Aus den Ländern

70 Jahre und kein bisschen leise

Die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte der Scheele-Gesellschaft – selbst miterlebt

Von Hans Feldmeier | Es war im Oktober 1948, als sich im großen Hörsaal des Chemischen Institutes Rostock (100 Plätze bei 450 Studenten) 80 Interessierte – darunter die meis­ten der 30 Pharmaziestudie­renden aller Semester, sowie meine spätere Frau und ich, versammelten. Seitdem sind wir mit voller Begeisterung dabei und Mitglieder in der ab 1951 genannten Scheele-Gesellschaft. Über die ersten 40 Jahre hat der mir vertraute Professor Friedrich detailliert veröffentlicht [1]. Sein Literaturverzeichnis enthält 89 Hinweise. Mein Anliegen ist es, das Besondere dieser Gruppe der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG), die als einzige einen Namen trägt, zu skizzieren.
Foto: Privat

Der damalige Vorsitzende Prof. Thorsten Beyrich nimmt 1973 Glückwünsche und Blumen entgegen.

Gewählt als Vorsitzender wurde damals Professor Valentin, Ostpreuße aus Königsberg, Autor der Pharmaziehistorischen Zeittafeln, Ordinarius in Greifswald. Zu seinem Stellvertreter wurde Apotheker Weber ernannt, gestandene Persönlichkeit, Vorlesungs­beauftragter für Pharmaziegeschichte und Gesetzeskunde in Rostock. Die Position des Sekretärs bekleidete Hans Mühlenbeck [2], die „Stimmungs­kanone“ der Gesellschaftsabende, die den Tagungen einen familiären Charakter verleihen. Schatzmeister Dr. Martinius aus Greifswald ließ seine Frau die Arbeit machen, für die er später ausgezeichnet wurde. Seine Frau war es auch, die das gemeinsame Hündchen in die Hotelzimmer schmuggelte.

Die Scheele-Gesellschaft war die „filia ante matrem“, denn die Dachgesellschaft entstand erst 1955 mit Professor Valentin als erstem Präsidenten. Seine Nachfolger bei Scheele wurden in Folge 1954 Professor Pohloudeck-Fabini aus Greifswald und sein Rostocker Kollege Bräuniger (1958 – 1967), der mich in den Vorstand holte. Nach dem Tode von Hans Mühlenbeck 1967 bekam ich die Aufgabe des Ersten Sekretärs – für die nächsten 20 Jahre.

In den ersten zwei Jahrzehnten galt es, wie es Beyrich (s. u.) einmal formu­lierte, den kriegsbedingten Stau an Wissensvermittlung aufzulösen und über Neues zu berichten. Ideenträger zu Arzneibuch und Apothekenalltag waren gefragt. Hierzu konnten namhafte Wissenschaftler als Redner gewonnen werden. Da viele Kollegen als Familie anreisten, gab es sogar mal professionelle Kinderbetreuung, ansonsten half man sich gegenseitig. Ein Phänomen von 1960 bis 1963 war die „Galenische Fragestunde”.

In der pharmazeutischen Aufbruchszeit der 1950er-Jahre, wo es zunächst noch kein neues Arzneibuch gab, alte Vorschriften nicht realisierbar, neue Stoffe zu galenischer Verarbeitung unerprobt, westliche Arzneien gern substituiert wurden, war kollegialer Erfahrungsaustausch vonnöten. Der Moderator („Dr. Allwissend”) stellte sich vor das Auditorium: „Kollegen, nun fragt mal!” Fragen, Antworten mit Lösungstipps sprudelten nur so. Allein wegen der Fragestunde zu kommen, lohnte sich. Im dritten Jahr war die Spontanität vorbei; vieles hatte sich stabilisiert. In-peto-Fragen retteten den Nachmittag. Aus dieser Mitgliederaktivität entstand später die Idee zu den Fünf-Minuten-Kurzberichten (s. u.). Auch sie hatten ihre Zeit – eine gute Zeit.

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Zum 25-jährigen Bestehen ­hatten offenbar viele Apotheken ­in Schwerin in ihren Schaufenstern entsprechende Willkommensgrüße und Glückwünsche platziert.

Die „Ära Beyrich” (1967 – 1992)

Als von Professor Pohloudeck ein Dr. Beyrich als Vorsitzender vorgeschlagen wurde, dachte ich: „So ein schmales Jüngelchen – nicht Professor – was soll das werden?“ Es begann die „Ära Beyrich”, einer humanistisch gebildeten Persönlichkeit, die nun Scheele prägte. Statt heterogener Thematik wagte Beyrich fortan, die Tagungen unter ein zentrales Thema zu stellen. Dieses Konzept bewährte sich, wurde von anderen Gruppen übernommen und findet sich heute in Fachzeitschriften („Pharmakon“).

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30-jähriges Bestehen 1978 – Der Magier mit Zylinder und Zauber­ringen ist der Rostocker Bezirks­apotheker Neumann (1976 – 1998).

Experten zu finden und für einen Vortrag zu gewinnen ohne Google und Co. war nicht einfach. Können sie rhetorisch das Auditorium fesseln? Bei „Arzneimittel und Leistung” sagten die Redner des Zentralinstituts des Sportmedizinischen Dienstes Dresden-Kreischa kurzfristig ab: Ein Schelm, wer Böses (Doping) dabei denkt.

Heute wieder besonders aktuell erscheinen Themen wie „Apotheker und Patient“ 1977, „Der ältere Mensch in der Offizin” 1982, „Prophylaxe und Selbstbehandlung” 1989 oder „Fragen an Heilpflanzen“ 1983.

Weitere Extras waren Präsentationen zu Standardisierung und Information. Bei der „Bring-mit-Ausstellung” wurden die Kollegen gebeten, Dinge zur Verbesserung der täglichen Arbeit, sogenannte „Neuerer-Vorschläge“, zu zeigen. Ausstellungen der Pharmazeutischen Industrie (einmal aus Ungarn) wurden nach 1990 zum Kontinuum.

Zum Standardprogramm gehörte jeweils ein allgemeinbildender Vortrag (z. B. „Blut in Märchen und Mythen” FIP-Kongress London, Arkona-Traumschiffreise, ...). Auf Betreiben staatlicher Organe wurde auch ein ökonomisch orientierter Teil eingebaut. Die Tagungen mit gut 400 Teilnehmern waren so beliebt, dass Veranstaltungen der Dachorganisation schlechte Beteiligung befürchten mussten. Die Scheele-Gesellschaft hatte seit 1983 über 800 Mitglieder, mehr als Apo­theker im Ostseebezirk. Zu unseren Tagungen ergingen fast 1000 Einladungen, die von Mitarbeiterinnen der St.-Georg-Sekretariats-Apotheke im Waschkorb zur Post getragen wurden.

Geselliges in der Gesellschaft

Am Gesellschaftsabend war die launige Begrüßungsrede ein Muss, zuweilen Rosen für die Damen, Sketche der Studenten, Polonaise ums von Lehrlingen gestaltete Buffet und immer wieder neue lustige Einlagen.

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1989: Prof. Christoph Friedrich hält einen Vortrag zur Pharmazie­geschichte.

Seit 1958 gab es alle fünf bis zehn Jahre Jubiläumsfeiern. Zusätzlich wurden ganz groß in einer Tagesveranstaltung die „70er” der Altvorsitzenden Pohloudeck-Fabini und Bräuniger gefeiert. Zwei festliche Tagungen würdigten anlässlich Geburts- und Todesjahr Carl Wilhelm Scheele – 1992 zusammen mit den Historikern der alten Bundesländer in Binz. Ein Sonderzug fuhr die Teilnehmer nach Stralsund zur Festveranstaltung, auf der beim Streichquartett Professor Christoph Friedrich die erste Violine spielte.

Weitere „Extras“ zur Beyrich-Zeit

  • Gesponserte Seniorenabende mit kultureller Einlage ab 1976
  • Scheele-Medaille (Relief: Porträt und Geburtshaus), gestaltet von Jo Jastram, geprägt 1973 von der Staatlichen Münze Berlin, auch umrahmt als Medaillon. Grafik seitdem auf jeder Tagungseinladung
  • Sonderstempel der Post anlässlich des Scheele-Geburtsjahres
  • Bildung von Arbeitsgruppen zu Information, Patientenbetreuung und Herstellung von Salben und Augentropfen. Zentral entstehende Arbeitsgruppen wurden von „Scheelianern“ aktiv gestützt.
  • Quiz zum Wissenserwerb, Mitgliederbefragung
  • Schaufenster-Wettbewerb zum 25. Jahrestag in Schwerin
  • Chronik mit den ersten Dokumenten, dazu viele Bilder dank teurem Blitzgerät für den Sekretär.

1989 bis heute

1988 sollte Dr. Jira aus Greifswald das Zepter übernehmen. Gegenwind kam von Oberen: Ein Genosse müsse Vorsitzender werden. Sein Institutsdirektor Professor Pflegel konnte dies verhindern. Der Kompromiss: Beyrich blieb weitere vier Jahre. Es bedurfte der friedlichen Revolution, dass zur nächsten Vorstandswahl Dr. Jira (ab 2010 Professor) antreten durfte. Mit Recht kann man sagen, es begann die „Ära Jira”.

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1989: Die Scheele-Gesellschaft tagt in Neubrandenburg.

Entsprechend veränderter Bedingungen wurde Neues kreiert. Die Tagungen wurden jetzt mit Apothekerverband und Apothekerkammer konzipiert. Die Kammer verblieb. Sie hatte bereits das Organisatorische des Sekretariats übernommen.

Traditionsgemäß erfreuten weiterhin humanistisch geprägte Begrüßungs­reden, die Einführung in die Thematik sowie eine fröhliche Rede am Gesellschaftsabend. Was Jira erspart blieb, war das gegenüber Beyrich eingeforderte Politische wie „In Vorbereitung des VII. Parteitages der SED”, „In Auswertung des 11. FDGB-Kongress” oder Zitate wie „Genosse Honecker betonte”. Diese Klippe umschiffte er. Statt Standard-Rot wählte er geistreiche Zart-Rosa-Formulierungen, die nolens volens akzeptiert wurden, aber keine Schamröte ins Gesicht trieben.

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2018: Der gesamte Vorstand der DPhG nimmt an der Scheele-Tagung teil.

Jira hielt an der Generalthematik fest, pflegte die Tradition. Zum Erhaltenswerten kam Jogging in novembrischer Kühle, erfrischend für Körper und Geist. Nicht immer leicht war es, die Wünsche der Kammer zu akzeptieren und ein harmonisches Gesamtkonzept zu entwickeln. Zum 75. Jubiläum ist geplant, dass auch die erfolgreiche Zeit gebührlich dokumentiert wird.

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Scheele-Medaille gestaltet von Jo Jastram, geprägt von der Staatlichen Münze Berlin.

Als nach fast drei Jahrzehnten die Nachfolge geklärt werden musste – ­inzwischen war ein Ritter aus dem Westen im Galopp Greifswalder klinischer Pharmazeut geworden – stellte auch ich mir die Gretchen-Frage: „Wie hältst du es mit der Tradition?” (frei nach Goethe). Professor Ritter wurde schnell – zuvor von Jira in den Vorstand kooptiert – einer von uns, besonders unterstützt von Kollege Professor von Woedtke. Mit im Vorstand auch der Präsident der Kammer Dr. Dr. Engel. Besser geht es nicht. Und der familiäre Charakter von Scheele? Professor Ritter pflegt ihn ganz bewusst, nutzt Begrüßungs-/Gesellschaftsabend. Die Ära Ritter hat begonnen. Beyrich 25 Jahre, Jira 30 Jahre. Ad multos annos! Viginti, triginta? Ich bin dafür! |

P.S.: Tempora mutantur - Im Oktober 1989 tagten die Historiker mit Scheele zum 40. Jahrestag der DDR in Schwerin. Draußen die Lichterdemonstration um den Pfaffenteich, innen der Minister Prof. Schneidewind, der meinte, man könne wieder Apothekertage einführen. Er sprach vom Fehler, Günther Mittag (Planungswirtschaft) die schlechte Versorgungslage nicht dringlich genug geschildert zu haben.

Beyrich hingegen zog derart vom Leder, dass mir angst und bange wurde. Ich beschwor ihn, bei der bevorstehenden Scheele-Tagung in Neubrandenburg milder zu formulieren. Genau da kam die Maueröffnung. Spontan entschlossen sich Einige zur „Übernachtung“ in Westberlin. Auch das ist Scheele-Geschichte.


Literatur

[1] Friedrich, Ch PZ 38 vom 18.09.1996, S. 58 – 65 , PZ 36 vom 06.09.1996, S. 36 – 42

[2] Feldmeier, H „In memoriam Hans Mühlenbeck” PZ vom 18.12.1997, S. 102

[3] Beyrich, Th Festschrift „60 Jahre Scheele-Gesellschaft – ein Miraculum“

[4] Jira, Th Sonderdruck zum 50. Jubiläum der Scheele-Gesellschaft

[5] Feldmeier, H „Eine Medaille und ihre Entstehungsgeschichte“, DAZ vom 10.12.1998, S. 87

 

Autor

OPhR Dr. Hans Feldmeier, geboren 1924 in Hannover, studierte Pharmazie an der Universität Rostock und wurde dort 1953 am Institut für Katalyseforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR promoviert. Ab 1954 Leiter der St. Georg-Apotheke Rostock, Kreis­apotheker/Direktor (1961 – 1989)

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