese die niedrigste Datenlage in der Hierarchie klinischer Studien schaffe. „In klinischen Studien fand sich kein derartiger Zusammenhang. Dies betrifft insbesondere die ONTARGET-Studie zum Vergleich von Ramipril und Telmisartan mit mehr als 25.000 Patienten, an der ich selbst mitgewirkt habe. Insgesamt sind Fall-Kontroll-Studien von einer hohen Irrtumswahrscheinlichkeit begleitet, da die Assoziationen zufällig sein könnten. Die eigentliche Evidenz wird in klinischen, prospektiven und randomisierten Studien generiert“, so Böhm.

Verunsichern lassen sollten sich Patienten durch diese Daten also nicht. „Bislang hat die Studie keine klinischen Konsequenzen und sollte ausweislich der hohen Effizienz von AT1-Blockern auf kardiovaskulär relevante und gefährliche Erkrankungen (arterielle Hypertonie, koronare Herzerkrankung in der Sekundärprävention und gegebenenfalls Herzinsuffizienz) als wertlos erachtet werden“, erklärt Böhm. |

Literatur

Mamdani M et al. Association Between Angiotensin-Converting Enzyme Inhibitors, Angiotensin Receptor Blockers, and Suicide. JAMA Netw Open 2019;2(10):e1913304

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